Jahr für Jahr unternehmen reiche Länder wie Deutschland erhebliche Anstrengungen, um die Wachstumsrate der Wirtschaftsleistung zu steigern. In ihrer Lissabon-Strategie hatte sich die EU im Jahr 2000 ein jährliches Wachstumsziel von drei Prozent gesetzt. Das hat sie nun aufgegeben. In ihrer neuen Strategie «Europe 2020» spricht die EU-Kommission 2010 nur noch von «smart, sustainable and inclusive growth». Das zeigt die Tendenz: weg von der Wachstumspolitik hin zu einer Strategie nachhaltiger Entwicklung. UNEP, das Umweltprogramm der UNO, hat in seinem neuen Mammutwerk zur «Green Economy» 2011 einen entscheidenden weiteren Schritt in diese Richtung unternommen.
Die vielen Auswirkungen wirtschaftlicher Wachstumsillusionn
Das bisherige Wachstumsdenken lebt von Illusionen. Dazu gehört die Vorstellung, mit den Mitteln des Staates könnten dauerhaft höhere Wachstumsraten erzeugt werden. Diesem Ziel dienen nicht nur Milliarden an Subventionen und Investitionen in unterschiedlichen Ressorts, es wird auch ein hoher politischer Preis dafür gezahlt: Die neoliberale Politik der Deregulierung, der Zurückdrängung des Staates und der Minimierung seiner Budgets versteht sich als Wachstumspolitik. Ebenso wurde in den vergangenen 30 Jahren immer wieder Einkommensverzicht zur Erzielung höheren Wachstums gefordert und durchgesetzt. Und schließlich sind auch Verbesserungen für die Umwelt wie das Tempolimit auf Autobahnen immer wieder unterblieben, weil sie als wachstumsschädlich verstanden wurden.
Diese Politik hatte viele, mitunter verheerende Wirkungen, nur nicht die erhofften. Denn die Wachstumsraten in Deutschland wie in anderen Industrieländern nahmen im Durchschnitt eher weiter ab als zu. So verstanden ist das Wachstumspostulat eine politische Formel, die mit ihrer Disziplinierungsfunktion vielen Interessen dient, in der Sache selbst aber kaum etwas bewirkt. Die gewaltigen, ressortübergreifenden Anstrengungen für höheres Wachstum könnten besseren Zwecken gewidmet werden: der Durchsetzung einer langfristig tragfähigen Wirtschaftsentwicklung, die nicht ihre eigenen physischen Grundlagen untergräbt, ob beim Boden, beim Grundwasser, bei den Fischbeständen, dem Klima oder dem Naturvermögen. Maßnahmen des Staates gegen rezessive Entwicklungen behalten natürlich ihre Berechtigung.
Die zweite Illusion ist die Vorstellung, durch höheres Wachstum, so es denn erzielt wird, könnten strukturelle Probleme wie Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Rentenfinanzierung und Armutsentwicklung gelöst werden. Diese Wachstumsillusion hat regelmäßig verhindert, dass diese Probleme in ihrer eigenen Kausalität gelöst werden, statt dauerhaft als Begründung für einen «Wachstumszwang» herzuhalten. Wie der britische Ökonom Tim Jackson überzeugend zeigt, lassen sich Probleme der Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Verarmung und der Entwicklung von Treibhausgasen auch mit moderatem Wachstum lösen.
Illusionär ist aber auch die Vorstellung, durch Wachstumsverzicht könnten die bestehenden Umwelt- und Ressourcenprobleme gelöst werden. Nullwachstum löst nicht ein einziges Problem, es schafft nur neue, z. B. das Risiko der Kapitalabwanderung. Ökologisch bedeutet Wachstumsverzicht nichts weiter, als dass die Umwandlung von Rohstoffen in Produkte, Schadstoffe und Abfälle auf gleichem Niveau gehalten wird. Die Forderung nach Wachstumsverzicht ist also nur scheinbar radikal. Tatsächlich verdeckt sie weitergehende Forderungen, die längst auf der Tagesordnung stehen.
Worum es geht, ist die Gleichzeitigkeit von radikalen Schrumpfungen und ebenso radikalem Wachstum. Um im Klimaschutz eine globale kohlenstoffarme Energieversorgung durchzusetzen, bedarf es eines hohen Wachstums der erneuerbaren Energien. Dass China den Ausbau der Windenergie bis 2009 jedes Jahr um mehr als 100 Prozent gesteigert hat und dass Japan seine Solarstromerzeugung bis 2020 um das Zwanzigfache steigern will, ist ein sinnvolles und notwendiges Wachstum. Bei den fossilen Energieträgern geht es dagegen um radikale Schrumpfung. Die erfolgreiche Diversifizierung der deutschen Ruhrkohle AG in neue Geschäftsfelder – nunmehr als EVONIK (u. a. als Chemiekonzern) – zeigt, dass dieser Strukturwandel sozialverträglich möglich ist.
«Green growth» kann nur mit einem moderaten Wachstum funktionieren
Im Gegensatz zu armen Ländern können reiche Industrieländer mit niedrigen Wachstumsraten auskommen. Von 1988 bis 1998 wuchs das BIP der Schweiz nur um 1,1 Prozent im Jahresdurchschnitt und dies bei relativ niedriger Arbeitslosigkeit. Schweden hatte in der Zeit ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 1,2 Prozent. Der häufige Vergleich der Zuwachsraten armer und reicher Länder ist im Übrigen wegen des sogenannten Basiseffekts unangebracht. In Deutschland bedeutet ein Wachstum des BIP von einem Prozent die Steigerung um 24 Milliarden Euro. In Armutsregionen vergleichbarer Größe wären hierzu ungleich höhere Wachstumsraten erforderlich.
