Wenn es derzeit eine Idee gibt, die all jene vereinigt, die sich selbst so gern als politische „Elite“ Russlands bezeichnen, so ist das die Idee der „Dominanz im postsowjetischen Raum“, der Wiederauferstehung eines russisch-sowjetischen Imperiums in der einen oder anderen Form.
Ich habe ganz klar eine rührende Szene vor Augen: Dmitrij Rogosin führt den in Ketten geschlagenen Anatolij Tschubais nach Lefortowo (1), und beide skandieren: „Es lebe das Imperium!“
Postimperiale messianistische Komplexe sind immer ein typisches Merkmal der russischen politischen Klasse gewesen. Wenn unsere Diplomatie im ersten Jahrzehnt nach dem Zerfall der Sowjetunion mit übermäßigem Pomp ihre Phantomschlachten „gegen eine Erweiterung der NATO“ und für die „traditionellen Interessen Russlands auf dem Balkan“ geschlagen hat, so engt sich ihr Bewegungsspielraum jetzt auf den postsowjetischen Raum ein. Dort zieht sie nun in den „letzten, entscheidenden Kampf“.
Ich befürchte, dass sie einer weiteren, noch schlimmeren Niederlage entgegengeht, wenn sie ihre derzeitige Ausrichtung beibehält. Denn dieses Mal wird es nicht um größenwahnsinnige Phantome gehen, etwa darum, Estland oder Slowenien auf keinen Fall in die NATO zu lassen, sondern um etwas wirklich Wichtiges – um das Verhältnis und die Einstellung, die unsere Nachbarn zu uns haben.
Russland wird im postsowjetischen Raum nicht „dominieren“ und dort auch keinerlei „Imperium“ errichten. Und dies nicht, weil sich ihm dort neue Akteure entgegenstellen würden, die über ein wesentlich stärkeres wirtschaftliches, informationelles oder militärisches Potential verfügen, sondern weil zur Errichtung eines Imperiums etwas anderes als Ressourcen das Entscheidende sind.
Russland hat sein Imperium bereits 1917 verloren. Drei Jahre Bürgerkrieg ließen das Land zerstört und kraftlos zurück. Im Kaukasus und in Zentralasien stand den Überresten des Russischen Reiches das traditionell in diese Regionen drängende Britische Empire gegenüber, die beherrschende Seemacht, der Sieger des Ersten Weltkrieges.
Innerhalb nur weniger Monate jedoch konnten die Bolschewiki scheinbar mühelos das Russische Reich wiedererrichten, als ob es das Empire gar nicht geben würde. Wie konnte dieses Wunder geschehen und warum wird es sich jetzt nicht wiederholen? Weil die zerlumpten Soldaten der 11. Roten Armee mit ihren Bajonetten den Völkern des ehemaligen Russischen Reiches die inspirierende Idee von sozialistischer Gerechtigkeit und der Befreiung der unterdrückten Werktätigen des Orients brachten. Es spielt dabei keine Rolle, dass diese Idee sich später als Irrtum herausstellte und dass sie auf verbrecherische Weise umgesetzt wurde. Entscheidend war, dass diese Idee Millionen Menschen aller Nationalitäten in ihren Bann schlug und zu mehr als einer Ersatzreligion geworden war. Sie übernahm die Rolle einer wahrhaft neuen Religion.
Andrej Amalrik (2) hatte vollkommen Recht, als er 1960 mit mathematischer Genauigkeit das Ende der Sowjetunion voraussagte: „Wie die Annahme des Christentums die Existenz des Römischen Imperiums um 300 Jahre verlängerte, so zögerte die Annahme des Kommunismus den Zerfall des Russischen Reiches um einige Jahrzehnte hinaus.“ Der Zerfall der UdSSR hätte ebenso gut auch früher, später, oder nach einem anderen Szenario, etwa dem jugoslawischen, stattfinden können. Doch nachdem die kommunistische Religion in den Seelen zunächst der Priesterkaste und dann der Gemeinde gestorben war, war das theokratische Imperium der Sowjetunion unbedingt dem Untergang geweiht.
Was kann nun die russische Elite ihren Nachbarn, den ehemaligen Mitbewohnern aus jener „Kommunalwohnung“, denn heute bieten? Nichts außer vollmundigen Erzählungen über die eigene Größe, seine historische Mission, die messianische imperiale Bestimmung des russischen Volkes und dergleichen mehr.
