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Die Freiheit zu sterben. Selbstbestimmung, Sterbehilfe und Patientenverfügung

Lesedauer: 8 Minuten

19. März 2008
Fachtagung der Heinrich-Böll-Stiftung und der Humanistischen Union
Dienstag, 27. Februar 2007

Einführung durch Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung


Die heutige Tagung behandelt ein schwieriges Thema. Denn wir sprechen über die rechtliche Normierung medizinischer Behandlung in Grenzbereichen des Lebens. Dort können sich angesichts des nahen, des erwarteten oder des erwünschten Todes ganz andere Fragen aufdrängen als in den Situationen, die der überkommenen juristischen Normierung des Arzt-Patient-Verhältnisses als Modell zugrunde liegen.

  
Die Debatte über eine Neuregelung dieses politischen, rechtlichen und medizinischen Grenzbereichs ist in vollem Gang. Denn die bestehenden Regelungen können nicht mehr befriedigen. Unübersehbar lösen die Möglichkeiten der modernen Medizin, insbesondere der modernen Intensivmedizin Ängste aus – Ängste, dass Grenzen des Humanen überschritten werden, vor Bevormundung und Entmündigung, vor einem medizintechnisch in die Länge gezogenen Sterben, das sich dem Willen des Patienten entzieht. Die Schlagworte dafür sind "seelenlose Medizin" und "Sterben zwischen Maschinen und Schläuchen".
Die Kehrseite dieses Albtraums bilden Ängste vor zu wenig Therapie, vor dem "Tod in Weiß" durch selbstherrliche Handlungen des Medizinpersonals oder durch schlichte Vernachlässigung – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Kostendrucks in den Sozialsystemen. Die einen wie die anderen Sorgen werden verstärkt, solange Öffentlichkeit und Politik die veränderten  Realitäten des Sterbens angesichts einer sich rasant wandelnden modernen Medizin und eines im Umbruch befindlichen Gesundheitswesens weitgehend tabuisieren.
Eine offene Diskussion dieser Fragen ist dringend erforderlich. Wir hoffen, dass die heutige Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung und der Humanistischen Union zu ihr beitragen wird und den Auftakt zu einer großen Debatte im Deutschen Bundestag bildet, in der die Abgeordneten, frei vom Fraktionszwang und nur ihrem Gewissen verpflichtet, die Grundüberzeugungen unserer Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und existentieller Abhängigkeit am Lebensende thematisieren.
Elitendiskurs und Mehrheitsmeinung
Soll man die Beendigung einer medizinischen Behandlung verlangen dürfen, auch wenn das den sicheren Tod bedeutet? Soll es aktive Sterbehilfe geben und wie würde diese sich zum ärztlichen Ethos verhalten? Soll der Arzt Schmerz- und Beruhigungsmittel einsetzen dürfen, die als sichere Nebenfolge den Sterbensprozess beschleunigen und wie lässt sich diese indirekte von aktiver Sterbehilfe abgrenzen? Soll man festlegen können, dass man nicht mehr behandelt wird, falls man ins Koma fällt oder demenzkrank wird? Oder verfügt man damit über eine Person, die man heute noch nicht ist und deren Wünsche man heute nicht kennt? Wer kann in solchen Situationen Treuhänder und Bevollmächtigte sein? Diese Fragen bewegen die Öffentlichkeit.
Parlament und Regierung müssen sich noch eine zweite Kategorie von Fragen stellen: Wieweit ist die Politik als Norm setzende Instanz für diese ethischen Grenzfragen überhaupt zuständig? Und wie engmaschig sollen rechtlich-politische Regelungen für den Übergangsbereich vom Leben zum Tod sein? Wie viel Autonomie soll also Patienten, Angehörigen und Ärzten eingeräumt werden, solche Entscheidungen nach eigenem Willen und Gewissen miteinander auszuhandeln? Staatliche Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht von Patienten und in die ethischen Maxime von Ärzten bedürfen ihrerseits einer normativen Begründung. Aber auch der Verzicht auf straf- und zivilrechtliche Normierung von Grenzfällen des Arzt-Patient-Verhältnisses wäre eine weitreichende Entscheidung, die begründet werden muss.
