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Administrative Begeisterung oder wie die gelenkte Demokratie souverän wurde

Jens Siegert ist Leiter des Russland-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau.

2. November 2006
Von Jens Siegert
Von Jens Siegert

Nun ist es so richtig in Kraft, das neue NRO-Gesetz. Für russische Nichtregierungsorganisationen (NRO) langsam und fast unmerklich, für ausländische mit einem festen Termin. Bis zum 18. Oktober mussten Vertretungen, Filialen oder Dependancen nicht-russischer NRO der neuen zentralen Meldebehörde Rosregistrazija „anzeigen“, dass es sie gibt. Aufgrund dieser „Anzeige“ beschließt Rosregistrazija den Eintrag in ein neu angelegtes Register über Vertretungen ausländischer NRO, der dazu berechtigt, in Russland tätig zu werden. Bis zu diesem Datum hatten knapp 200 ausländische NRO ihre Unterlagen bei Rosregistrazija eingereicht, 103 waren registriert worden und es werden täglich mehr. Abgelehnt wurden bisher zwei Anzeigen, ausschließlich aus formalen Gründen, wie Rosregistrazija versichert. Und selbst diese Organisationen könnten es mit guten Aussichten erneut versuchen, erklärte niemand anderes als Präsident Putin persönlich dem Deutsch-Russischen Petersburger Dialog Anfang Oktober in Dresden. Warum also die Aufregung?

Die von Putin und anderen hochgestellten Vertretern des russischen Staates oft wiederholte Begründung für das neue NRO-Gesetz war einfach und deutlich: Es gebe Erkenntnisse der Geheimdienste, dass über NRO terroristische Organisationen finanziert würden. Das müsse verhindert werden. Außerdem sei es nicht akzeptabel, dass über NRO versucht werde, vom Ausland aus Einfluss auf die russische Politik zu nehmen. Anders ausgedrückt: Orangenen Revolutionen in Russland sollte ein Riegel vorgeschoben werden. Der Sinn des Gesetzes - aller beschwichtigender Rhetorik nach den massiven Protesten gegen seine Verabschiedung im In- und Ausland vor knapp einem Jahr zum Trotz - ist also Kontrolle. Kontrolle vor allem der Geldflüsse aus dem Ausland an russische NRO, aber auch der Tätigkeit vor allem ausländischer NRO in Russland überhaupt.

Das am 18. April in Kraft getretene Gesetz sah eine sechsmonatige Frist für ausländische NRO vor, sich nach den neuen Regeln registrieren zu lassen. Die Prozedur regelt eine Verfügung des Justizministeriums vom 17. April 2006. Dort steht, welche Dokumente für eine Registrierung verlangt werden, und es ist erhellend, sie kurz aufzuzählen: Gründungsdokumente der ausländischen NRO; Beschlüsse über die Eröffnung einer Vertretung und die Ernennung eines Leiters oder einer Leiterin; Vollmacht für diese Person; Satzung der Mutterorganisation und der Vertretung. Ferner die „Anzeige“ selbst mit bis zu fünf Anlagen. Hier begannen die Schwierigkeiten und wohl auch gewollten Missverständnisse, die zunächst einem sozusagen natürlichen Interessengegensatz zwischen NRO und Rosregistrazija entspringen. Diese Dokumente beizubringen und die Anzeige auszufüllen schien den Mitarbeitern von Rosregistrazija einfach, den Ausfüllern aber durchaus undurchschaubar.

Erste Kontakte zwischen der Behörde, die nun kontrollieren wird, und NRO-Vertretern glichen einer Vorladung, wenn auch einer freundlich-väterlichen. Mit der Warnung, künftig drohten Verwarnung und Schließung, wurden die zukünftigen Delinquenten auf die Folgen nicht normgerechten Verhaltens aufmerksam gemacht. Die Beamten von Rosregistrazija trachteten, sich gleich von Anfang an mit einer Art Publikumsbeschimpfung Respekt zu verschaffen, indem sie immer wieder darauf hinwiesen, wie schlecht NRO mit Dokumenten umgehen könnten, wie wenig ernst sie offensichtlich die Registrierungsprozedur nähmen und wie fehlerhaft alles sei, was sie, die Beamten, bisher von den NRO zu Gesicht bekommen hätten. Dieser Griff in die Trickkiste hatte durchaus Erfolg. Die NRO waren ausreichend eingeschüchtert, zumindest aber besorgt, über den kalten administrativen Weg werde nun politisch ausgesiebt. Der Größe der Besorgnis entsprach die Unsicherheit, wie und in welcher Form die geforderten Dokumente denn nun zur Zufriedenheit von Rosregistrazija auszufertigen seien. Und ob das überhaupt möglich sein würde.

