Zur Aktualität Hannah Arendts

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Eröffnung der Hannah-Arendt-Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung

19. März 2008
Ralf Fücks, Berlin, 5. Oktober 2006

Am 14. Oktober jährt sich Hannah Arendts Geburtstag zum hundertsten Mal.
Wir wollen ihr mit dieser Konferenz unsere Referenz als einer politischen Denkerin  erweisen,  die auch 30 Jahre nach ihrem Tod immer neu  gelesen und diskutiert wird. Es scheint sogar, dass Hannah Arendt heute stärker im öffentlichen Diskurs präsent ist als in ihren letzten Lebensjahren. 
Sie hat nicht nur in ihren theoretischen Schriften die Bedeutung einer kritischen Öffentlichkeit und der politischen Dissidenz für die Demokratie betont, sie war auch selbst eine streitbare und umstrittene öffentliche Person. 
In ihrem Lebensweg durchmaß sie entscheidende Stationen ihres Jahrhunderts:
Sie war ihrer Herkunft nach eine deutsche Jüdin, wurde als Studentin geprägt durch die Existenzphilosophie Heideggers und Jaspers, wurde von der Gestapo verhaftet, musste vor den Nazis fliehen und erfuhr, was es bedeutet, staatenlos zu sein. Im amerikanischen Exil wurde sie als Publizistin und Theoretikerin weltweit bekannt. Deutschland besuchte sie nach dem Krieg als amerikanische Staatsbürgerin wieder.
Ihre umfassende Analyse des Totalitarismus hat sie ebenso zu einer öffentlichen Intellektuellen gemacht wie ihre gleichermaßen berühmte und  umstrittene Schrift „Eichmann in Jerusalem – Bericht über die Banalität des Bösen“, die 1963 aus ihren Prozessberichten für den New Yorker hervorging.  Lange Zeit war sie wegen dieser beiden Analysen weder in Israel noch bei der europäischen Linken wohl gelitten.
Hannah Arendt und Israel verbindet ein hoch kompliziertes Verhältnis. Sie beschrieb am Fall Eichmann den bürokratischen Mechanismus des Holocausts ohne Sentimentalitäten, ohne Emotionalität, ja „ohne ausreichende Liebe zum jüdischen Volk", wie ihr der Historiker Gershom Scholem aus Jerusalem vorwarf, bevor er ihr die Freundschaft aufkündigte. Viele Überlebende sahen in der griffigen Formel der „Banalität des Bösen“ eine Verharmlosung des Völkermords.

Der Historiker Steven Ashheim von der Hebräischen Universität Jerusalem  erinnert an einen Brief von Gershom Scholem aus dem Jahre 1936, als dieser seine Freundin Hannah Arendt noch als „große Zionistin und außergewöhnliche Frau" lobte. Der Zorn darüber, dass sie diesen Ideen später den Rücken kehrte und nach der Staatsgründung von New York aus in harschen Schriften vor der nationalistischen Gefahr des Zionismus warnte, hat sich mit den Jahren verflüchtigt. Heute, da in Israel selbst unterschiedliche Lesarten zur Gründungsgeschichte des Staates im Konflikt liegen und der zukünftige Kurs des Landes kontrovers verhandelt wird, ist auch eine gelassenere Rezeption von Hannah Arendt möglich – einschließlich einer kritischen Sicht auf ihr Eichmann-Buch, das die ideologische  Überzeugungstäterschaft Eichmanns und die Rolle des Terrors hinter dem banalen Funktionieren einer Vernichtungsbürokratie verblassen lässt.

