Bei der Debatte über den Afghanistaneinsatz geht eine Stimme völlig unter: Die Stimme der afghanischen Bevölkerungsmehrheit. Unterschiedliche Lager nehmen für sich in Anspruch, das Interesse der Menschen vor Ort zu vertreten. Eine Vereinnahmung, die teilweise diametral zu den tatsächlichen Interessen der afghanischen Bevölkerung steht. Bis zur Bevormundung reicht die Interpretation von afghanischen Interessen, die sich auch in der Auffassung widerspiegelt, dass die Bevölkerung einschließlich der Exilgemeinde gegen jegliches militärisches Engagement im Land sein muss.
Die Einstellung der Bevölkerung zum Friedensprozess lässt sich nicht in Schwarz-Weiß-Malereien festhalten. Die Afghaninnen und Afghanen sind kriegserfahren, seit Jahrzehnten politisch hoch sensibilisiert und seit Jahrhunderten geübt darin, deckungsgleiche Interessen zu definieren und Koalitionen aus Pragmatismus einzugehen. Sie haben sehr wohl einen differenzierten Blick auf das internationale Engagement und kritisieren nicht nur Fehler der Militärs, sondern beleuchten auch die Arbeit von NGO's kritisch. Die Kritik an dem zivilen Engagement kommt hier nicht an. Denn obwohl die deutsche Politik stets betont, dass der Schwerpunkt des Engagements der zivile Bereich ist, konzentriert sich die Debatte auf den militärischen Aspekt. Dieser verschobene Fokus verläuft parallel auch auf internationaler Ebene. Das zivile Gesicht der VN verschwindet zusehends, während die NATO immer mehr zum Ansprechpartner auf internationaler Ebene wird. Nichtsdestotrotz gibt es vor Ort durchaus eine ebenso kontroverse Debatte über die Defizite des zivilen Wiederaufbaus. Eine Diskussion, die auch leider in Deutschland trotz des erklärten Schwerpunkts auf den zivilen Bereich nicht in der gebotenen Differenziertheit geführt wird.
Natürlich gibt es auch in Afghanistan Meinungspluralismus (!). Die Rolle der internationalen Truppen und NGO's und das Ergebnis ihrer Präsenz wird nicht bedingungslos gut geheißen. Doch ist die große Mehrheit der Bevölkerung gegen den Abzug der internationalen Truppen. Vor allem im Norden Afghanistans. Das bestätigt auch eine Studie*, die kürzlich vom Sonderforschungsbereich der Politikwissenschaft in der FU Berlin veröffentlicht wurde. Darin heißt es u. a., dass 80% der im Norden befragten afghanischen Bevölkerung der Meinung sind, dass ausländische Truppen zu ihrer Sicherheit beitragen. In der Pressekonferenz wurde unterstrichen, wie überrascht die Forscher selbst über das positive Votum der Afghanen und Afghaninnen waren. Denn in Deutschland werden die Stimmen immer lauter, dass der Einsatz in Afghanistan eigentlich nichts gebracht hat und das internationale Militär eher als Besatzer wahrgenommen wird. Das Gegenteil aber wurde durch die Studie bewiesen: Gerade das deutsche ISAF Kontingent im Norden Afghanistans wird als Sicherheitsgarant gesehen. Die Bevölkerung befürchtet, dass ohne die Präsenz deutscher Truppen innerhalb kürzester Zeit das derzeitige hybride Gefüge in ein totales Chaos ausarten würde. Verschiedene Warlords würden das Land in einen Bürgerkrieg treiben, wie es bereits zwischen 1992-96 der Fall war.
Diese im Norden verbreitete positive Auffassung über die Truppenpräsenz gilt nicht unbedingt für das ganze Land. Allerdings fußt die regionale Wahrnehmung nicht auf ethnisch gefärbte Einstellung zur Präsenz internationaler Truppen („…Paschtunen sind immer gegen Fremde…“), sondern ist ein nachvollziehbares Resultat des unterschiedlichen Vorgehens von NATO/ISAF im Gegensatz zu USA/OEF. Im Süd-Osten des Landes, entlang der NWFP gibt es durchaus kritische Stimmen über die Truppenpräsenz. Hierbei handelt es sich aber überwiegend um die Vorgehensweise US-amerikanischer Truppen im Rahmen von OEF (Operation Enduring Freedom/Terrorkampf) auf ihrer Jagd nach Al-Qaida und Taliban, durch die bereits Hunderte, unschuldige afghanische Zivilisten als ‚Kollateralschaden‘ ums Leben gekommen sind.
Die oben erwähnte Studie ist ein Beweis dafür, dass die Menschen in Nord-Afghanistan die Präsenz der internationalen Truppen anders bewerten, als dieses hierzulande angenommen wird. Nur scheint es offensichtlich bei der hierzulande geführten Debatte keine Rolle zu spielen. Insbesondere seit dem Regierungswechsel in 2005 werden entlang des Afghanistaneinsatzes auch viele innenpolitische Konflikte ausgetragen, bei denen das Interesse der afghanischen Bevölkerung beharrlich ignoriert wird.
Es ist erschreckend wie wenig afghanische Stimmen in der deutschen Diskussion Niederschlag finden. Jeder Hinweis auf Stimmen vor Ort wird mit einer Vehemenz ignoriert, die deutlich macht wie wenig es dabei um den eigentlichen Sinn dieser Friedensmission geht. Denn ein Hauptziel des Einsatzes ist die Bevölkerung Afghanistans vor dem Regime der menschenverachtenden Taliban, unter Berücksichtigung der Schutzdoktrin (‚Responsibility to Protect’) zu befreien und zu befrieden. Ein Ziel zu dem sich die internationale Staatengemeinschaft auf dem Petersberg bei Bonn 2001 verpflichtet.
