Der angesehene sowjetische Menschenrechtler und Germanist, enger Freund Heinrich Bölls, verstarb am 18. Juni 1997 in Köln.
Lew Kopelew war nicht nur ein Freund Heinrich Bölls, sondern er gehörte 1987 auch zu den Erstunterzeichnern des Gründungsaufrufs für eine Heinrich-Böll-Stiftung. Kopelew und Böll führten seit 1962 einen regen Briefwechsel, der erst nach der Ausreise Kopelews nach Deutschland 1980 und der darauf folgenden Ausbürgerung durch die Sowjetregierung allmählich verebbte.
Anlässlich seines 10. Todestages folgen nun eine Kurzfassung des Lebenslaufs und – als Erstveröffentlichung – ein Brief Lew Kopelews an Heinrich Böll vom 26. Juli 1971.
Lew Kopelew an Heinrich Böll
Shukowka, den 26. Juli 1971
Lieber Hein!
Es ist ein so guter und schöner, so durch und durch Böllscher Brief, den Du zuletzt uns geschrieben, daß ich ihn wieder und wieder Raja und den Kindern und den Freunden – die selbst nicht lesen können – dolmetschen muß, und es ist so, als ob Deine Stimme hörbar wird und Dein Blick und Dein Lächeln sichtbar, und alle freuen sich sehr darauf, und da wird es nicht nur bewußt, erkannt, sondern eben unmittelbar empfunden, gefühlt, wie Du uns nahe – nicht mehr nur freundschaftlich verbunden, sondern auch seelisch verwandt, existenziell mit uns verwachsen – bist. Darüber sind wir glücklich immer, wenn wir an Dich und die Deinigen denken.
Recht sonderbar war es auch, wie dieser Brief kam – es war Mittwoch, 21. Juli, unser 15-jähriges Ehejubiläum, das wir beide still, aber feierlich begingen, wir machten früh nachmittags Feierabend, wanderten genau über die Wiesen und Hügel, wo wir damals an dem ersten Tag waren – dieses liebe Nest Shukowka ist ja uns auch darum noch so wert, weil hier unser Zusammenleben, unsere Liebe begann – dann aßen wir in einem neuen Lokal, als alte russische Dorfkneipe ganz angenehm stilisiert, dahin sollt Ihr unbedingt kommen, schwammen im Fluß und gingen wieder an dem schönen steilen Moskwa-Ufer und in den Wald. Es war nicht heiß, ein milder grauer Tag, hin und wieder Regenschauer. Gegen Abend kamen wir nach Hause, und beim Abendessen saßen wir auf der kleinen Terrasse mit unseren beiden Freunden und Nachbarn (Mitmietern) Wera und Lew Ospowat, es kamen noch die Tochter Swetlana mit ihrem Mann Shenja und dem nun schon bald 8-jährigen, höchst ernsten Sohne Ljonja (Leonid). Es wurde spät, aber sie konnten nicht weg, obwohl sie recht nahe wohnen, weil plötzlich ein heftiges Gewitter ausgebrochen war, genau wie an unserem ersten Tag vor 15 Jahren, alte Leute sagen, daß es der Tag der Gottesmutter von Kasan – die mit dem dunklen Antlitz – sei, und da gehören dazu Donner und Blitz, denn Kasanskaja Matuschka Begorodsa [ist] nicht nur gütig und mild, sondern auch zornig mahnend … So saßen wir da bei Tee und Wein – ein kleiner, hell erleuchteter und trocken-warmer Raum ist immer doppelt so gemütlich, wenn´s draußen in dem nach seltenen Blitzen noch dichteren Dunkel kalte Ströme regnet. Es gab auch Hagel dazwischen; und plötzlich klopft´s, und an der Tür erscheint verlegen lächelnd, sehr naß und sehr liebenswürdig mein junger Freund Herr Horst Winkelmann, entschuldigt sich, daß er so spät und unangemeldet kommt, aber er bringt einen Brief von Heinrich Böll. Er wollte nicht mal ein Gläschen Wein nehmen, denn draußen wartete auf ihn ein unter vielen Schwierigkeiten erobertes Taxi, und drin seine Freundin mit ihrer Mutter, die schon am nächsten Morgen zurück nach Köln mußte … Ich brachte ihn zum Wagen, begrüßte die Damen - beide sehr schön, eher wie Schwestern aussehend, hohe, schlanke, helle Gestalten, und im Hintergrund dunkel-dunkel blauer, von vielen Blitzen durchzuckter Himmel, zerzauste schwarze Wolkensträhnen, wallige Schatten von Bäumen und Gebüsch, im Auto noch ein gänzlich unbekanntes Paar angeheiterter Fahrgäste, ein junger Mann eher finster, eine Dame leutselig und dem fremdsprachigen Gespräch mit unverhohl[ener] Neugierde lauschend . . . ich ganz entzückt von diesem Anblick, von der sonderbaren Situation und all den glücklichen Zufällen; am Tage vorher erhielt ich die „Zeit“ mit meinem Artikel über Deine Gedichte und den Bildern, und nun an unserem großen Tag kam der Brief, der so vielverheißend dick war, ich stammelte und lallte irgendwelche unbeholfene, wenn auch aufrichtige und nichts weniger als übertriebene Komplimente, mußte dann aber selbst lachen, als ich [mir] plötzlich vorstellte, was nun die beiden Damen sehen – ein blitzerleuchteter glatzköpfiger Graubart im weiten soldatischen Regenmantel mit einem übergroßen Knotenstock, lang, dick, blöd und wildblickend grinsend und mitten auf der Straße im dunkeln, verregneten Dorf eine mondäne Causerie unbeholfen anzettelnd . . . sollte das nicht die russische Exotik sein?! Und so, lachend in Donner und Blitz wie der selige Zeus, kam ich und las Deinen Brief und mußte ihn sofort Satz für Satz – daß nur kein Wörtchen übersehen wird! – dolmetschen. Und nun kann ich vollkommen objektiv behaupten, daß von all den guten Briefen, die ich von Dir erhalten, dieser der allerbeste ist. Das müßte wohl gesetzmäßig sein, denn das „Gruppenbild“, dem er folgte, ist meines Erachtens der beste von Deinen Romanen.
Deine lieben Grüße habe ich bereits Mischka, Genja, Boris, Kostja und Alex. übergeben. Alex. läßt Dich sehr herzlich grüßen, er möchte es auch, mit Dir sprechen, bitte berücksichtige, daß er im September für einen Monat verreisen muß (wir auch), im Oktober wird er wieder hier sein.
Raja und ich umarmen Annemarie und Dich sehr herzlich.
Viele liebe Grüße an die Herren Söhne, Lila und Katharina (ich vermisse seit langem ihre Briefe, sie soll doch mal wieder schreiben).
Seid alle gesund!
Dein Lew
PS: Bitte vergiß nicht, uns auch das Buch zu senden (und eins für Tamara Motyljowa. Sie las die Fahnen und schreibt jetzt an einer Besprechung).
PPS: Ja, und was bedeutet: „Jeck loß Jeck elans“?