Am 10. März 2004 begann in Wladimir, auf dem Theaterplatz, eine Aktion mit dem Namen „Begräbnis der Demokratie“. An dieser Aktion nahmen junge Freidenker, Poeten, Maler, Menschenrechtler, Ökologen und einige Vertreter von Jugendorganisationen oppositioneller Parteien teil – insgesamt etwa 30 Menschen. Die per E-Mail getroffene Verabredung sah vor, dass jeder nur für sich selbst, nicht aber für die Organisation spricht, der er angehört.
Obwohl die Information über diese Aktion nirgends öffentlich gemacht worden war, waberten schon mehrere Tage Gerüchte durch die Stadt, dass irgendwelche „jungen Dissidenten“ zum Boykott der bevorstehenden Präsidentenwahlen aufrufen würden. So fanden sich auf dem Theaterplatz auch Journalisten aus allen führenden regionalen (und nicht nur regionalen) Fernsehsendern, Radiostationen und Zeitungen ein. Ein wenig weiter weg patrouillierten zwei Milizionäre. Etwa zehn Minuten machten sich die Teilnehmer der Aktion miteinander bekannt, redeten, tauschten Flugblätter aus, Zeitungen und Zeitschriften. Dann stellten sie sich in einem Halbkreis auf, senkten ihre Köpfe und begannen rhythmisch, mit Pausen mit den Händen auf ihre mitgebrachten Lieblingsbücher zu schlagen, oder klatschten einfach nur. Passanten hielten an und versuchten zu verstehen, was da vor sich ging. Eine Minute später trugen zwei Menschen langsam und feierlich einen Pappsarg auf den Platz, auf dem das Wort „Demokratie“ geschrieben stand und von dem Trauerbänder herunterhingen. Sie schritten in das Zentrum des Halbkreises und stellten den Sarg mit dem Leib der Verblichenen darin auf die Erde. Das Klatschen brach sofort ab und machte einer Schweigeminute Platz.
Plötzlich erschienen auf dem Platz acht Personen in Milizuniformen. Einer von ihnen rannte auf Sarg zu, wuchtete ihn auf seine Schulter und machte sich davon. Die Teilnehmer der Aktion und die Journalisten standen einen Augenblick wie versteinert da, um dann, ungeachtet der Trauer, in lautes Lachen auszubrechen. Es war einfach unmöglich ernsten Gesichts dabei zuzusehen, wie ein Milizionär mit dem Sarg der Demokratie auf der Schulter davon rannte. Ihm wurde hinterher gerufen: „Bring die Verblichene zurück!“, doch vergeblich. Man hat die Demokratie geklaut. Und alle haben gesehen, wer es war. Die Teilnehmer der Aktion diskutierten kurz und entscheiden sich dann, das Begräbnis zu Ende zu bringen. Sie stellten sich hintereinander auf, so dass jeder dem Vordermann oder der Vorderfrau sein Hände auf die Schultern legte, und die Trauerprozession, der Breughelschen „Schlange“ gleichend, machte sich auf den Weg zum Koslow Wal (ein ehemaliger Verteidigungswall aus dem 12. Jahrhundert, der sich über dem Theaterplatz und dem Goldenen Tor erhebt). Dort, auf dem höchsten Punkt des Walls, wurden Kränze niedergelegt mit Schleifen „von der künstlerischen Intelligenz“, „von den unabhängigen Gewerkschaften“, „von der unabhängigen Presse“ und „von der Zivilgesellschaft“.
