Berliner Perspektiven zwischen Kleinmut und Größenwahn

Lesedauer: 10 Minuten

Vortrag anlässlich der Berlin-Konferenz der CDU-Fraktion, von Bündnis 90/ Die Grünen und der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin, 6. März 2007

19. März 2008
Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Vielen Dank für die Einladung zu dieser Konferenz. Das Thema, über das ich sprechen soll, ist weit gesteckt: Welchen Anforderungen muss sich Berlin als Metropole stellen, lautet die Frage. Es wäre naseweis, darauf definitive Antworten geben zu wollen. Aber einige Thesen möchte ich gern zur Debatte über die Zukunft Berlins beisteuern. Ich werde zu Beginn einige Anmerkungen zur finanzpolitischen Diskussion vorwegschicken und dann in der Hauptsache die Frage behandeln, welches Leitbild Berlin für seine Zukunft entwerfen könnte.

Das Gute am Urteil des Bundesverfassungsgerichts – wenn man ihm aus Berliner Sicht etwas Positives abgewinnen kann – ist, dass damit der Finanzrahmen definitiv festgelegt worden ist, mit dem die Stadt auf absehbare Zeit zurechtkommen muss. Das Urteil markiert das Ende der Illusionen. Die ersten Reaktionen des Regierenden Bürgermeisters standen noch für ein trotziges „Weiter so“ nach dem Motto: „Wir bekommen zwar kein zusätzliches Geld, aber wir ändern trotzdem nichts an unserer Politik“. Inzwischen liegt aber ein Finanzplan des Finanzsenators vor, der eine Kurskorrektur signalisiert – ob die regierende Koalition davon begeistert ist, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Sarrazin verfolgt das Ziel, bis zum Jahr 2010 die Neuverschuldung auf Null abzubauen. Im Grunde gibt der Finanzsenator damit dem Bundesverfassungsgericht recht. Er bestätigt, dass es möglich ist, aus eigener Kraft den Berliner Haushalt zu konsolidieren. Wenn das keine folgenlose Absichtserklärung bleiben soll, muss es einen verbindlichen Stufenplan geben, der sich schrittweise dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts annähert.
Die Spielräume bei den originären Steuereinnahmen Berlins sind nach der Erhöhung der Grunderwerbsteuer und der Grundsteuer weitgehend ausgeschöpft. Wenn man hier die Schraube weiter anzieht, riskiert man kontraproduktive Effekte, insbesondere was die Standortattraktivität für Unternehmen, aber auch für Berlin als Wohnort angeht. Nun hat das BVG ausdrücklich auf Reserven beim Verkauf von Landeseigentum hingewiesen. In der Tat kann es in einer Situation, in der sich Berlin befindet, keine Tabus geben. Genauso falsch wäre es aber, auf Einmaleffekte zu setzen, die kurzfristig Geld in die Kasse spülen, aber unliebsame Langzeitfolgen nach sich ziehen. Vielmehr muss man nüchtern abwägen, welche langfristigen fiskalischen und stadtpolitischen Wirkungen Vermögensveräußerungen haben. Das gilt vor allem in sozial sensitiven Bereichen. Auch wenn etwa das  Wohnungseigentum der Stadt nicht mehr die frühere Bedeutung hat, weil der Wohnungsmarkt in Berlin auf absehbare Zeit entspannt bleiben dürfte, muss auch hier eine fiskalische und soziale Bilanz auf den Tisch, bevor man Entscheidungen trifft.
