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Gefängnis und Welt: Besitz und Freiheit

Lesedauer: 12 Minuten
Michail Chodorkowskij bei seiner Gerichtsverhandlung am 30. Juli 2004. Quelle: fotki.

13. Januar 2005
Von Michail Chodorkowskij

Die Vernichtung von JuKOS wird vollendet. Ich habe alles von mir Abhängende getan, damit die Abneigung der Staatsmacht mir persönlich gegenüber nicht zu diesen Folgen für Minderheitsaktionäre, einfache Mitarbeiter und für das Land insgesamt führte.

Vor einem halben Jahr bot ich an, die mir gehörenden Aktien abzugeben, um mit ihnen die Forderungen gegen JuKOS erfüllen zu können. Doch wurde ein andere Weg gewählt, ein Weg, bei dem das Gesetz selektiv angewandt wird, bei dem neue Rechtsnormen rückwirkend gelten und alte neu interpretiert werden, ein Weg, bei dem direkt und öffentlich das gerade zu sprießen beginnende Vertrauen der Wirtschaft in die Gerichte und die Staatsmacht insgesamt vernichtet werden.

Das koordinierte und völlig ungenierte Vorgehen von Steuerbehörden, Strafverfolgungsbehörden, Gerichten und staatsnahen Firmen, der totale Druck auf das Management und die Mitarbeiter von JuKOS, deren einzige Schuld darin lag, dass sie alle irgendwann einmal unter der Leitung von Chodorkowskij gearbeitet haben, lässt keinen Raum für Zweifel daran, dass der gesamte Prozess „im Auftrag" geschah. Hunderte Menschen wurden verhört, vielen wurden vollkommen phantastische Anschuldigen vorgehalten. Menschen, darunter auch Frauen, werden im Gefängnis festgehalten. Warum? Das alles ist ganz offenbar: Stört uns nicht, JuKOS zu zerschlagen, und gebt uns kompromittierendes Material gegen Chodorkowskij.

Jetzt ist es offensichtlich, dass es nicht nur um politische sondern auch um andere Interessen geht, denn die zur Durchsetzung dieser Interessen gewählten Methoden schaden der Reputation des Staates und der Wirtschaft des Landes. Aber denjenigen, die das angerichtet haben, sind solche Kleinigkeiten, wie es scheint, egal.

Es geht heute schon nicht mehr um das Schicksal von JuKOS. Den Konzern zu retten, gelingt wohl nicht mehr. Es geht also darum, welche Lehren das Land und die Gesellschaft aus dem Fall JuKOS ziehen, dessen Schlussakkord das für die Wirtschaft des Landes unsinnigste und zerstörerischste Ereignis wurde, seit Wladimir Putin Präsident ist.

Tyrannei des Eigentums

Ja, innerhalb des vergangenen Jahres haben sich die 15 Milliarden US-Dollar, über die Forbes schrieb, praktisch in Nichts verwandelt und werden bald vollständig verschwunden sein. Als ich verstand, dass es so kommen wird, bot ich an, zumindest den Konzern und seine Minderheitsaktionäre nicht anzutasten, weil ich eine direkte Verantwortung den 150.000 Mitarbeitern, ihren 500.000 Familienangehörigen und den 30 Millionen Einwohnern jener Städte und Siedlungen gegenüber fühle, die vom genauen und ununterbrochenen Funktionieren des Konzerns abhängen.

Ich fühlte und fühle mit zehntausenden Aktionären von JuKOS, die einst der Meinung waren, dass man Chodorkowskij und seiner Mannschaft Geld anvertrauen könne.

Und bis vor nicht allzu langer Zeit konnte man auch noch behaupten, dass sich die Aktionäre nicht getäuscht hatten. 1995, als wir – ich und meine Mannschaft – zu JuKOS kamen, machte die Firma Verluste, sie schob ein halbes Jahr nicht gezahlter Löhne und Gehälter vor sich her und die überfälligen Kredite summierten sich zu 3 Milliarden US-Dollar. JuKOS war in nur neun russischen Regionen tätig und förderte 40 Millionen Tonnen Erdöl im Jahr – mit ständig sinkender Tendenz.

