Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Der Fall Chodorkowskij

Lesedauer: 6 Minuten
"Hände weg von Chodorkowskij": Graffiti in St. Petersburg. Titel: St. Pete, Nov. 28, 2003. Foto: Neeka.

16. Januar 2004

Erklärung des Vorstands der Internationalen Gesellschaft Memorial

Moskau, 25. Oktober 2003

Wir sind tief über die auf Anordnung der Generalstaatsanwaltschaft erfolgte demonstrative Festnahme Michail Chodorkowskijs, Präsident des Konzerns JuKOS, in Nowosibirsk empört. Es gibt keinen Zweifel daran, dass hier unter dem Schutzmantel formalen Rechts grober politischer Druck ausgeübt wird, dass diese Festnahme der Abschreckung dienen soll. Der Abschreckung nicht nur Michail Chodorkowskij, sondern praktisch jedes einzelnen russischen Bürgers.

Bisher waren die sogenannten „Auseinandersetzungen von Wirtschaftssubjekten“ auf die Abschaffung unabhängiger Massenmedien gerichtet. Nun wendet sich der Angriff unter der Flagge des Kampfes gegen „Wirtschaftsverbrechen“ von vor über 10 Jahren gegen den unabhängigen Teil der russischen Wirtschaft. Und das geschieht zu einer Zeit, in der die Staatsmacht zum wiederholten Mal auf dem Bürgerforum in Nischnij Nowgorod (23.-25. Oktober 2003) erklärt, sie sei sehr an der Entwicklung einer Zivilgesellschaft in Russland interessiert.

Nach dem Bürgerforum im Kreml im Herbst 2001 wurde demonstrativ Grigorij Pasko, einer seiner Teilnehmer festgenommen. Während des Russischen Forums 2003 traf es nun demonstrativ auf dem Weg von Nischnij Nowgorod nach Irkutsk, Michail Chodorkowskij, einen aktiven Teilnehmer am gesellschaftlichen Dialog.

Kann man unter diesen Bedingungen von einem wie auch immer gearteten konstruktiven Dialog, mehr noch, einem „Vertrag“ zwischen der Gesellschaft und der Staatsmacht sprechen?! Ein Land, in dem es keine zivile Kontrolle über die Armee, die Geheimdienste, den Sicherheitsapparat überhaupt gibt, kann wohl kaum darauf rechnen, dass es demokratisch genannt wird.

Unter diesen Bedingungen bleibt uns nur die Hoffnung auf einen innergesellschaftlichen Dialog – zwischen unabhängigen Bürgern, unabhängigen Nichtregierungsorganisationen, unabhängigen Gewerkschaften, unabhängigen Unternehmervereinigungen und unabhängigen politischen Parteien. Nur mit gemeinsamen Anstrengungen kann ein Ausweg aus der heutigen Situation gefunden werden, in er uns Russland immer mehr an das Land erinnert, in dem viele von uns Jahrzehnte gelebt haben.

Erklärung zum Vorgehen der Generalstaatsanwaltschaft gegenüber Michail Chodorkowskij

Nischnij Nowgorod, 25. Oktober 2003

Heute wurde in Nowosibirsk der Chef des Ölkonzerns JuKOS Michail Chodorkowskij von Spezialeinheiten des FSB (Inlandsgeheimdienst, Anm. d. Übersetzers) festgenommen. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft wurde diese Zwangsmaßnahme angewandt, weil er „sich böswillig einer Vorladung der Generalstaatsanwaltschaft in Zusammenhang mit Ermittlungen wegen Steuerhinterziehungen von Firmen aus dem JuKOS-Verbund entzogen hat“. Nach Angaben der Anwälte Michail Chodorkowskijs war die Generalstaatsanwaltschaft darüber informiert, dass er zum angegebenen Zeitpunkt der Vorladung nicht folge leisten konnte, weil er sich auf einer Dienstreise befand.

Wir bewerten diese Vorgänge als einen demonstrativen Akt der staatlichen Machtstrukturen, um Druck nicht nur auf einen konkreten Bürger oder ein bestimmtes Unternehmen auszuüben, sondern auf die russische Gesellschaft insgesamt. Aus unserer Sicht können die gegen Michail Chodorkowskij angewandten Methoden nicht durch die von der Generalstaatsanwaltschaft vorgebrachten Gründe gerechtfertigt werden. Dies umso mehr, als sich russische Staatsanwälte völlig anders verhalten, wenn es sich um Ermittlungen gegen kriminelle „Autoritäten“ oder Staatsbeamte handelt.

Das Ziel des Russischen Forums, das gegenwärtig in Nischnij Nowgorod stattfindet, ist die Vertiefung des gegenseitigen Verständnisses und der Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft, dem Staat und der Wirtschaft. Dieser Prozess entwickelt sich in den vergangenen Jahren mit Unterstützung des Präsidenten der Russischen Föderation und der Regierung. Die Teilnahme eines stellvertretenden Ministerpräsidenten, einer Reihe von Ministern und weiterer hoher Staatsbeamter am Forum spricht für die Ernsthaftigkeit, mit der der Staat sich der Stärkung der Zusammenarbeit mit der Gesellschaft und der Wirtschaft annimmt. Erstmals nehmen an einem solchen Forum auch die wichtigsten russischen Unternehmerverbände aktiven Anteil.