Ökologisch hat die unterschiedliche Höhe von Wachstumsraten erhebliche Bedeutung. Hohe Wachstumsraten des BIP erfordern ein entsprechend hohes Tempo der ökologischen Modernisierung, und zwar allein, um den Zuwachs auszugleichen und den Status quo des Umwelt- und Ressourcenverbrauchs zu erhalten. Soll es darüber hinaus zu der nötigen absoluten Entkopplung des Umwelt- und Ressourcenverbrauchs vom Wachstum kommen, ist eine noch höhere Rate des öko-effizienten technischen Fortschritts erforderlich. Sie muss bei sonst gleichen Bedingungen über der Wachstumsrate liegen. Wie schwierig das ist, zeigt die Tatsache, dass die Energieeffizienz der OECD-Länder bisher gerade einmal um 1,5 Prozent im Durchschnitt anstieg. Das kompensiert allenfalls ein schwaches Wachstum – ohne die nötige absolute Verbesserung beim Energieverbrauch. Es macht also keinen Sinn, unter dem Stichwort « green growth » ein insgesamt höheres gesamtwirtschaftliches Wachstum anzustreben.
Das ökologische Innovationskonzept muss radikal sein
Anstelle der vergeblichen Forcierung höherer Wachstumsraten geht es heute um die Erzielung von Wohlfahrtseffekten im Sinne nachhaltiger Entwicklung. Nicht der jährliche BIP-Zuwachs sollte im Zentrum stehen, sondern was, wie und mit welchem sozialen Ertrag produziert wird. Auf diese Weise wird die Wachstumsfrage zur Nachhaltigkeitsfrage. Dabei geht es zugleich um ein radikales Innovationsprojekt der ökologischen Modernisierung. Hierbei sollte ein neues Produktivitätsverständnis gelten, das die Ressourcenproduktivität in den Vordergrund rückt und den Faktor Arbeit entsprechend begünstigt.
Radikal muss das ökologische Innovationskonzept deshalb sein, weil die absolute Entkopplung des Umwelt- und Ressourcenverbrauchs vom Wirtschaftswachstum ein erheblich höheres Tempo, eine größere Wirkungstiefe und Breitenwirkung des technischen Fortschritts erfordert (Jänicke 2008). Eine Tempobeschleunigung ist insbesondere beim Klimaschutz erforderlich. Es geht überdies um radikale Innovationen, weil kleine («inkrementelle») Teilverbesserungen in der Tendenz durch «Rebound-Effekte» «neutralisiert» werden, den Wachstumsprozess also nicht überdauern. Es geht um eine hohe, möglichst globale Marktdurchdringung, weil Nischenmärkte oder auch nur die Märkte der Industrieländer keine globale Lösung bedeuten. Und es geht um die Langfristigkeit des Innovationsprozesses nach dem Modell der Steigerung der Arbeitsproduktivität über mehr als 200 Jahre.
Das Fazit
Wird die Illusion aufgegeben, dass Politik langfristig ein signifikant höheres Wachstum erzeugen könne, wird folglich auch die Wunschvorstellung aufgegeben, dass höheres Wachstum unsere Sozial-, Finanz- und Beschäftigungsprobleme lösen kann; dann kommen diese Probleme unmittelbar auf die Tagesordnung. Hinter dem Schleier von Wachstumsillusionen wird das weite Feld nachhaltigen Wirtschaftens als positive Gestaltungsaufgabe erkennbar. Das Ausmaß bisheriger Ressourcenverschwendung bietet gewaltige Potenziale für ökologische Innovationsprozesse: 95 Prozent der eingesetzten Rohstoffe sind bereits verbraucht, bevor ein Produkt auf den Markt kommt. Und Produkte wie Häuser, Elektrogeräte oder Kraftfahrzeuge verbrauchen bekanntlich auch danach noch Ressourcen in großem Umfang. Ähnliche Potenziale der Verbesserung bietet die bisher so einseitige Steigerung der Arbeitsproduktivität. Hier ist massive Steigerung der Ressourcenproduktivität durch Innovationsprozesse die bessere Lösung. Und schließlich bietet die schon 30 Jahre andauernde Umverteilung von unten nach oben erhebliche Potenziale für eine gerechtere Verteilung des Erwirtschafteten. Mehr Gerechtigkeit ist ein Gewinn für das soziale Klima und ein notwendiger Beitrag zur Akzeptanz des erforderlichen Wandels.
Prof. Martin Jänicke ist seit über 30 Jahren im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politikberatung und aktiver Politik tätig, u. a. als Planungsberater des Bundeskanzleramtes und Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Er war Mitglied der Deutschen UNESCO-Kommission, 1999 – 2008 Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen. Wissenschaftliche Untersuchungen zum «Staatsversagen», zur «ökologischen Modernisierung», zu «Erfolgsbedingungen von Umweltpolitik» und zur «Grünen Industriellen Revolution» erschienen in mehreren Sprachen. Veröffentlichung: «Umweltinnovation als Megatrend», München 2008.