Neukölln: Knallhart, aber nicht hoffnungslos
Hintergrundmaterial zur ZukunftsWerkStadt7: Neukölln knallhart?
Von Gabriele Vonnekold
Neukölln ist ein Bezirk mit 62.000 jungen Menschen unter 21 Jahren, die aus 160 unterschiedlichen Nationen stammen. Das macht den Bezirk einerseits bunt und lebendig, aber auf der anderen Seite das Zusammenleben auch für viele schwierig und für einige wirklich „knallhart“.
Die soziale Situation hat sich in Neukölln seit dem Fall der Mauer rapide verändert.
Neukölln war traditionell ein Arbeiterbezirk mit vielen Industriearbeitsplätzen. Viele Firmen hatten hier zu Westberliner Zeiten hoch subventionierte Produktionsstandorte mit einem großen Bedarf an un- und angelernten Arbeitskräften. Nach dem Wegfall der Berlinsubventionen wurden diese Produktionen fast vollständig aufgegeben und Arbeitskräfte für einfache Tätigkeiten werden seitdem kaum noch nachgefragt. Damit verlor ein großer Teil der Neuköllner, darunter besonders viele Arbeitsmigranten, die Existenzgrundlage. Heute lebt bereits jede und jeder Dritte in Neukölln von Transfereinkommen. Der Niedergang des Einzelhandels in den einst überregional bekannten Einkaufsstraßen, wie der Karl-Marx-Straße, spiegeln die Verarmung großer Teile der Bevölkerung.
Der Traum vom besseren Leben ließ sich für viele Migrantenfamilien nicht mehr realisieren und viele, von der gleichen sozialen Lage betroffenen, deutsche Familien betrachteten die „Fremden“ nun als bedrohliche Konkurrenz. Dazu kommt noch die Gruppe der Flüchtlinge, die auf Grund der bundesdeutschen Gesetzgebung bewusst nicht integriert werden sollte, nicht arbeiten durfte und keine Sprachkurse erhielt. Diese Situation führte dazu, dass sich die Gruppen gegeneinander abschotteten. Sie zogen sich in ihre Communities zurück und bauten ihre jeweiligen Infrastrukturen auf. Heute können zumindest türkische und arabische Migrantinnen und Migranten ihr tägliches Leben in Neukölln vom Kindergarten, über alle Sparten des Einzelhandels, Werksstätten, Restaurants und Cafes, Frisören, Schneidern, bis zu Ärzten, Anwälten, Banken, Versicherungen, Reisebüros und Fahrschulen und selbstverständlich Gemeinde- und Gebetsräumen organisieren, ohne auch nur einmal mit ihren deutschen Mitbürgern oder der deutschen Sprache in Berührung zu kommen.
Auf den Eindruck vieler Migranten, sich nicht integrieren zu können, da sie sich nicht erwünscht fühlen und auch keine soziale Aufstiegsperspektive mehr sehen, folgt leider oft die Haltung sich auch nicht integrieren zu wollen, sondern sich ausschließlich auf die Traditionen ihrer Herkunftsländer zu beziehen und die „westliche“ Lebensweise als minderwertig und unmoralisch abzulehnen. Inzwischen leben in Neukölln viele Menschen in einem Rahmen, der auch in ihrem jeweiligen Herkunftsland als rückständig gilt. Religion und Nationalität werden zu den entscheidenden Säulen der Identitäts- und Sinnstiftung.
Kinder und Jugendliche dieser Migrantenfamilien sind oft die einzige Brücken in die deutsche Gesellschaft. Zumindest die Schulpflicht erzwingt hier den Kontakt. Leider wird aber auch die Schule für viele dieser Kinder schnell zum Problem, da sie oft ohne ausreichende Sprachkenntnisse in die erste Klasse kommen, sind die ersten Misserfolgserlebnisse bereits vorprogrammiert. So ist Spaß am Lernen nicht wirklich zu vermitteln.
Deshalb wirbt der Bezirk Neukölln stark darum, die Migrantenkinder möglichst frühzeitig in die Kita zu bringen, um sie gut auf den Schulstart vorbereiten zu können. Neben diversen Beratungsangeboten und Projekten, setzt der Bezirk dabei besonders auf die inzwischen bundesweit bekannten „Stadtteilmütter“. Hier gehen speziell ausgebildete Migrantinnen in die Familien in ihrer Nachbarschaft und beraten in Erziehungsfragen, vermitteln Informationen über das deutsche Bildungssystem und helfen bei der Beschaffung von Kita-Plätzen.
