Übersetzung: Jens Siegert
Nach einer vierzehnjährigen Pause wird die Geschichte in Russland wieder zu einem interessanten Diskussionsfeld. Einer der von Präsident Putin zur Schaffung eines bürgerlichen nationalen Bewusstseins gewählten strategischen Vektoren ist zweifellos die Wiederherstellung der nationalen Identität durch Geschichte. Genau das, davon bin ich zutiefst überzeugt, ist der Grund seiner Wahlerfolge und auch der Niederlage seiner demokratischen Gegner, von denen die einen das Publikum davon zu überzeugen versuchten, dass das Jahr 1991 direkt auf das Jahr 1913 folgt, und andere wiederum meinten, dem historischen Bezug im nationalen Bewusstsein keine Aufmerksamkeit schenken zu müssen.
Ich bin zutiefst mit Putin einig, dass das historische Gedächtnis ein wichtiger, wenn nicht gar der Hauptbestandteil eines jeden nationalen Projekts ist, das den Anspruch hat, das Land wiederzugebären. Nun ist es allerdings so, dass der Putinismus von Jahr zu Jahr aggressiver versucht, Russland eine verschlankte Variante der spätsowjetischen historischen Mythologie aufzuzwingen als eben dieses historische Gedächtnis aufzuzwingen, eine Version, die nur vom marxistischen Jargon (im Übrigen begann die Phase der „Modernisierung" schon unter Stalin und wurde erfolgreich unter Breschnjew fortgesetzt) gesäubert und ein wenig mit den traditionellen Großmachtskomplexen des vorsowjetischen Russischen Imperiums angereichert. Zusammen mit diesen Mythen erwachen erneut auch die Wertekriterien längst vergangener Epochen, für die moderne Welt im Übrigen völlig unbrauchbare Mythen.
Schritt für Schritt von den Lehrbüchern für Hochschulen über Schulbücher bis zu offiziellen Reden wird eine offizielle Version der sowjetischen Periode entwickelt, aus der alle Tragik herausgestrichen oder auf ein Minimum reduziert ist, alle Aussagen über Verbrechen des Staates gegen die Menschen überhaupt und mehr noch über Menschen, die sich dem Staat entgegengestellt haben. Der Wert des menschlichen Lebens, der Freiheit und die persönliche Würde eines jeden einzelnen werden erneut verdrängt und verlieren wieder jede Bedeutung bei der gesellschaftlichen Bewertung historischer Ereignisse; Heimtücke, Verrat, Niedertracht und Grausamkeit werden erneut gerechtfertigt, solange sie im Namen des Imperiums geschehen sind. Darin liegt wohl die Putinsche Neuerung historischer Wertungen: Unter Breschnjew zog man es vor, zynische und moralisch zweifelhafte politische Entscheidungen und Handlungen zu beschweigen, unter Putin werden sie aufs Schild gehoben.
Die tragende Konstruktion des wiedergeborenen historischen Mythos‘ besteht so oder so aus mit dem Großen Vaterländischen Krieg verbundene Ereignisse. Hier berühren sich die seit 1945 und dann besonders zwischen 1965 und 1985 ausgearbeiteten sowjetischen Mythologeme mit den wirklichen Erinnerungen des Volkes an die tragischsten Ereignisse in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Heute, im Jahr 2005, ist dieser Krieg der einzige, bei dessen Nennung niemand in Russland ein Adjektiv zur näheren Beschreibung benutzt. Er kein „finnischer", kein „afghanischer" und kein „tschetschenischer", sondern einfach nur „der Krieg". Dieser Krieg wird nun wieder zum Gegenstand großangelegter politisch-propagandistischer Spekulationen.
Für die Hofhistoriker sowohl der Breschnjewschen als auch der Putinschen Epoche ist der Krieg in erster Linie ein „Heldenepos des sowjetischen Volkes". Dabei verwandelt sich das Heldentum des Volkes wundersam in Verdienste der Staatsmacht. Es wird auf den Staat übertragen als ob dieser das Volk verkörpere. In der Breschnjewschen Variante waren das Partei und Regierung, in der Putinschen ist das der ewige und große russische Staat.
