Rede gehalten zur Eröffnung der Tagung „Die Türkei auf dem Weg in die Europäische Union“, 04.12.2002, Berliner Abgeordnetenhaus.
Die Festigung der gesellschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen der Türkei und der EU sowie die Förderung des europäischen Dialogs zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren der Türkei, der EU und der anderen Kandidatenstaaten gehört seit Jahren zu den Kernanliegen unserer Stiftung.Unser Stiftungsbüro in Istanbul hat dazu einen weithin anerkannten Beitrag geleistet, wofür ich mich vor allem bei unserer Büroleiterin Fügen Ugur bedanken möchte, die auch die heutige Tagung maßgeblich vorbereitet hat.
Dieser Dialog erhält seine besondere Aktualität durch den EU Gipfel am 12. Dezember in Kopenhagen.
Jeder hier im Raum weiß: Das Signal, das von diesem Gipfeltreffen Richtung Türkei ausgeht, wird von großer Tragweite für die weiteren Beziehungen sein. Die Nicht-Politik des hinhaltenden Abwartens führt nur zu enttäuschten Erwartungen.
Wir setzen uns dafür ein, dass von Kopenhagen ein Signal der Ermutigung ausgeht, den seit einigen Monaten eingeschlagenen Weg demokratischer Reformen und gesellschaftlicher Modernisierung in der Türkei fortzusetzen und damit die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der EU zu schaffen.
Wir verzeichnen in diesen Tagen eine lebhafte Debatte um die Frage des türkischen EU-Beitritts zur Europäischen Union. Das ist gut so.
Dabei geht es nicht in erster Linie um die Frage der Religion - dass auch Muslime ihren legitimen Platz im vereinigten Europa haben müssen, ergibt sich schon aus der Tatsache, dass bereits heute mehr als 10 Millionen Menschen muslimischen Glaubens in der EU leben. Hinsichtlich der Religion kann sich Europa nicht durch Bekenntnisse oder Abwehr definieren, sondern nur durch die Prinzipien der religiösen Toleranz und der Trennung von Kirche und Staat.
Es geht auch nicht vorrangig um die Frage der geografischen Grenzen Europas und um die Probleme, die durch eine gemeinsame Außengrenze zum Iran, zu Syrien und zum Irak aufgeworfen werden könnten.
Auch das ökonomische Gefälle zwischen Mitgliedern und Kandidatenländern und die Frage nach den Kosten eines Beitritts stehen nicht im Zentrum der Diskussion.
Vielmehr geht es bei dieser Debatte vor allem um das Selbstverständnis des vereinigten Europa: um die politische Kultur und die politischen Werte, die das gemeinsame Band bilden, das ein Europa mit 30 Mitgliedsstaaten sehr verschiedener Kultur und Tradition zusammenhalten kann.
Dieses gemeinsame Fundament kann kein anderes sein als die demokratisch-republikanische Tradition Europas, das praktizierte Bekenntnis zu Menschenrechten, Freiheit und Gleichheit.
Deutliches Zeichen des gewachsenen Demokratisierungswillens der Türkei ist das im August 2002 vom Parlament verabschiedete Gesetzespaket. Dazu gehört die Aufhebung der Todesstrafe und die Möglichkeit für türkische Staatsbürger, Kurdisch als Muttersprache zu pflegen.
Aus den Medien war zu erfahren, dass die neugewählte Regierung ein weiteres Reformpaket vorbereitet, das in den nächsten Tagen verabschiedet werden soll. Wir begrüßen diese Entwicklung und wollen sie nach Kräften unterstützen.
Ich freue mich, dass uns der Herr Botschafter der türkischen Republik heute die Ehre gibt - wir werten das auch als Zeichen der Anerkennung der konstruktiven Arbeit unserer Stiftung für die deutsch-türkischen Beziehungen.
Sie wissen, dass die deutschen politischen Stiftungen gegenwärtig in der Türkei einer obskuren Anklage ausgesetzt sind, sie hätten sich gemeinschaftlich gegen die Sicherheit und Integrität des türkischen Staates verschworen. So abwegig diese Anklage gegen die Stiftungen ist, nehmen wir sie doch sehr ernst. Sie richtet sich de facto nicht nur gegen die Stiftungsvertreter in der Türkei, sondern gegen die deutsch-türkischen Beziehungen und gegen die Annäherung zwischen der Türkei und der Europäischen Union.
Im Vertrauen auf die Rechtsstaatlichkeit der türkischen Justiz sind wir aber voller Zuversicht, dass es zu einem schnellen Abschluss des Verfahrens im Sinne eines Freispruchs kommt.
Auch zwei Mitglieder des türkischen Parlaments sind heute anwesend: Herr Mehmet Dülger von der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt) und Frau Gülsin Bilgehan von der CHP (Republikanische Volkspartei). Ich bedanke mich, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind und die Möglichkeit wahrnehmen, Ihren Standpunkt vor der deutschen Öffentlichkeit darzulegen.
Die Position der Grünen im Bundestag und im Europaparlament werden Rainder Steenblock, der neue europapolitische Sprecher der Fraktion, und Heide Rühle als Mitglied des Europäischen Parlaments darlegen.
Besonders freue ich mich, dass Claudia Roth, Mitglied des Bundestags und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen wenige Tage vor einem entscheidungsträchtigen Parteitag die Zeit für einen Eröffnungsbeitrag gefunden hat.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf eine interessante und produktive Diskussion.
Herr Botschafter, Sie haben das Wort.