Es ist besonders wichtig, den Familien zu vermitteln, wie groß die Bedeutung eines erfolgreichen Schulabschlusses für den späteren Erfolg in der deutschen Gesellschaft ist. Leider verlässt ein erschreckend hoher Anteil der Schüler heute in Neukölln die Schule ohne jeden Abschluss und damit ohne jede Chance auf eine gute Ausbildung. Damit werden die sozialen Verhältnisse in Neukölln zementiert.
Besonders Jungen, die in einem sehr traditionellen Rollenverständnis erzogen wurden, haben bereits von Anfang an große Probleme damit, Lehrerinnen Autorität zuzubilligen. Gewöhnt daran ihren Willen weiblichen Personen gegenüber jederzeit durchsetzen zu können, verstehen sie die Welt nicht mehr, sobald sie in die Schule kommen – nicht nur wegen der Sprachprobleme. So ist Schuldistanz ein ganz zentrales Problem in Neukölln, das bereits in der Grundschule deutlich wird. Da diese Jungen nur eine sehr geringe Frustrationstoleranz besitzen, entziehen sie sich Situationen, die im Misserfolg enden können durch Fernbleiben oder durch Aggression. Hier versucht der Bezirk Neukölln mit Schulsozialarbeit einzugreifen und hat gerade beschlossen, trotz knapper Kassen, weitere Schulstationen in besonders belasteten Schulen zu finanzieren. Schulsozialarbeit mit einer ordentlichen Personalausstattung wäre aber in jeder Schule nötig, um der wachsenden Probleme wirklich Herr zu werden und den Kindern und Jugendlichen erfolgreiches Lernen zu ermöglichen. Das überfordert allerdings die Bezirksfinanzen und von Seiten des Senates werden die Konsequenzen dieser Probleme immer noch nicht in ihrer ganzen Schärfe erkannt. Es wird nach wie vor nicht wirklich zur Kenntnis genommen, das in einzelnen Stadtteilen Berlins bereits in naher Zukunft Menschen ohne vernünftige Bildung und ohne die Perspektive selbstständig für sich und ihre Familien sorgen zu können die Mehrheit bilden werden, mit allen Konsequenzen die eine so starke sozial nicht integrierte Gruppe für das Zusammenleben aller haben wird.
Mit zunehmendem Alter der Jungen vergrößert sich die Diskrepanz zwischen den eigenen Erwartungen und denen ihrer Familien, eine besondere Stellung zu erreichen, und ihren tatsächlichen Möglichkeiten, dem auch gerecht zu werden. Je bedrückender die eigene Unzulänglichkeit und Chancenlosigkeit erlebt wird, desto stärker ist der Drang sich mit einer starken Gruppe zu identifizieren, einer Religion, Nationalität oder vielleicht auch nur einer Straßengang. Stärke wird damit aus der Abgrenzung gezogen und aus der Abwertung der Anderen, die dann auch gewalttätige Übergriffe rechtfertigen kann. Frühe eigene Gewalterfahrung in der Erziehung und im Umfeld verstärken diese Tendenz. Die Kluft zwischen Konsumwünschen und den materiellen Möglichkeiten sie legal zu erfüllen erscheint einigen zu groß. Sie beschreiten deshalb den Weg in die Kriminalität. In Neukölln leben gegenwärtig mehr als 100 Jugendliche Intensivtäter, die bereits mindestens 10 schwere Straftaten begangen haben, nicht wenige davon bereits 50 und mehr.
Solche Karrieren müssen verhindert werden. Das Jugendamt Neukölln versucht mit seinen Jugendeinrichtungen die Abschottung der unterschiedlichen Gruppen zu verhindern und unter den Jugendlichen eine bunte Mischung zu erreichen, damit sich die Jugendlichen gegenseitig kennen und respektieren lernen. Sie erhalten die Möglichkeit Erfolge durch eigene Leistung zu erleben, im Sport, im Künstlerischen Ausdruck, im Umgang mit Medien, usw.. Sie werden in die Organisation aller Aktivitäten eingebunden, mit allen Mühen, aber auch mit dem Stolz auf die Resultate.
Sie erhalten Hilfe zur Selbsthilfe bei Problemen in der Schule. Auch Polizisten sind in die Jugendarbeit vor Ort eingebunden, um die präventive Wirkung zu verstärken. Die Devise lautet: Null Toleranz gegenüber Gewalt und Intoleranz, aber es gibt immer die Chance sich positiv zu beweisen.
Leider reichen die Mittel bei Weitem nicht aus, um alle Kinder und Jugendlichen rechtzeitig und ausreichend fördern zu können. Hier ist dringend ein Umdenken in der Politik des Senates nötig, denn wer an Kindern und Jugendlichen spart, wird viel mehr Geld für sozial nicht integrierbare Erwachsene ausgeben müssen.
Gabriele Vonnekold ist Bezirksstadträtin in Neukölln und Leiterin der Abteilung Jugend