All diese phantomartigen Großmachtsphantasien wurden bereits 1997 in einem ausführlichen Memorandum artikuliert, das traurige Bekanntheit erlangte: „GUS – Anfang oder Ende der Geschichte“ (Nezavisimaja Gazeta, 26.03.97). Die Empfehlungen dieses Berichts ziehen sich seitdem wie ein roter Faden durch unzählige Publikationen von „Experten“ zu Fragen des „näheren Auslandes“. (3)
Zur Ukraine heißt es dort: „Nötigung der Ukraine zur Freundschaft, andernfalls die schrittweise Errichtung eine Wirtschaftsblockade nach dem Vorbild der Kuba-Politik der USA“.
Zum Südkaukasus: „Nur durch die Drohung mit einer tiefgehenden Destabilisierung Georgiens und Aserbeidschans, untermauert durch die entschiedene und demonstrative Bereitschaft, diesen Weg auch bis zum Ende gehen zu wollen, kann verhindert werden, dass Russland endgültig aus dem Südkaukasus hinausgedrängt wird.“
Und schließlich: „Wir gehen von der Notwendigkeit wie auch der Natürlichkeit einer dominanten Rolle Russlands in den supranationalen Organen der GUS aus. Warum sonst sollte Russland auf deren Einrichtung bestehen?“
„Wir wollen ein starkes Russland sehen,“ versichern uns die Autoren des Memorandums.
Nein, meine Herrschaften, sie wollen kein starkes Russland sehen. Sie wollen es in ein Ghetto feindlich gesonnener Nachbarn treiben. „Nötigung zur Freundschaft“ ist ein prächtiges Orwellsches Oxymoron, mit dem die russische politische Klasse eine gnadenlose Selbstdiagnose ihres psychischen Zustandes erstellt.
Nötigung zur Liebe wird in allen Rechtssystemen als eine ausnehmend schwere Tat betrachtet, die entsprechend streng geahndet wird. In den Alltagsbeziehungen kommt Nötigung zur Freundschaft einer Aufforderung zum Hass gleich. Warum wird dann eine derart offensichtliche Dummheit als Vorbild für staatliche Weisheit genommen, wo es doch hier um die Beziehungen ganzer Völker geht?
Russland stellt seine Nachbarn beharrlich vor die Wahl: „Entweder Russland, oder der Westen“. Dies ist ein destruktiver und völlig perspektivloser Ansatz. Die Mitgliedsstaaten der GUS mussten sich von der Unfähigkeit, ja vom fehlenden Willen Russlands überzeugen, etwas zur Lösung der anstehenden Probleme beizutragen. Ist es da noch verwunderlich, dass alle unsere Nachbarn ihre Beziehungen und die Zusammenarbeit mit dem Westen nach Kräften ausbauen? Wem kann an einem Land gelegen sein, dass seinen Nachbarn nichts zu bieten hat, außer einer drohenden „Destabilisierung der Situation im Südkaukasus und in Zentralasien unter aktiver Einbeziehung der russischen und russischsprachigen Bevölkerung“ (MEP 1/2002: A. Migranjan: „Das Zentralasiatische Aufmarschgebiet, oder: Der dritte geopolitische Rückzug Russlands“).
Es kann natürlich trotzdem sein, dass sich irgendwo im postsowjetischen Raum sozial nahestehende Brüder im Geiste finden ließen, falls die vor Hass gegen den Westen zitternde russische Elite tatsächlich ein konsequentes „Großes Antiwestliches Ideologieprojekt“ vorlegen würde. Doch wird der ganze Rummel offenbar nur veranstaltet, um „im politischen Gefeilsche mit den USA und dem Westen die Position Russlands für eine Integration in die zivilisierte Welt zu stärken“ (MEP 1/2002).
Warum in aller Welt versucht dann aber Moskau so verzweifelt und unbeholfen, seine Nachbarn in ihrem natürlichen und unausweichlichen Streben hin zu eben jener „zivilisierten“ Welt“ zu behindern?
Jeder neue Staats- oder Regierungschef in der GUS wird von uns als pro-amerikanisch oder „noch pro-amerikanischer“ bewertet, ohne, dass uns dabei bewusst wäre, wie sehr wir dadurch der eigenen Politik das Todesurteil aussprechen. Wo bleiben denn jene pro-russischen Präsidenten, in deren Erwartung wir das Luftschloss unseres Imperiums bauen? Wie sehr galt doch der neue Präsident Moldawiens, der Russe und Kommunist Woronin, als pro-russisch! Jetzt ist er ebenfalls „pro-westlich und pro-amerikanisch“ geworden. Oder könnte es nicht doch sein, das irgendetwas mit uns und unserer Politik nicht ganz stimmt, und diese Präsidenten einfach nur pro-ukrainisch, pro-georgisch, pro-moldawisch sind?