Im Jahr 2003 war JuKOS schon in 50 russischen Regionen vertreten, die jährliche Fördermenge war auf 80 Millionen Tonnen angewachsen – mit der Tendenz weiter zu steigen. JuKOS zahlte seinen Mitarbeitern hohe, stabile Löhne: bis zu 7.000 Rubel im Monat im europäischen Teil Russlands, bis zu 30.000 Rubel in Sibirien. Ab dem Beginn des neuen Jahrzehnts war JuKOS nach Gasprom der zweitgrößte Steuerzahler im Land. Die Steuern machten rund 5 Prozent des Bundesetats aus.

Ich möchte mich nicht genauer damit befassen, mit welch mutiger Vorstellungskraft die Steuerschulden von JuKOS erdacht wurden (dem Steuerministerium zufolge soll JuKOS dem Staat mehr Steuern bezahlen als der Konzern Bruttoeinnahmen hatte). Diese Methoden werden als schräge historische Anekdoten in die Lehrbücher für Steuerrecht eingehen, weil sie nachgewiesen haben, dass die Ölforderung in Russland verlustbringend ist. Es versteht sich, dass die Staatsbeamten zu allem bereit sind, um das Eigentum im Land umzuverteilen.

Aber – das mag vielen ruhig seltsam erscheinen – die Trennung von meinem Eigentum wird für mich nicht unerträglich schmerzhaft sein.

Ich muss in der Nachfolge vieler und noch mehr bekannter und unbekannter Gefangener dem Gefängnis Dank sagen. Es hat mir Monate zu angespannter Kontemplation und zum Überdenken vieler Seiten des Lebens geschenkt.

Und ich habe schon erkannt, dass Besitz und besonders sehr großer Besitz allein den Menschen nicht frei macht. Als Miteigentümer von JuKOS musste ich enorme Kräfte zur Verteidigung dieses Besitzes aufwenden. Und ich musste mich in allem beschränken, was diesen Besitz hätte bedrohen können.

Ich habe mir selbst vieles auszusprechen verboten, weil offen zu reden eben diesem Besitz hätte Schaden zufügen können. Vor vielem musste ich die Augen verschließen, mit vielem sich zum Guten des Besitzes, seines Erhalts und seiner Vermehrung abfinden. Nicht nur ich habe über den Besitz verfügt, sondern auch der Besitz über mich.

Eben deshalb möchte ich die heutigen jungen Menschen, die bald an die Macht kommen werden, besonders warnen. Glaubt nicht, das Leben sei leicht und bequem. Besitz eröffnet neue Möglichkeiten, aber er führt auch zur Abkapselung der schöpferischen Kräfte des Menschen, er verwäscht seine Persönlichkeit. Darin zeigt sich eine grausame Tyrannei – die Tyrannei des Besitzes.

Und so verändere ich mich. Ich werde ein einfacher Mensch (vom wirtschaftlichen Standpunkt aus: ein Vertreter des versorgten Teils der Mittelklasse), für den die Hauptsache nicht das Haben sondern das Sein ist, der Kampf nicht um Besitz sondern um sich selbst, um das Recht sich selbst zu sein.

In solch einem Kampf hat der Platz in Rating-Listen, haben bürokratische Verbindungen oder Werbekinderklappern keine Bedeutung. Nur Du selbst, deine Gefühle, Ideen, Fähigkeiten, Willen, Vernunft, Glaube.

Das ist, wahrscheinlich, auch die einzige mögliche und richtige Wahl – die Wahl der Freiheit.

Unlenkbare Demokratie

Die Vorgänge um JuKOS haben eine unmittelbare Beziehung zur Staatsmacht. Was mit der Staatsmacht nach dem Fall „JuKOS" wird, ist eine sehr wichtige Frage.

Man sagt, jedes Volk habe die Machthaber, die es verdiene. Ich füge an, dass jede Staatsmacht die konzentrierte Widerspiegelung der Vorstellungen des Volkes über die Natur der Macht ist. Deshalb kann man auch durchaus behaupten, das in Großbritannien und in Saudi-Arabien und in Zimbabwe die Macht dem Volk gehört. Und die Tradition der Auffassung von Macht ist die grundlegende Basis der Stabilität eines Staates. Deshalb ist es ebenso absurd über die „Demokratisierung" einiger arabischer Monarchien nach westlichem Vorbild zu reden wie über die Wiederherstellung der absoluten Monarchie mittelalterlichen Typs zum Beispiel im modernen Dänemark.