Im Wesentlichen muss die Konsolidierung des Haushalts über die Ausgabenseite erfolgen. Das ist auch die erklärte Politik von Sarrazin. Im Zentrum steht dabei die  Frage nach Effizienzreserven in der öffentlichen Verwaltung. Das ist erstens eine Frage der Strukturen, also des Abbaus von Bürokratie, von Doppel- und Dreifachzuständigkeiten und von überlangen Dienstwegen. Zweitens ist das aber auch eine Frage nach der Arbeitskultur in Behörden und öffentlichen Einrichtungen. Dienstleistungsmentalität, Eigeninitiative, ambitionierte Zielsetzungen, Evaluation und permanente Weiterbildung sind noch nicht der Normalfall des öffentlichen Diensts. Ich möchte nicht anmaßend sein - viele hier im Saal wissen besser, wo hier anzusetzen wäre. Wichtig scheint mir vor allem ein grundsätzlicher Wandel des staatlichen Selbstverständnisses. Berlin hat als Stadtstaat eine Gewährleistungspflicht für öffentliche Dienstleistungen. Daraus folgt aber nicht – und das ist wichtig –, dass die Stadt diese öffentlichen Dienstleistungen alle selbst bereit stellen muss. Ein gemischtes System von staatlichen, frei-gemeinnützigen und privaten Anbietern, das Wettbewerb und Leistungsvergleich ermöglicht, ist in der Regel die bessere Lösung als ein staatliches Dienstleistungsmonopol.
Die nächste Frage, die sich stellt, wenn man auf der Ausgabenseite zusätzliche Spielräume gewinnen will, ist die nach den politischen Prioritäten. Ein Beispiel ist Bildung und Wissenschaft: Wenn die Gesamtausgaben des Berliner Haushalts in den nächsten Jahren nicht mehr wachsen sollen, hier aber tendenziell mehr investiert werden soll, dann muss in anderen Bereichen stärker eingespart werden. Sonst verfügt man nicht über die notwendigen Reserven, um in die Zukunft zu investieren. . Gerade wer wenig Geld zu Verfügung hat, kann sich keine Ausgabenpolitik mit der Gießkanne leisten. Das führt natürlich in höchst unbequeme und konfliktreiche Entscheidungen. Man muss in Besitzstände eingreifen, muss sich mit Lobbys anlegen, muss zum Teil auch legitime Interessen verletzen. Aber in Zeiten finanzieller Knappheit müssen erst recht Prioritäten gesetzt werden. Genau darin zeigt sich die Qualität politischer Führung – oder auch nicht.
Um strategische Prioritäten setzen zu können, damit komme ich zum zweiten Teil meiner Ausführungen, benötigt Berlin wie jede Stadt, die sich im Umbruch befindet, ein klares Leitbild; ein möglichst breit in der Stadtgesellschaft getragenes Verständnis seiner Potenziale und seiner Zukunftsperspektiven. Städte sind soziale Wesen. Gerade in Zeiten einer wachsenden internationalen Stadtkonkurrenz – zumal in der Liga, in der Berlin mitspielen möchte – muss eine Stadt ein spezifisches Profil und ein spezifisches Bild von ihrer Zukunft definieren. Und sie muss ihre Rolle im Wettbewerb der Metropolen festlegen, sowohl innerhalb der Bundesrepublik wie international.
Berlin hat seit 1989 einen dramatischen Umbruch erlebt. Nach dem Fall der Mauer brach ein großer Teil der industriellen Basis weg. Die Hoffnung, der Umzug der Bundesregierung und des Parlaments nach Berlin würde ausgleichend wirken und einen Boom auslösen, war trügerisch. Auf seiner Hauptstadtrolle kann sich Berlin nicht ausruhen, sie alleine löst die Probleme nicht. Es geht aber nicht allein um die Frage, wie künftig die Ökonomie der Stadt aussehen soll, in welchen Bereichen Arbeit und Einkommen generiert werden können. Es geht auch um eine neue Mentalität, um ein neues Selbstverständnis Berlins. Dazu gehört vor allem ein Bruch mit der Subventionsmentalität, die über 40 Jahre in beiden Stadthälften des geteilten Berlins gezüchtet wurde und die sich tief festgesetzt hat in der Stadtgesellschaft und ihren Institutionen.