Wie wenig afghanische Stimmen innerhalb dieser Diskussion zählen, zeigen die Reaktionen unterschiedlicher Politiklager in Debatten über den Einsatz in Afghanistan. So zum Beispiel in einer Afghanistankonferenz der Friedensbewegung, wo der Verweis auf die Umfrage der ARD, BBC und ABC als Propaganda der NATO oder USA verworfen wurde. Dabei bestätigte der Kritiker auf Nachfrage die Studie nicht einmal zu kennen. Auch Einladungen von Afghanen zu Debatten der Parteien werden als „Drücken-auf-die-Tränendrüse“ bezeichnet, wie auf dem Parteitag der SPD im Vorfeld der letzten Mandatsabstimmung. Sogar Aufrufe von afghanischen Frauen aus dem afghanischen Parlament und der Zivilgesellschaft, im Vorfeld der letzten Mandatsabstimmung an Abgeordnete, nicht gegen ISAF zu stimmen, blieben unberücksichtigt. Man befürchtete den Vorwurf, dass der Aufruf in Auftrag gegeben worden sei. Das Misstrauen richtete sich hierbei wohlgemerkt nicht an die VerfasserInnen des Aufrufs, sondern herrscht unter den Befürwortern und den Gegnern des militärischen Einsatzes in Afghanistan.
Die mittlerweile zweckentfremdete Debatte entbehrt auch einer Relevanz zu der Lage vor Ort, weil es eben gar nicht mehr um den tatsächlichen Afghanistaneinsatz geht. Sie bedient mittlerweile innenpolitische Lagerkämpfe, die in Afghanistan nicht mehr nachvollzogen werden können. Insbesondere seit dem Regierungswechsel in 2005 werden entlang des Afghanistaneinsatzes parteiliche und innenpolitische Konflikte ausgetragen. In der Gemengelage der unterschiedlichen Interessen geht ein wesentlicher Aspekt unter, ja einer der beiden Gründe für den Einsatz geht unter. Denn ausschlaggebend für die breite Unterstützung des Einsatzes, war das UN-Mandat, das die humanitäre Interventionspflicht aus der Verantwortung für den Schutz der afghanischen Bevölkerung in den Vordergrund stellte. Ein Vorgehen, das im Gleichklang steht mit dem deutschen sicherheitspolitischen Selbstverständnis der kollektiven Friedenssicherung. Dies bedeutet auch, dass Sicherheitspolitik nicht ausschließlich der eigenen Landesverteidigung dienen darf, sondern auch eine Verantwortung über die Landesgrenzen hinaus trägt. In erster Linie aber stand die Intervention in Afghanistan vor allem für das sicherheitspolitische Eigeninteresse Deutschlands. Dem islamistischen Terrorismus Einhalt zu gebieten und keinen Rückzugsraum mehr in Afghanistan zu ermöglichen. Sowohl das sicherheitspolitische Interesse, als auch die humanitären Erwägungen werden von den zahlreich in Afghanistan engagierten Staaten geteilt. Es gibt überzeugende Gründe für das internationale Engagement.
Es gibt durchaus legitime Gründe die Grenzen von militärischen Friedenseinsätzen, die Rolle der NATO oder die Effektivität von zivil-militärischer Kooperation zu diskutieren. Mit der Instrumentalisierung des Afghanistaneinsatzes aber für innenpolitische Debatten wiederholt sich die tragische Geschichte eines Landes, das stets für die Interessen anderer gelitten hat. Die deutsche Bevölkerung weiß mittlerweile nicht mehr um den Grund des deutschen Engagements in Afghanistan. Eine Aufgabe, die der Bundesregierung obliegt, die jedoch in ihrer Informations- und Kommunikationsstrategie versagt hat. Es gibt gute Gründe, warum sich 37 Staaten in Afghanistan engagieren. Die Bundesregierung täte gut daran, diese Gründe aus eigenem Interesse der deutschen Bevölkerung zu erläutern.
* „Internationale Akteure in Afghanistan“ von Jan Köhler und Christoph Zürcher aus dem Sonderforschungsbereich 700 (Governance in Räumen begrenzter Staatlichenkeit) der Freien Universität Berlin
UnterzeichnerInnen
- Ehsan A. Zahine, Direktor des „Tribal Liaison Office (TLO)“, Kabul/Afghanistan
- Masood Karokhail, Stellvertretender Direktor des Tribal Liaison Office (TLO)
- Rateb Azimi, Landesvertreter der “Deutsch-Afghanischen Initiative (DAI), e.V.” in Herat/Afghanistan
- Sadia Fatimie, Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), Afghanistan
- Wagma Mohmand, SYNERGY/Privatwirtschaft, Afghanistan
- Nazir Noori, Marketing Spezialist for USAID/ASAP – Afghanistan, Herat/Afghanistan
- Dr. Hilmar R. Zeissig, Berater von USTDA and GTZ in Afghanistan
- Mahmood Nisar, Mitbegründer von AIESEC in Afghanistan
- Susanne Sayami, Stellvertretender Vorstand der “Initiative Afghanistan, e.V.“
- Angela Parvanta, Islamwissenschaftlerin und freiberufliche Beraterin in Bamberg/Deutschland
- Mohammad Hamid Saboory, Rechtsberater Max Planck Institut