Die russische politische Tradition ist in diesem Sinn synthetisch. Russland befand sich immer (und befindet sich jetzt) an der Grenze der Zivilisation, ist aber trotzdem überwiegend ein europäisches Land. Und deshalb sind die europäischen politischen Institute, die die Gewaltenteilung vorsehen, für unser Land völlig organisch.

Die andere Seite der Medaille ist eine andere Sache, die aber nicht ignoriert werden darf. Das russische Volk hat sich angewöhnt, dem Staat als einer höchsten Kraft zu begegnen, die Hoffnung und Glauben gibt. Diese Kraft kann man nicht zur Arbeit anstellen – zuerst muss man sich ihr gegenüber wie gegenüber einer höchsten Kraft verhalten. Und wie uns die russische Geschichte lehrt, führt der Verlust dieser besonderen, überrationalen Achtung dem Staat gegenüber in unserem Land unausweichlich und unabänderlich zum Chaos, zum Aufstand, zur Revolution.

Dabei darf man nicht die Begriffe „Macht" und „Verwaltung" vermischen. Die Funktion der Verwaltung füllt der Beamte aus, der ja gerade keine heilige Kuh ist. Der Bürokrat ist ein einfacher Sterblicher, der berufen ist, die Verantwortung für alle Probleme und alle Versäumnisse auf sich zu nehmen.

Die Zerschlagung von JuKOS zeigt, dass sich die von der Leine gelassenen Bürokraten nicht von den Interessen des Staates leiten lassen, des ewigen und schon deshalb mächtigen. Sie wissen einfach, dass die Staatsmaschinerie dazu dient, ihre eigenen Interessen zu bedienen und dass alle anderen Funktionen zeitweise (oder für immer) wegen Nutzlosigkeit aufgehoben wurden. Sie haben nicht die geringste Achtung dem Staat gegenüber, der von ihnen lediglich als Mechanismus zur Durchsetzung der eigenen Ziele betrachtet wird.

Auch deshalb gibt es den Fall „JuKOS". Das ist nicht ein Konflikt des Staates mit der Wirtschaft, sondern ein politisch und kommerziell motivierter Überfall eines Teils der Wirtschaft (als dessen Vertreter die Beamten auftreten) auf einen anderen Teil. Der Staat ist hier Geisel der Interessen konkreter physischer Personen, mögen sie auch über die Vollmachten von Staatsdienern verfügen.

Aus der gleichen Logik heraus hat die Bürokratie heute entschieden, die Gewaltenteilung zu vernichten. Das zu Hilfe genommene Model sieht vor, dass nun jeder Politiker den Beamten gleichgestellt wird, und der Inhalt der Politik selbst einer Karriere in den engen Rahmen einer bürokratischen Korporation.

Warum wird das getan? Um die Nation zu mobilisieren und sie zu neuen historischen Höhen zu führen? Kein kremlnaher Mensch, der glaubt, was er sagt, wäre mit solch einem Ziel einverstanden. Im privaten, von niemandem mitgehörten Gespräch sagt er das Gegenteil: Wenn die Gewaltenteilung abgeschafft ist, dann wird es den Bürokraten leichter fallen, das Geld des Landes einzusammeln und auf die eigenen Unternehmen zu verteilen, ohne sich um die Bedürfnisse und Interessen der Menschen zu kümmern. Damit ist eigentlich alles gesagt.

Eine andere Frage ist es, ob dieses System effektiv funktionieren und seine Architekten den selbstgesetzten Zielen näher bringen wird. Nein, das wird es nicht. Das Land kann als Folge dieser Maßnahmen zur „Verbesserung der Regierbarkeit" völlig unregierbar werden.

Warum? Weil es schon Jahrhunderte existierende Gesetze zur Organisation komplizierter Systeme gibt und auch in der Geschichte abgelagerte Regeln der Macht.

Macht bedeutet immer gegenseitige Motivation von Regierenden und Regierten. Es kann unterschiedliche Motivationen geben, vom Aufbau des Kommunismus bis zur banalen allgemeinen Bereicherung. Aber die Motivation muss real sein und für alle die gleiche.

Farblose und inhaltsleere Beamte die nach dem Prinzip „mir, mir und noch einmal mir" handeln, bieten keine solche Motivation an. Sie verstehen überhaupt nicht, warum man ein bräuchte. Eben deshalb zerstören sie folgerichtig alle Mechanismen, die es den Russen ermöglichen würden, sich selbst zu engagieren: Wahlen auf allen Ebenen, Marktkonkurrenz, freie öffentliche Meinungsäußerungen und so weiter.