Ein neues Leitbild für Berlin
Was könnten Elemente eines neuen Leitbildes sein? Ich will versuchsweise einige nennen, die einen Aufschwung Berlins befördern könnten. Dazu gehört eine stärkere Unterstützung von Eigeninitiative und unternehmerischem Denken in der Wirtschaft und in der Verwaltung. Dazu gehört auch eine stärkere Ermutigung bürgerschaftlichen Engagements, von Schulvereinen bis zum sozialen und kulturellen Mäzenatentums des wohlhabenden Bürgertums, das es ja durchaus gibt in der Stadt. Vielleicht ist der Begriff des Stadtbürgertums ein Schlüssel für die zukünftige Vitalität Berlins. Das Stadtbürgertum ist in Ostberlin zu Zeiten der DDR weitgehend zerstört, vertrieben und marginalisiert worden. In Westberlin war es schwach. Das hatte mit den Verheerungen des Krieges und der Vernichtung des jüdischen Bürgertums zu tun und wurde durch die Subventionsökonomie verfestigt.  Man kann das Stadtbürgertum nicht herstellen wie ein Produkt. Aber man kann versuchen, es wieder zu fördern. Die Neuentwicklung eines Stadtbürgertums im ökonomischen wie im sozialen und kulturellen Sinn ist für Berlin eine Schlüsselfrage. Es bedarf eines Bürgertums, das erstens ökonomische Initiative, Risikobereitschaft, Selbstverantwortung mitbringt und das sich zweitens auch für diese Stadt und ihre öffentlichen Angelegenheiten engagiert. Es geht also um ein republikanisches Bürgertum im besten Sinne, das dem Gemeinwesen verpflichtet ist. Möchte man diese Haltung fördern, so heißt das auch zu akzeptieren, dass dauerhaftes bürgerschaftliches Engagement mit Rechten verbunden sein muss. Bürger¬schaftliches Engagement braucht eigene Gestaltungsräume und diese Gestaltungsräume müssen von der Verwaltung freigegeben werden.
Wenn Stadtstaaten heute eine Existenzberechtigung haben, dann liegt sie gerade darin, dass sie Orte sind, in denen sich demokratische Teilhabe verdichten kann. Sie haben größere Kompetenzen als andere Großstädte. Darin liegt die Chance einer intensiveren politischen Öffentlichkeit und einer größeren Teilhabe der Stadtbürger an den Angelegenheiten ihres Gemeinwesens. Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen der Stadtpolitik und der Öffentlichkeit – das ist keine romantische Folklore, sondern eine Schlüsselfrage für die Zukunftsfähigkeit einer Stadt.
In den meisten Debatten über die ökonomische Zukunft von urbanen Regionen taucht die berühmte Triple-T-Formel des US-Ökonomen Richard Florida auf. Sie beschreibt das Erfolgsrezept von wachstumsstarken und innovativen Ballungsräumen: Talente, Technologie und Toleranz. Drei Elemente, die sich gegenseitig bedingen und verstärken. Florida hat beispielsweise nachgewiesen, dass der Anteil der bekennenden Homosexuellen an der Bevölkerung ein positiver Indikator für die Innovationskraft und Kreativität einer Stadtgesellschaft ist – nachzulesen jüngst auch in einer Ausgabe der Wirtschaftswoche mit rosa Titelbild. Der Anteil bekennender Homosexueller hat mit Toleranz zu tun. Und Toleranz zieht kreative Köpfe an.
Talentförderung spielt eine überragende Rolle für die Zukunft einer Stadt in der Wissensgesellschaft, die nicht mehr wie die alte Industriegesellschaft auf Sekundärtugenden wie der Disziplin der Arbeiterschaft beruht sondern auf Bildung, Kreativität und Eigeninitiative. Bei der Talentförderung darf man sich nicht alleine auf den Zustrom von „High Potentials“ aus aller Welt verlassen. In dieser Hinsicht steht Berlin im Moment gut da. die Stadt ist ein internationaler Magnet. Nicht nur für Künstlerinnen und Künstler, sondern ganz allgemein für Leute, die etwas vorhaben, die etwas Neues auf die Beine stellen wollen. Auf lange Frist vermutlich noch wichtiger als diese Anziehungskraft auf die Talente von außen ist es, das Bildungspotential der Jugendlichen zu fördern, die in Berlin aufwachsen. Man muss die Einsteins und Siemens, die Döblins oder die Marlene Dietrichs von morgen in Kreuzberg, im Wedding oder in Hellersdorf entdecken und fördern. Das ist die große Aufgabe, vor der die Stadt der Zukunft steht.