Es begann ein mal munteres, mal düsteres Hase-und-Igel-Spiel, in dem die armen NRO-Hasen immer wieder raten mussten, welche neuen Regeln sich der Registrierungsigel denn nun hatte einfallen lassen. Die Anforderungen an die einzureichenden Dokumente wurden, so der Verdacht von außerhalb der Black-Box-Rosregistrazija, offensichtlich erst im laufenden Verfahren und sozusagen am lebenden Objekt entwickelt. Die von der Staatsführung zur Abwehr einer Gefahr für Staat und Gesellschaft berufenen Beamten fanden sich ja auch tatsächlich in einer Zwickmühle wieder. Einerseits hatte sogar das Staatsoberhaupt wiederholt versichert, internationale Normen, insbesondere die des Europarats würden eingehalten. Doch wer würde andererseits den Kopf hinhalten müssen, sollte eine später als „diversiv-feindlich“ identifizierte Organisation durch die nicht ausreichend engen Maschen der Registrierung schlüpfen? Die Beamten wählten einen standesgemäßen und landesbekannten Ausweg: Gesetze und Verordnungen werden buchstäblich befolgt.

Die Folge waren immer wieder absurde Forderungen. Es ist hier nur Platz für ein paar aus einer großen Zahl von möglichen Beispielen:

  • Die einzureichenden Dokumente mussten im Original in der jeweiligen Landessprache der Mutterorganisation ausgefertigt werden, um dann notariell beglaubigt, gerichtlich apostilliert, physisch nach Moskau geschafft, von einem dazu bevollmächtigten Übersetzungsbüro übersetzt und erneut notariell beglaubigt zu werden. Um nun die Anzeige z.B. auf deutsch ausfüllen zu können musste das vorgegebene Formular erst aus dem Russischen übersetzt werden. Die Anlagen zur Anzeige sind nach der Reihenfolge des kyrillischen Alphabets nummeriert: A, B,W,G, D. In der Zentrale einer deutschen Organisation wurden nun die Anlagen nach lateinischem Muster sortiert, also A, B, D, G, W, beglaubigt, zusammengebunden, apostilliert usw. Rosregistrazija lehnte die Annahme dieser Anzeige ab. Formular ist halt Formular.
  • Die NRO waren gehalten, ihren Vertretungen Namen zu geben, was sie auch munter taten. Doch hatten sie die Rechnung ohne Rosregistrazija gemacht. Für NRO-Vertretungs-Namen gibt es in Russland zumindest ebenso strenge Vorschriften, wie sie deutsche Standesämter für Menschen bereithalten: Erst die Organisationsform, dann der Organisationsname, dann das Herkunftsland und zum Schluss unbedingt der Zusatz „in der Russischen Föderation“. Das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung trägt nun offiziell den Namen „Filiale der Heinrich-Böll-Stiftung (Deutschland) in der Russischen Föderation“. Freiwillig gewählt hätten wir den nicht.
  • Auch Produkte moderner deutscher Verwaltung fanden nicht immer die Gnade von Rosregistrazija. Eine deutsche Stiftung reichte einen Auszug aus dem in ihrem Bundesland von Papier auf Elektronik umgestellten Vereinsregister ein. Anerkannt wurde er erst, nachdem ein Auszug von vor fünf Jahren und noch traditionell-papierener Machart nachgereicht wurde.
  • Eine NRO aus den USA, gegründet lange vor dem Zweiten Weltkrieg, meldete ihre Gründer, deren Adresse, Geburtsdaten und Passnummern Rosregistrazija zu erfahren von allen Meldewilligen verlangt, als längst verstorben. Doch die reine menschliche Logik musste vor der administrativen den Kopf neigen. Der Tod von in den 1920ern schon erwachsenen Menschen wollte durch Totenscheine amtlich beurkundet werden.