Das ist natürlich eine glatte Lüge. Das Heldentum des Volkes zeugt gerade von der entgegen gesetzten Rolle des Staates in der Geschichte des Krieges. Das Heldentum ist die blutige Währung mit der die Menschen für die Fehler und Verbrechen der politischen Führung und für die Inkompetenz und Talentlosigkeit der Militärführung bezahlen mussten, allerdings in erster Linie für die Fehler der politische Führung, denn die Talentlosigkeit letzterer geht auf das Gewissen ersterer.
Die Standhaftigkeit, der Mut, die Heldentaten und, weiter gefasst, das Heldentum der Menschen in den Jahren des Kriegs ist das Eigentum dieser Menschen und nur sie haben das Recht auf diesen Besitz stolz zu sein (obwohl sie ja in der Regel gerade nicht dazu neigen, ihn auszustellen). Sich fremdes Eigentum auf dem Schlachtfeld nach dem Ende des Kampfs anzueignen, dafür gibt es in der russischen Sprache einen besonderen Ausdruck – Plünderei. Für die Aneignung durch diejenigen, die die Verantwortung für den Tod und das vergossene Blut der Soldaten tragen, hat die russische Sprache keinen besonderen Ausdruck. Dafür, den angeeigneten fremden Besitz für Ziele zu nutzen, die denjenigen, für die die Menschen umkamen, Gerede entgegensetzt, gibt es, denke ich, in keiner Sprache der Welt einen Ausdruck.
Ist die Erinnerung an den Krieg ein Grund für nationalen Stolz? Ja. Für Millionen von Menschen bedeutete die Teilnahme am Krieg die Teilnahme am Schutz des Landes vor dem Einfall von Fremden, die ohne Zweifel vorhatten, sie zu versklaven. Und diese Menschen haben das Recht, auf ihren Beitrag zur Vertreibung der Besatzer stolz zu sein. Ich denke, für viele war dieser Krieg Teil des Zweiten Weltkriegs, des Kampfs der Menschheit mit dem Nazismus, das heißt mit Ideologie und Praxis des absoluten Bösen. Und diese Menschen haben das Recht auf ihre Teilnahme am antifaschistischen Krieg und ihrer Rolle bei der Befreiung Europas von Hitler stolz zu sein. Aber dieses Recht stolz zu sein haben sie, nicht der Staat, für den sie alle, die Umgekommenen und die Überlebenden, keine Bürger waren und bleiben, sondern Untertanen; der Staat also, der ihren Mut, ihre Leiden und ihr Sterben als Opfer für sich selbst ansah, als einen Tribut, den der einzelne Mensch nicht das Recht hat dem Moloch zu versagen.
(…)
Für uns kann und darf der Zweite Weltkrieg kein „Heldenepos" werden. Für uns ist die Erinnerung an den Krieg in erster Linie die Erinnerung an viele Millionen gewaltsamer Tode, an zerstörte Familien und verstümmelter Schicksale. Das ist die Erinnerung an Rotterdam und Coventry, an Dresden und Hiroshima. Das ist die Erinnerung an die vernichteten Juden und Zigeuner – aber auch an die deportierten Völker des Nordkaukasus und der Krim. Das ist die Erinnerung an Auschwitz und Mauthausen – aber auch an die schrecklichen Kriegswinter in den Lagern des GULAG. Das ist die Erinnerung an die Niederlage des Jahres 1941, die schlimmste Niederlage, die Russland seit dem Mongoleneinfall zu erleiden hatte, eine Niederlage, zu der Russland durch die Vorkriegspolitik der eigenen Führung verurteilt worden war. Das ist die Erinnerung an Verrat, dem ganze Völker zu Opfer fielen: an den Verrat von München vom September 1938, an den Moskauer Verrat vom August 1939 und an den Verrat von Jalta im Februar 1945. Das ist die Erinnerung an das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen nicht nur während des Kriegs, sondern auch nach ihrer Rückkehr in die Heimat. Das ist die Erinnerung an Dutzende „kleine Kriege", die durch den großen Krieg von 1939 bis 1945 geboren wurden, aber noch Jahre nach seinem Ende weitergingen: in Polen, in Jugoslawien, in Griechenland, im Baltikum, in der Ukraine und in Indochina. Jeder dieser kleinen Kriege zerbrach ebenso die Leben derjenigen, die in ihn auf der einen oder anderen Seite hineingezogen wurden, schon nicht im Namen des Kampfs mit dem Nazismus, sondern nationaler, ideologischer und politischer Ambitionen wegen. Das ist die Erinnerung daran, wie die politischen Führer der UdSSR unsere Armee, die gerade noch Osteuropa von Hitler befreit hatte, in einen Gefängniswärter für die von ihr befreiten Völker verwandelten.