Kreativität lässt sich nur bedingt steuern. Was wir von anderen florierenden Ballungszentren wissen ist der hohe Stellenwert von Wissenschaft und Kultur als Schlüsselfaktoren für die Kreativindustrie. Hier muss Berlin ansetzen. Dabei geht es nicht nur um Geld. Kreativität entsteht in Freiräumen. Dafür braucht es Räume im buchstäblichen Sinn, preisgünstige Gebäude, die von Künstlern und innovativen Unternehmen genutzt werden können. Ein weiterer Faktor ist ein gründungsfreundliches Klima, das junge Unternehmen anzieht. Und nicht zuletzt geht es um Autonomie, um eigene Gestaltungsspielräume für Kultur und Wissenschaft, die nicht am staatlichen Gängelband hängen dürfen.
In der Technologiepolitik wie bei den Dienstleistungen stellt sich die Frage, welches die Schwerpunkte sind, auf die Berlin setzen sollte. Wo sind erfolgreiche Clusterbildungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft möglich, die Berlin einen Standortvorteil verschaffen? Die Gesundheitswirtschaft spielt dabei sicher eine große Rolle, ebenso die Kultur, der Bildungssektor und der Städtetourismus. Bei neuen Medien und Umwelttechnologie gibt es großen Nachholbedarf. Dagegen scheint die  Funktion einer Ost-West-Drehscheibe weniger von Berlin als von Städten wie Wien, Prag oder Budapest übernommen zu werden. Dennoch steckt  in der Anwesenheit von einigen Hunderttausend Zuwanderern aus Mittel- und Osteuropa ein enormes Potential, das bisher nur bruchstückhaft für den Ost-West-Austausch genutzt wurde.
Als einen letzten Punkt, der zum Leitbild Berlins als moderner Metropole gehört, möchte ich Berlin als „kosmopolitische Stadt“ nennen. Das ist ein wichtiges Asset. Die Weltoffenheit dieser Stadt, ihre Attraktivität für Menschen aus aller Welt, die Magnetfunktion, die Berlin für Kreative hat, das ist ihre Schokoladenseite. Zur kosmopolitischen Stadt gehört aber auch die erfolgreiche Integration der Migrantinnen und Migranten, die in den letzten Jahrzehnten nach Berlin eingewandert sind. Ihre Integration ist sowohl für die demokratische Zukunft Berlins entscheidend als auch für seine soziale Zukunft. Es ist eine Schlüsselfrage, die noch nicht entschieden ist, ob es zu einer Eskalation ethnisch und religiös aufgeladener Konflikte kommen wird, wie sie in anderen Großstädten weltweit schon zu beobachten ist, oder ob es gelingt, aus „Ausländern“ Stadtbürger zu machen. Das geschieht in erster Linie über Bildung, über den Zugang zum Arbeitsmarkt und gelungene Übergänge in die Selbständigkeit. Hier liegen große kulturelle und ökonomische Potentiale Berlins. Und hier muss in den nächsten Jahren vor allem investiert werden.
Berlin hat das Zeug zu einer vitalen, kosmopolitischen und wirtschaftlich erfolgreichen Metropole. Die entscheidenden Ressourcen für eine erfolgreiche Zukunft liegen in der Stadtgesellschaft selbst. Sie zu mobilisieren, das müsste Sinn und Ziel einer klugen Stadtpolitik sein. Dafür braucht es Leitbilder und Prioritäten.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

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