Diese kleine Aufzählung könnte noch eine ganze Weile fortgeführt werden. Wen hätte es wundern sollen? Die Tiefen der russischen Bürokratie sind Literaturliebhabern spätestens seit Gogol und Saltykow-Schedrin bestens bekannt. Und auch Fjodor Dostojewskij lässt in den "Dämonen" seinen Helden Stepan Trofimowitsch Werchowenskij ausührlich über die "administrative Begeisterung" imperial-russischer Beamter raisonnieren. Es ist immer wieder erstaunlich, wie traditionsfest Verwaltungen sein können.
All diese Spielchen und Unsicherheiten, die langen Wege durch Behörden, Instanzen und Sprachen zusammen führten dazu, dass die NRO ihre Anzeigen erst spät bei Rosregistrazija eingereicht haben. Gründe dafür gibt es mehrere. Allein ein Dokument zusätzlich zu beschaffen und es den oben beschriebenen Weg gehen zu lassen kann leicht einen Monat in Anspruch nehmen. Die Unsicherheit darüber, wie die Anzeige auszufüllen sei, hat viele NRO zudem dazu veranlasst, abzuwarten, um möglichst viel aus der aktuellen Praxis zu lernen. Und das alles geschieht vor dem Hintergrund, dass niemand wusste und weiß, ob hinter der kleinlichen bürokratischen Prozedur nicht doch die politische Absicht steht, nicht genehme NRO auszusieben.

Besorgnis erregte unter diesen Umständen auch die Frage, was zu tun sei, wenn eine Vertretung nicht rechtzeitig zum 18.10. registriert wäre? Öffentlich, aber nicht schriftlich erklärte der Leiter der für die Registrierung zuständigen Abteilung von Rosregistrazija, Alexej Schafjarow, auf Nachfrage mehrfach, Organisationen, die nach den alten Regeln bereits in Russland registriert waren, könnten auch nach dem Stichtag 18.10. ohne neue Registrierung vorerst weiter arbeiten, wenn sie bis dahin zumindest ihre Registrierungsunterlagen eingereicht hätten. Rosregistrazija werde, als Entgegenkommen sozusagen, das NRO-Gesetz dahingehend interpretieren. Doch nicht alle NRO mochten sich auf dieses unter Umständen unsichere Terrain begeben. Eine Garantie, dass andere Behörden als Rosregistrazija das auch so sehen, gibt es nicht.

Auch die unterschiedliche Behandlung eigentlich gleicher Organisationen trug nicht zum Aufbau von Vertrauen in Rosregistrazija bei. Manchmal regierte die Behörde augenblicklich, hatte höchstens ein paar erläuternde Fragen und registrierte schnell. Andere Organisationen hörten wochenlang trotz mehrfacher Nachfragen nichts von ihrem Antrag. Eine deutsche NRO wiederum erfuhr kurz vor dem Stichtag telefonisch, es gebe noch Probleme mit ihren Unterlagen. Auf der Website von Rosregistrazija war jedoch bereits zu lesen, dass sie zwei Tage zuvor ins Register eingetragen worden sei, ein Datum, das später auch die Registrierungsurkunde auswies. Nicht die Antragsteller, wohl aber die Registrierungsbehörde schien mit ihrer neuen Aufgabe überfordert.

Rund einen Monat vor dem Stichtag 18.10., so genau lässt sich das nicht sagen, begann Rosregistrazija die Anforderungen an die Meldeunterlagen sichtlich zu lockern. Vermutlich gab es einen Wink von oben, künftig nicht mehr so kleinlich zu sein. Auch dafür dürfte es mehrere Gründe geben. Zum einen ist ein Hauptziel des Gesetzes schon erreicht. Die ausländischen NRO werden von einer zentralen Behörde registriert und künftig kontrolliert. Außerdem hat sich die vor einem Jahr in Russland noch akute „orangene Angst“ deutlich abgeschwächt. Auch dürfte es eher ein Interesse geben, möglichst viele NRO zu registrieren. Eine größere Zahl akkreditierter Organisationen entspräche der Versicherung der russischen Führung, es gehe wirklich nur um die Verhinderung von Gesetzesbrüchen. Erneuter, auch internationaler Ärger kann zudem im Jahr des G8-Vorsitzes und der großen Inszenierung eines zivilgesellschaftlichen G8-Dialogs kaum im Interesse des Kreml sein.

