Übersetzung von Jens Siegert
Liebe Freunde!
Ich begrüße Sie zum heutigen Treffen des Klubs Regionaler Journalisten. Ich denke, ein Thema Ihrer Diskussionen wird möglicherweise der von mir geschriebene Artikel sein. Ich bitte sehr darum, ihn wegen der Bedingungen unter denen er geschrieben wurde, nicht gering zu erachten. Es ist eher so, dass das Gefängnis mir das moralische Recht gibt, offen und öffentlich zu sagen, worüber ich früher nur mit meinen Kollegen gesprochen habe. Denn mir fällt es, wie im Übrigen allen Menschen, besonders schwer, meinen Freunden öffentlich unangenehme Dinge zu sagen. Nichtdestotrotz hielt ich es gerade jetzt, wo wir bis zum Jahre 2007 noch Zeit haben, für notwendig das zu sagen, was ich gesagt habe.
Heute sind die Worte Liberalismus und Demokratie fast schon Schimpfworte, nicht weil die Menschen in Russland keine Freiheit wollen, sondern einfach weil sie für die Mehrheit der Bevölkerung fest mit dem Schock der Jahre 1991-1993 und mit dem Zusammenbruch 1998 verbunden sind. Und wir, die Anhänger einer liberal-demokratischen Entwicklungsrichtung für das Land haben nur zwei Möglichkeiten: die Erste ist, zu sagen, dass wir (ich rede über mich und die "alten Liberalen") alles richtig gemacht haben und dann von der politischen Szene mit stolz erhobenem Haupt abzugehen. Dabei nähmen wir die Ideale der Freiheit und der Demokratie für 20 Jahre mit uns, weg vom nicht verstehenden Volk, das aus irgendwelchen Gründen immer noch soziale Garantien, Stabilität und Lohn haben will.
Oder wir können ehrlich sagen, wir haben viele Fehler gemacht, aus Dummheit, unserer Ambitionen wegen oder weil wir nicht verstanden haben, was im Land mit seinen schwierigen sozialen und regionalen Besonderheiten passiert. Diese Fehler sind unsere Fehler und nicht das unausweichliche Resultat der liberal-demokratischen Reformen. Vergebt uns, wenn ihr könnt und lasst uns den Schaden wieder gut machen, weil wir wissen, wie. Und wenn ihr uns nicht vergeben könnt, dann müssen wir gehen, die Menschen, aber nicht die Ideale der Freiheit und der Demokratie. Und dann haben die neuen Liberalen noch fast vier Jahre Zeit, um viele neu zu beginnen.
Und noch eine unangenehme aber gerechtfertigte Sache: Im Land gibt es ein einziges vom Volk anerkanntes Institut der Staatsmacht, das ist der Präsident. Das ist heute so, in vielem als Ergebnis unserer Fehler, und wir müssen in der Lage sein, uns mit ihm zu einigen. Das bedeutet nicht die Absage an Kritik oder, noch viel weniger, an den Aufbau von Strukturen der Zivilgesellschaft. Das bedeutet, dass wir unsere Verantwortung für den Erhalt von Stabilität im Land verstehen, die so schwer erreicht worden ist und die historisch und politisch längst noch nicht garantiert ist.
Damit die Menschen ein Bedürfnis nach liberal-demokratischen Werten haben, braucht man ein bestimmtes Niveau von Stabilität und Sicherheit, muss man die Armut verringern, jungen Menschen gleiche Möglichkeiten beim Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen geben u.s.w. Das sind ganz praktische und lösbare Aufgaben, lösbar, solange es allgemeine Stabilität im Land gibt, solange die Zusammenarbeit mit dem Westen erhalten bleibt und erweitert wird, solange unsere nationalen Besonderheiten und Interessen beachtet werden.
Es ist aus meiner Sicht ein Fehler, die Aufgabe, zivilgesellschaftliche Strukturen und demokratische Institutionen zu entwickeln, der Aufgabe entgegenzustellen, Stabilität und Konsens zu erreichen und zu erhalten. Das sind zwei parallele, sich gegenseitig unterstützende, allerdings auch in Konflikt stehende Prozesse. Wichtig ist die Balance.
Denken Sie darüber nach.
Ich wünsche allen Erfolg!