Wie das Parlament nun entscheidet, ist ungewiss. Absehbar ist jedoch, dass es sich in seiner mit Mehrheit getroffenen Entscheidung wohl vom Wertverständnis der Bevölkerungsmehrheit unterscheiden wird. In der Bevölkerung beherrscht der Wert der Selbstbestimmung das Ethos moderner Lebensführung. Das ist in einer pluralistischen und individualistischen Gesellschaft auch gar nicht anders zu erwarten. Umfragen zeigen, dass Selbstbestimmung heute auch dort die zentrale Kategorie bildet, wo Entscheidungen über das Ende des eigenen Lebens getroffen oder erwogen werden. Der Einfluss religiöser Deutungen, die das Leben und Sterben des Einzelnen in einen größeren Sinnzusammenhang stellen, Demut vermitteln und die Bereit¬schaft lehren, sich in sein Schicksal zu fügen, tritt diesem modernen Individualismus gegenüber zurück. So befürworten 64 Prozent der Bevölkerung die aktive Sterbehilfe und mehr als 70 Prozent lehnen deren gesetzliches Verbot ab. Und rund 90 Prozent der Befragten verlangen, dass in Patientenverfügungen getroffene Vorfestlegungen für Ärzte und Pflegepersonal bindend zu sein haben.
Die politische Elite Deutschlands sieht das mehrheitlich anders. Ihr Diskurs über Sterbehilfe bezieht sich immer wieder auf den Zivilisationsbruch der Nazizeit, auf die historische Erfahrung einer verbrecherischen Euthanasie-Politik. Vor diesem Hintergrund und mit dem Hinweis auf unabsehbare Missbräuchlichkeit wehrt ein Großteil der politischen Klasse in Deutschland die Debatte über aktive Sterbehilfe ab. Auch die Bindewirkung von Patientenverfügungen wurde durch komplizierte Formerfordernisse erschwert. Ob die historische Erfahrung der nationalsozialistischen Verbrechen allerdings auf Dauer den Bezugsrahmen für medizinethische Entscheidungen einer individualistischen und pluralistischen Gesellschaft bilden kann, muss mit wachsendem zeitlichen und emotionalen Abstand zur nationalsozialistischen Herrschaft, dem Sterben der letzten Zeitzeugen und im Kontext einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft bezweifelt werden. Daraus folgt  freilich nicht, dass es nicht doch ganz angemessen sein kann, die Verabsolutierung der Selbstbestimmung  in Form einer absolut gesetzten Patientenautonomie zu begrenzen – und zwar im Interesse der Patienten selbst.
Prinzipienstreit zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmung
In Deutschland werden die staatliche Verpflichtung zum Schutz des Lebens und die freie Selbstbestimmung am Lebensende gegeneinander gestellt. Zwar könnte man einwenden, dass die Erhaltung des Lebens die Bedingung für die künftige Ausübung der Freiheit sei, so dass der Lebensschutz als Selbstverpflichtung dem Recht der Selbstbestimmung inhärent wäre. In der Praxis manifestiert sich die Prinzipienfestigkeit des Lebensschutzes allerdings eher als Misstrauen in die zivile Kraft der Mitmenschlichkeit, in vertrauensvolle  zwischen¬menschliche  Beziehungen, in denen ein Mensch seine Not mit anderen besprechen kann, von ihnen verstanden und beraten wird, so dass sein Selbstbestimmungsrecht sich als sozial eingebettete, beziehungsreiche Selbstbestimmung äußert. Die deutsche Orientierung auf abstrakte Prinzipien ist auch Ausdruck des Misstrauens in die kommunikative Vernunft sozialer Institutionen – in diesem Fall des Gesundheitswesens und speziell der Beziehung zwischen Patient und medizinischem Personal. Was als Schutz der Patienten gedacht ist, muss in der Praxis nicht unbedingt zu ihrem Vorteil sein.
Patientenemanzipation