Den internationalen Ärger hätte es dann aber fast doch noch gegeben. Schon im Sommer fragten insbesondere die Vertreter der deutschen politischen Stiftungen, wer denn künftig für die Visa der Büroleitungen zuständig sei. Bisher war das in ihrem Fall eine „Registrierungskammer beim Justizministerium“. Die Registrierungskammer hatte nach Inkrafttreten des Gesetzes die für die Visumserteilung notwendigen Einladungen mit dem Hinweis auf das Ende ihrer Zuständigkeit nur noch bis zum 18.10. ausgestellt. Rosregistrazija lehnte es jedoch kategorisch ab, sich damit zu befassen. Begründung: Im Gesetz stehe davon nichts. Das ist richtig. In den von Rosregistrazija ausgegebenen Registrierungsbescheinigungen sind jedoch die Büroleitungen namentlich mit Passnummer und Staatsbürgerschaft benannt. Nach den geltenden Gesetzen brauchen sie also Einladungen für Visa, um in Russland arbeiten zu können. Auch die deutsche Botschaft in Moskau kam im Laufe des Sommers in dieser Frage nicht weiter. Das russische Außenministerium zeigte sich trotz der Versicherung, man werde das regeln, nicht in der Lage, zu helfen. Der 18.10. rückte näher und die Büroleiter mit bis zu diesem Tag gültigen Visa wurden nervöser. Vom russischen Außenministerium an das Justizministerium verwiesen, biss die deutsche Botschaft dort auf Granit. Die Büroleiter bereiteten ihre Ausreise vor. Weil sich nichts tat, griff am 18.10. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zum Telefon und rief seinen Kollegen Sergej Lawrow an. Immerhin hatte Präsident Putin im Januar Kanzlerin Merkel versichert, es werde keine Probleme geben. Lawrow drückte sein Bedauern aus, versicherte, die Büroleiter könnten trotz ablaufender Visa im Land bleiben und versprach die Visumsfrage zu lösen. Sechs Tage später waren die Visa um drei Monate verlängert. Die Frage aber, wer zukünftig zuständig sein wird, harrt weiter der Beantwortung.

Was war das nun? Wahrscheinlich von allem etwas. Zumindest war es ein Vorgeschmack darauf, was in der besonderen Sprache der Bürokraten „erhöhter administrativer Aufwand“ genannt wird. Das wird in Zukunft Zeit und auch Geld kosten, das für die eigentliche Arbeit fehlt. Größere und große Organisationen werden sich das leisten können, kleinere müssen ihr Engagement in Russland erneut überdenken. Es war aber auch eine politische Warnung. Der russische Staat hat, wie ungeschickt auch immer, seinen neuen Instrumentenkoffer vorgezeigt. Der steht bereit und wird allein durch seine Existenz disziplinierend wirken. Kremlastrologisch Veranlagte bringen auch diesen Vorgang wieder mit den angeblichen oder tatsächlichen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Machtgruppen im Kreml in Verbindung. Doch so wichtig scheinen mir selbst die deutschen politischen Stiftungen, amnesty international, Human-Rights-Watch oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft nicht zu sein.

Ich neige zu einer anderen Schlussfolgerung: Die Vorgänge um die Umsetzung des neuen NRO-Gesetzes (und das gilt auch für die Behandlung der russischen NRO, trotz gleichen Gesetzes aber eine andere Geschichte) sagen vor allem etwas über die Funktionsmechanismen und die Funktionstüchtigkeit der Putinschen „gelenkten“ Demokratie aus. Nach einer Zeit relativ großer Lenkbarkeit (russisch: ,upravlajemost’) der russischen Bürokratie nimmt sie in jüngster Zeit wieder erschreckend ab. Die gelenkte Demokratie wird „souverän“, anders jedoch als die Erfinder dieses Begriffs sich das gedacht haben. Die Allmacht des Präsidenten erdrückt seine Handlungsfähigkeit. Wer wie Putin nicht nur alles entscheiden kann, sondern muss, verliert die Fähigkeit, ein so großes und kompliziertes Land zu steuern. Verantwortung für einen bedeutet Verantwortungslosigkeit für alle anderen. Vorausgesagt haben das viele. Nun scheint es Wirklichkeit zu werden. Die Probleme der ausländischen NRO mit der Registrierung entspringen keinem besonderen politischen Auftrag. Sie haben ihren Grund in bürokratischer Unfähigkeit gepaart mit der Unfähigkeit und dem Unwillen, Verantwortung zu übernehmen. Wozu auch?

Den deutschen NRO in Russland hilft wohl nur die Hoffnung, dass Steinmeier Lawrows Mobiltelefonnummer so schnell nicht aus seinem Nummernspeicher löscht.

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