Übrigens August 1939: Vor kurzem gab der russische Präsident einem slowakischen Fernsehsender ein Interview. Als das Gespräch auf den Molotow-Ribbentropp-Pakt kam, erwähnte unser Staatsführer das Münchner Abkommen, das diesem Pakt vorausgegangen war, und sagte wörtlich:
„Um ihre Interessen zu wahren und die Sicherheit ihrer westlichen Grenzen zu sichern ging die UdSSR auf den Molotow-Ribbentropp-Pakt mit Deutschland ein."
Das hört sich an wie: Was blieb Stalin schon anderes übrig?
Da könnte man vieles einwenden. Zum Beispiel, dass es wirklich Parallelen zwischen dem Münchner und dem Moskauer Abkommen gibt, aber auch grundlegende Unterschiede.
Erstens: England und Frankreich haben tatsächlich die Tschechische Republik verraten, aber sie hatten genug Verstand, sich für diesen Verrat nicht auch noch mit Territorialgewinnen zu belohnen. Das geheime Zusatzprotokoll zum Pakt vom 23. August 1939 machte die UdSSR aber faktisch zum Komplizen Hitlers bei der Teilung Polens und öffnete im Weiteren den Weg zur Annexion der baltischen Länder (letzteres hat Putin, das muss man anerkennen, ehrlich in seinem Interview erwähnt).
Zweitens: Die politischen und rechtlichen Folgen des Münchner Abkommens wurden sofort nach dem Krieg rückgängig gemacht; die Folgen des Pakts vom 23. August dagegen wurden endgültig erst 1991 ausgeräumt und die Erinnerung an diese 52 Jahre belasten bis heute unser Verhältnis zu den benachbarten baltischen Ländern sehr (und zu Polen natürlich auch).
Drittens und wohl am wichtigsten: Nicht ein britischer oder französischer Politiker bei klarem Verstand und mit gutem Gedächtnis würde es heute wagen, das Münchner Abkommen mit der Wahrung nationaler Interessen und Sicherheit zu rechtfertigen.
Kann es sein, dass Wladimir Putin ehrlicher und offener ist als seine westlichen Freunde? Nein, eher umgekehrt: Er denkt wirklich, dass für den Staat die Wahrung seiner Interessen und die Sicherheit seiner Grenzen einen höheren Wert haben als alle möglichen idealistischen Überlegungen, die in der Politik keinen Platz haben. Ende der 30er Jahre dachten und handelten so viele: Stalin und Hitler ebenso wie Chamberlain, Mussolini und Daladier. Was die heutigen Staatsmänner in der Welt für sich denken, weiß allein Gott, aber öffentlich spricht solche Dinge allein Wladimir Putin aus.
Mir bleibt nur, unserem Präsidenten eine einzige Frage zu stellen. Und ich bemühe mich, das in einer für uns beide verständlichen Sprache zu tun.
Der Molotow-Ribbentropp-Pakt, so sagen Sie, wurde von der UdSSR abgeschlossen, „mit dem Ziel, ihre Interessen und die Sicherheit ihrer westlichen Grenzen zu wahren"?
Und? Hat es geklappt?
Dieser Essay erschien zunächst am 23. März 2005 auf polit.ru im russischen Original.