Hinter der Forderung nach Patientenautonomie steht vielfach die Vorstellung, die Medizin sei Serviceleistung und der Patient sei Kunde. Vertraulichkeit werde durch Vertraglichkeit ersetzt. Tatsächlich lässt sich das Verhältnis Patient – Gesundheitssystem nicht auf ein Vertragsverhältnis zwischen Kunden und Anbietern reduzieren. Überspielt wird damit, dass sich der zum Patienten gewordene Kranke in eine Situation der Fürsorge und der Abhängigkeit, also der treuhänderischen Verwaltung seiner Autonomie begibt. Dieser Verwaltung wird mit Misstrauen begegnet und Autonomie als negative Freiheit, als Abwehr von Bevormundung durch die ärztliche Expertokratie oder als Emanzipation vom Paternalismus der medizinischen Fürsorge interpretiert. Auch hier beobachten wir also die Abgrenzung gegenüber einem fürsorglich zu denkenden Gesundheitswesen aus Misstrauen und mangelnde Zuversicht in deren kommunikative Vernunft. Dass Kassen, Krankenhäuser und Ärzte Patienten in existentiellen Entscheidungsfragen allein lassen, muss wohl als ein Fall krasser Unterversorgung und Vernachlässigung betrachtet werden – selbst und gerade wenn sich die schlimmsten Ängste der Überversorgung im Fall eines elenden und langen "Sterbens zwischen Maschinen und Schläuchen" bewahrheiten.
Sterbehilfe im Kontext: ein verbessertes Gesundheitssystem und bessere medizinische Betreuung
Das Gesundheitssystem darf die Patienten am Ende ihres Lebens nicht mit sich und ihren Ängsten allein lassen.  Dazu brauchen wir kommunikativ geschultes medizinisches Personal. Dazu brauchen wir dringend den Ausbau der Palliativmedizin in allen Krankenhäusern und viel mehr Hospize. In guten Gesundheitsinstitutionen, so ist zu hoffen, treffen Sterbende auf Situationen, die sie in ihren Patientenvorausverfügungen so vielleicht nicht bedacht und erwartet haben – sei es dass sie im neu gewonnenen Vertrauen auf die medizinische Fürsorge ihre Vorausverfügung verwerfen und sich länger behandeln lassen oder im Konsens mit dem medizinischen Personal die Behandlung abbrechen oder durch die Verabreichung von Sedativa mit lebensverkürzenden Nebenfolgen substituieren lassen.
Zu welchem Ergebnis auch immer die parlamentarische Willensbildung in der Frage der Patientenautonomie am Lebensende und der Verbindlichkeit der Patientenverfügung gelangen wird: es wäre sicher gut, wenn es sich nicht von der Vorstellung des isolierten Patienten als Kunden leiten ließe, der für sich Wahlfreiheit reklamiert, sondern vom Bild einer sozial eingebetteten Patientenautonomie. Indirekt wird nämlich auch über unsere Vorstellung von einem gerechten und effizienten Gesundheitssystem verhandelt. Dessen Qualität wird sich nicht zuletzt daran ablesen lassen, wie mit Entscheidungen am Lebensende umgegangen wird. Der medizinische Fortschritt, der wachsende finanzielle Druck auf die Sozialsysteme und die demographischen Veränderungen werden zu Situationen führen, in denen immer häufiger Entscheidungen über Behandlung und Behandlungsabbruch am Lebensende notwendig werden.
Alle Lösungen, die heute gefunden werden, müssen sich der Frage stellen, wie sie sich in Zukunft unter dem größeren externen Druck bewähren werden. Und sie müssen die Freiheitsgrade von Menschen in der Übergangsphase zum Tode erweitern: weder sollen sie durch unwürdige Umstände oder durch Kostengründe zum Abbruch von medizinischer Behandlung gedrängt, noch gegen ihre eigenen Wünsche und Empfindungen am Sterben gehindert werden. Es mag in manchen Ohren frivol oder gar zynisch klingen, von der "Freiheit zu sterben" zu sprechen, wo doch der Tod in vielen, wenn nicht den allermeisten Fällen als ein erzwungener Abschied erscheint, der sich der Selbstbestimmung entzieht, und der in hohem Maß mit den Attributen des Leids, der Hilflosigkeit und der Abhängigkeit von anderen gekoppelt ist. Aber die menschliche Freiheit als Kern der Menschenwürde erweist sich gerade damit, wie wir als Individuen und als politisches Gemeinwesen mit der letzten Phase unseres Lebens umgehen.
Dank an die gute Zusammenarbeit mit der Humanistischen Union, insbesondere an deren Bundesvorsitzende Professor Rosemarie Will. Dank an das Referat Bildung und Wissenschaft (Andreas Poltermann und Stephan Ertner), auch für die Anregungen zu dieser Einführung.
Übergabe des Worts an Rosemarie Will.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.