Die Unfähigkeit der politischen Klasse Russlands, die Unabhängigkeit der GUS-Staaten nicht nur auf dem Papier, sondern auch innerlich und aufrichtig zu akzeptieren, ihre frappierende Taubheit hinsichtlich möglicher Reaktionen unserer Nachbarn, die geistige Trägheit, sich nicht auch mal von der Seite zu sehen, all dies erzeugt im gesamten postsowjetischen Raum einen eigendynamischen Kreislauf von Entfremdung und Feindschaft.
Wir zerstören so mit unseren eigenen Händen jenes riesige Potential unseres Einflusses, das zusammen mit uns das Zeitliche segnen wird. Dieses Potential ist wesentlich wichtiger als all unsere militärische Stärke oder unser Reichtum an Bodenschätzen, es liegt nämlich in der Erinnerung an ein Leben, das wir zusammen in einem Staat geführt haben.
„Sowohl Russland als auch der Westen“ – dies ist die einzige Formel, mit der wir die Beziehungen zu unseren Nachbarn gestalten können und die es uns erlauben würde, den Einfluss im postsowjetischen Raum zu bewahren, unsere wirtschaftliche und kulturelle Position zu stärken und, was das wichtigste ist, die Sympathie unserer Nachbarn behalten. Das ist gar nicht so schwierig. Wir müssen einfach damit aufhören, berauscht von der eigenen Größe unsere „Dominanz“ zu erörtern oder jemanden „zur Freundschaft nötigen“. Dann könnten unsere Nachbarn vielleicht Freunde bleiben.
P.S. Es könnte sein, dass das oben gesagte unseren „Imperialisten“, die ewig von irgendeine Dominanz oder Wiedervereinigung träumen, zu abstrakt erscheint. In diesem Fall schlage ich vor, die zehn Jahre konkreter Erfahrungen mit der „Großen Wiedervereinigung“ mit Belarus einmal Revue passieren zu lassen.
Alljährlich kam der höchst pro-russische „Große Slawe“ Lukaschenko nach Moskau, unterzeichnete ein weiteres völlig bedeutungsloses Papier über die noch tiefer gehende und abschließende Wiedervereinigung mit Russland, kippte im Kreml ein Gläschen, und fuhr mit einem Paket wirtschaftlicher Begünstigungen in Milliardenhöhe wieder nach Hause. Wie die meisten der großen und kleinen halbgebildeten Diktatoren des 20. Jahrhunderts ist Alexander Lukaschenko ein geborener Psychologe. Er hat die Komplexe und Phantasmen der politischen Elite Russlands vorzüglich verstanden und nutzt sie eloquent und gierig aus. Keine Sekunde jedoch hat er in Betracht gezogen, sich jemals zum Gouverneur von Minsk oder zum Leiter irgendeiner Bezirksverwaltung degradieren zu lassen.
Jahrelang lag die „Elite“ in seinen starken Armen, stöhnte in imperialem Orgasmus und wagte dann doch einmal schüchtern nachzufragen: „Wann nur, verehrter Alexander, werden Sie mit ihren sechs Subjekten (4) endlich in mir aufgehen?“
Worauf der „Große Slawe“, bereits seine Kosakenhosen schnürend, würdevoll entgegnete: „Ein belorussischer Offizier nimmt natürlich Geld, und das nicht zu knapp. Doch nur als unabhängiges und souveränes Subjekt des Völkerrechtes.“
Die anmaßende und feige, diebische und stümperhafte politische Elite Russlands, die zwischen dem bei der neurussischen Elite beliebten Schweizer Kurort Courchevel und dem FSB-Untersuchungsgefängnis Lefortowo pendelt, wird den postsowjetischen Raum niemals dominieren. Schlicht und einfach, weil man sie dort so nötig hat wie einen Kropf.
Anmerkungen der Redaktion:
- Im Moskauer Stadtteil Lefortowo liegt das Untersuchungsgefängnis des Inlandsgeheimdienstes FSB. Rogosin einer der Führer der neuen linksnationalistischen Partei „Heimat“. Anatolij Tschubajs von der demokratischen „Union der Rechten Kräfte“ dachte im Dumawahlkampf laut über Russland als „liberales Imperium“ nach.
- Dissident, 1976 aus der Sowjetunion in die Niederlande abgeschoben.
- Mit „nahem Ausland“ werden in Russland die ehemaligen Sowjetrepubliken umschrieben. „Fernes Ausland“ sind hingegen alle Länder, die auch schon zu Zeiten der Sowjetunion Ausland waren.
- den sechs weissrussischen Obslast oder Regierungsbezirken.