Kein echter Patriot wird sein Leben für die offen hingehaltenen Hände der Beamten hergeben, die nur ihre Einnahmen interessieren. Kein echter Dichter wird ihnen zur Ehre eine Hymne schaffen. Kein Wissenschaftler wird in einer Umgebung zu großen Entdeckungen drängen, in der sein Genie allen egal ist.

Schon sehr bald wird dieser alles verschlingenden Bürokratie nur noch eine grimmige, formlose Masse gegenüberstehen. Sie wird auf die Straßen drängen und schreien: „Man hat und Brot und Spiele versprochen? Wo sind sie denn?" Und es wird nicht gelingen in ironischer Weise vor den Nasen der Leute mit bürokratischem Altpapier zu wedeln.

Dann wird es eine unlenkbare Demokratie mit all ihrem unendlichen Unglück und ihren unendlichen Leiden geben. Davor muss man wirklich Angst haben.

Was wird sein?

Ich möchte mich natürlich daran beteiligen, unser Land blühend und frei zu machen. Aber ich bin bereit auszuhalten, sollte die Staatsmacht entscheiden, mich im Gefängnis zu lassen.

Die gierigen Menschen, die sich zehntausenden von JuKOS-Aktionären gegenüber so grob und sinnlos verhalten haben, tun mir, einem einfachen postsowjetischen Gefangenen, sogar leid. Sie haben viele Jahre Angst vor neuen Generationen derer, die „wegnehmen und aufteilen" wollen, und vor einer echten Gerichtsbarkeit vor sich. Denn nur wenige, sehr naive Zuschauer der zentralen Fernsehsender glauben weiter, dass die Interessen des ganzen Volkes das Ziel dessen sind, was passiert.

Aber noch mehr tun mir diejenigen Leute an der Staatsspitze leid, die wirklich glauben, dass sie im Moment für das Land und für die Menschen Gutes tun. Die Straße zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert. Die historische Logik zeigt: Die Aufteilung des Eigentums mit gewaltsamen Methoden im Interesse einzelner Gruppen ist mit der Aufgabe, eine moderne Wirtschaft aufzubauen, nicht vereinbar. Und diese Maschine nur auf Chodokowskij zu begrenzen, auf JuKOS oder andere Oligarchen wird nicht gelingen. Sie wird viele Opfer fordern, einschließlich ihrer heutigen Architekten und Erbauer.

Meinen Verfolgern ist klar, dass die Strafsache gegen mich nicht einen Beweis meiner Schuld enthält, aber das ist ihnen egal. Sie werden neue Anschuldigungen finden, zum Beispiel dass ich die Manege angezündet hätte oder eine wirtschaftliche Konterrevolution angezettelt. Mir wurde eine wichtige Überlegung übermittelt: Sie wollen mich in einen möglichst tiefen Keller setzen, für fünf oder noch mehr Jahre, weil sie Angst haben, dass ich mich rächen werde.

Diese einfachen Seelen versuchen alle über ihren eigenen Kamm zu scheren. Beruhigt Euch: Ich habe nicht vor zum Grafen von Monte Christo zu werden (aber ich will auch kein Hausmeister sein). Frühlingsluft zu atmen, mit den Kindern zu spielen, die in eine einfache Moskauer Schule gehen werden, kluge Bücher lesen, das alles ist viel wichtiger, richtiger und angenehmer als Eigentum zu aufzuteilen und alte Rechnung zu begleichen.

Ich danke Gott, dass ich im Unterschied zu vielen meiner Verfolger erkannt habe, dass viel Geld zu verdienen bei weitem nicht der einzige (und wahrscheinlich bei weitem nicht der wichtigste) Sinn menschlicher Arbeit ist. Für mich wird die Zeit des großen Geldes in der Vergangenheit bleiben. Und nun, frei von den Lasten der Vergangenheit, will ich zum Wohle jener Generationen arbeiten, denen schon sehr bald unser Land gehören wird. Denjenigen Generationen, mit denen neue Werte und neue Hoffnung kommen werden.

Der Autor ist eine Privatperson, Bürger der Russischen Föderation


Dieser Text erschien zunächst am 28. Dezember 2004 in der Moskauer Tageszeitung „Wedomosti".

Übersetzung: Jens Siegert

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