Die Diskussionen auf dem Forum geben Anlass, auch mit einer weiteren konstruktiven Entwicklung der Beziehungen zwischen dem russischen Staat, der Gesellschaft und der Wirtschaft zu rechnen. Die jüngsten Ereignisse lassen allerdings Zweifel an der Effektivität dieses Dialogs aufkommen.

In diesem Zusammenhang erklären wir unsere tiefe Beunruhigung über die Geschehnisse um den JuKOS-Konzern und seinen Kopf. Ebenso tief beunruhigt uns, dass die Generalstaatsanwaltschaft und der Sicherheitsdienste zum wiederholten Mal ihre Missachtung der Meinung der russischen Gesellschaft demonstrieren. Die heutigen Ereignisse unterstreichen erneut, dass Russland dringend einen neuen Gesellschaftsvertrag braucht und dass vor allem ein System ziviler Kontrolle über die Sicherheitsdienste installiert werden muss.

Unterschriften (insgesamt 66):

  • Jewgenij Gontmacher, Vizepräsident der „Russischen Union der Unternehmer und Industriellen“ (RSPP)
  • Igor Jurgens, Vizepräsident des RSPP
  • Ljudmila Aleksejewa, Präsidentin der Moskauer Helsinki Gruppe
  • Arsenij Roginskij, Vorstandsvorsitzender des Internationalen Memorial
  • Gleb Pawlowskij, Stiftung „Effektive Politik“
  • Aleksandr Ausan, Institut Nationales Projekt Gesellschaftsvertrag
  • Marija Slobodskaja, Institut für Probleme der Zivilgesellschaft
  • Anton Lopuchin, Assoziation Junger Führungskräfte
  • Jelena Topolewa, Agentur für Soziale Informationen (ASI)
  • Nodar Chananaschwili, Stiftung „Nein zum Alkoholismus und zur Drogenabhängigkeit“
  • Swetlana Gannuschkina, Komittee „Bürgerbeteiligung“
  • Wladimir Jakimez, Institut für Systemanalyse der Russischen Akademie der Wissenschaften
  • Jelena Jerschowa, Konsortium nichtstaatlicher Frauenvereinigungen
  • Nina Beljajewa, Assoziation gesellschaftlicher Vereinigungen „Wir sind Bürger!“
  • Lidija Grafowa, Forum der Umsiedlerorganisationen
  • Jewgenij Saburow, Narodnaja Assambleja
  • Natalja Taubina, Stiftung „Für eine Zivilgesellschaft“
  • Jewgenij Grekow, „Südwelle“, Krasnodar
  • Igor Sazhin, Memorial Syktyvkar

Erklärung von Michail Chodorkowskij

Moskau, 23. Dezember 2003

Im Laufe der heutigen Gerichtsverhandlung hätten die Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft in Übereinstimmung mit der Gesetzgebung unwiderlegbare Beweise zu folgenden Punkten vorlegen müssen:

  • Erstens hätten sie beweisen müssen, dass es notwendig war, die Öffentlichkeit vom Prozess auszuschließen.
  • Zweitens hätten sie beweisen müssen, dass ich persönlich eine Gefahr für ein gerechtes Gerichtsverfahren darstelle.
  • Drittens hätten sie beweisen müssen, dass der Gefahr, die ich für das Verfahren darstelle, nicht anders als durch meine Untersuchungshaft begegnet werden könne.

Das Gericht wäre seinerseits verpflichtet gewesen, und ich unterstreiche ausdrücklich, dass es sich hier um eine Verpflichtung des Gerichts handelt und nicht um einen wohltätigen Akt von seiner Seite oder ein Zeichen von Humanismus, mich frei zu lassen, sollte es der Staatsanwaltschaft nicht gelingen, die oben beschriebenen Beweise beizubringen oder der Verteidigung gelingen, die Argumente der Staatsanwaltschaft in der Verhandlung zu widerlegen.

Die Tatsache, dass die Gerichtsverhandlung heute unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, zeugt davon, dass die Generalstaatsanwaltschaft nicht über die oben beschriebenen Beweise verfügt, oder davon, dass die von ihr vorgelegten Beweise, keiner Kritik Stand halten. Deshalb fürchtet sich die Generalstaatsanwaltschaft der Öffentlichkeit die Gelegenheit zu geben, zu sehen, dass ihre Einlassungen absolut gegenstandslos sind.

Daraus folgt zwingend, dass die heutige Entscheidung des Gerichts gesetzwidrig ist und womöglich gar strafrechtlich relevant. Diese Tatsache gibt zu der Vermutung Anlass, dass mit einem gerechten Gerichtsverfahren im gesamten Prozessverlauf nicht zu rechnen ist.

Mehr noch birgt diese Entscheidung eine Gefahr für die Existenz des Gerichtswesens in Russland, weil sie die Idee einer objektiven, unabhängigen und offenen Rechtssprechung insgesamt diskreditiert.

Dossier

Demokratie in Russland

Demokratie in Russland ist für ein friedliches und demokratisches Europa unabdingbar. Nur ein demokratisches Russland wird ein verlässlicher und berechenbarer Nachbar sein.