Einem Großteil der europäischen Linken wiederum war ihre Totalitarismus-Theorie suspekt. Das ging bis zum Vorwurf, sie liefere mit ihrer Fundamentalkritik des sowjetischen Systems geistige Munition für den Kalten Krieg. Die Fellow Traveller der Sowjetunion führten gern Thomas Manns verballhorntes Zitat vom „Antikommunismus als Grundtorheit unseres Jahrhunderts“ gegen Hannah Arendt ins Feld, und mit dem Schreckwort Antikommunismus ließen sich auch viele Liberale ins Bockshorn jagen. Bis zum Zusammenbruch der Sowjetwelt brauchte es durchaus intellektuellen Mut, darauf zu insistieren, dass das 20. Jahrhundert vom Kampf zwischen liberaler Demokratie und totalitären Bewegungen geprägt war. Dieser Konflikt ist historisch keineswegs erledigt, und wer Arendts Analyse des Nationalsozialismus und Bolschewismus als radikal antibürgerliche Bewegungen heute liest, kommt kaum umhin, beunruhigende Parallelen zum radikalen Islamismus zu ziehen – auch wenn man sich davor hüten muss, zum Gefangenen historischer Analogien zu werden.
Es ist nicht nur die fortwährende Aussagekraft ihrer Untersuchungen zum Totalitarismus, auf der die Aktualität Hannah Arendts gründet. Was heute an ihr fasziniert, ist ihr „Republikanismus“, ihr spezifisches Verständnis von Politik als einer nicht-determinierten Sphäre der Freiheit und ihr Plädoyer für das, was wir heute als „aktive Bürgergesellschaft“ bezeichnen. Das ist durchaus nicht gemütlich gemeint. Es geht in der Tradition von Hannah Arendt um den Dissens als Ausgangspunkt des Politischen und um den streitbaren öffentlichen Diskurs als sein Lebenselixier. Wer Begründungen gegen ein Verständnis von Politik als Exekution von „Sachzwängen“ sucht, wird bei Hannah Arendt fündig. Das nicht allein von  Margret Thatcher  weidlich strapazierte  „TINA-Prinzip“ – There Is No Alternative – markiert im Arendtschen Sinn das Ende der Politik.
 
Sie hat mit ihrer Kritik an der naturrechtlichen Begründung der Menschenrechte deren institutionelle Verankerung durch die Nationalstaaten als unabdingbar gesehen und zugleich darauf hingewiesen, wie der Nationalstaat Minderheiten und Staatenlose produziert. Die Menschenrechte sind unabdingbar – und zugleich drohen sie wirkungslos zu bleiben, wenn Regierungen sie gegenüber ihren Bürgern außer Kraft setzen. Arendt hat mit dieser Paradoxie den Weg für die Institutionalisierung der Menschenrechte sowohl im innerstaatlichen wie im zwischenstaatlichen Recht geebnet. Das „Recht, Rechte zu haben“, ist für sie der Kern aller Bürgerrechte.
Anknüpfend an den Gründungsimpuls der Vereinigten Staaten von Amerika hat sie das Konzept eines Republikanismus formuliert, in dessen Zentrum der öffentliche Diskurs steht, in dem die Verständigung über das Gemeinwohl stattfindet. Arendt sah politische Institutionen nur als demokratisch an, wenn sie sich auf die kommunikative Macht der Öffentlichkeit stützen. Wenn man diesen Gedanken fortschreibt, kommt es im Zeitalter der  Globalisierung  entscheidend darauf an, wie die sozialen Voraussetzungen für politische Teilnahme gesichert bleiben und ein öffentlicher Raum verteidigt werden kann, in dem  verschiedene gleichberechtigte Perspektiven bei der Formierung des „volonté general“ zum Tragen kommen.
Hannah Arendt wurde geprägt von zwei sich überkreuzenden Milieus: der revolutionär auftretenden Existenzphilosophie der zwanziger Jahre, repräsentiert vor allem von Martin Heidegger, und dem politisch-kulturellen Zionismus. Zeit ihres Lebens standen Arendt und ihre Freunde in kritischer Auseinandersetzung mit diesem „zweifachen" Erbe, dessen Teile sich aus heutiger Perspektive auszuschließen scheinen.
 
In Einzelvorträgen, Diskussionsrunden und Debatten wollen wir eine Verbindung herstellen zwischen den philosophisch-politischen Traditionslinien, in denen Hannah Arendts Denken steht, und der Aktualität ihrer Schriften, die um das Verständnis des Politischen, um die Gefährdung und Erneuerung der demokratischen Republik kreisen.
Im 1. Teil der Konferenz (Freitag) – überschrieben mit „verborgene Tradition" - werden die Überschneidungen und Widersprüche zwischen beiden Strömungen des Erbes und ihre Verarbeitung heute nachgezeichnet. 
Im 2. Teil (Samstag) – mit dem Titel „Unzeitgemäße Aktualität?" – geht es um die Relevanz der politischen Philosophie Hannah Arendts für die Verfasstheit des Politischen und der Demokratie heute.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.