Sergej Birjukow (von der Gruppe „Vremja Tscha“) wandte sich an die Versammelten: „Man hat uns die Demokratie geklaut. Wir konnten sie weder verteidigen noch würdevoll beerdigen. Alles Geschehene ist symbolisch. Das herrschende Machtsystem, darunter das herrschende Wahlsystem, lassen keine Alternativen zu, sie vernichten die Opposition. Wir müssen selbst eine Alternative schaffen.“
Artjom Martschenkow (Journal für sozial aktive Jugendliche „DejLi“) sagte, damit die Beerdigungszeremonie beendend: „Es gibt zumindest drei Momente, die hervorzuheben sind. Erstens: Wir haben gezeigt, dass es in unserer Stadt junge Menschen gibt, die es wagen ihren Protest öffentlich zu äußern. Zweitens: Diese Aktion hat augenfällig gezeigt, dass in diesem Land ein System geschaffen wurde, dass jede wirkliche Opposition an den Rand drängt. Und Drittens: Unsere Befürchtungen. Viel mehr Leute hätten auf den Platz kommen wollen, aber gekommen sind nur die, die jetzt hier stehen. Um zu kommen, muss man seine Angst überwinden, sich selbst zwingen. Dieser Schritt ist eine Antwort auf die Frage, wer wir sind. Damit verbinde ich meine Hoffnung auf die Wiedergeburt der Demokratie.“
Nach diesen Worten wurden den Trauerkränzen Blumen hinzugefügt und die trauernde Jugend ging langsam auseinander, dabei darüber debattierend, wo sich der Sarg mit dem Leib der Demokratie sich denn nun befinde, und darüber ob jene, die ihrem Ableben Vorschub geleistet haben, sie wirklich beerdigen können.
P.S.: In den regionalen Nachrichtensendungen wurde die Meldung über den Skandal bei der Beerdigung direkt nach dem Bericht über die regionale Wahlkommissionssitzung gesendet. Die Kommentare der Journalisten waren auf Seiten der Aktionsteilnehmer, aber die Bilder des mit dem Sarg weglaufenden Milizionärs und die Schreie „bringt die Verblichene zurück!“ waren beredter als jeder Kommentar.
Folgendes Flugblatt wurde am 10. März während der Aktion in der Bezirksstadt Wladimir, rund 200 Kilometer östlich von Moskau, verteilt:
Flugblatt „14. März – Begräbnis der Demokratie“
Staatliche Macht reproduziert nur sich selbst – das ist ihre Hauptfunktion. Für eine zivile Kontrolle der staatlichen Macht gibt es die demokratischen Institute. Eines dieser Institute sind Wahlen, die eine freie Willensbekundung der Bürger voraussetzen. Allerdings ist die im heutigen Russland aufgebaute „Vertikale der Macht“ oppositioneller Kritik gegenüber unduldsam. Sie verhindert jegliche politische Alternative, predigt eine Kultur der Gewalt und erzeugt eine Atmosphäre der Angst und der Heuchelei. Wir müssen uns von der Hypnose der Polittechnologen befreien! Lasst es nicht zu, dass eurer Wahl Grenzen gesetzt werden! Unser Horizont ist weiter als das, was uns der Staat anbietet!Es ist Wirklichkeit, die sich nicht verdecken lässt:
- Ein langjähriger und verbrecherischer Krieg in Tschetschenien.
- Die Schließung oppositioneller Massenmedien
- Willkür der Miliz und andere Machtorgane
- Abschaffung des Föderalismus
- Ein ungerechtes Zivildienstgesetz
- Das Anwachsen neuer Kontrolltechnologien unter dem Schirm der „Antiterrorkampagne“, die leicht in Technologien totaler Kontrolle umgewandelt werden können
- Ideologisierung der Geschichte, das Aufzwingen von Alternativlosigkeit wie sie zu deuten ist
- Aufrufe zur Wiedergeburt des Patriotismus – in Form einer nationalistischen Großmachtideologie
- Angriffe auf kostenlose Medizin und Bildung
- Das Fehlen eines offenen und öffentlichen Dialogs zwischen Staat und Gesellschaft
- Wirklicher Dialog wird durch Spektakel wie „offene Telefonlinien“ und durchchoreographierten „Treffen mit Wählern“ ersetzt
- Das Bürgerforum wird als echte Errungenschaft gepriesen, hat in Wirklichkeit aber nichts geändert
- Das elektronische Wahlsystem „GAS“ befindet sich vollständig unter der Kontrolle der Geheimdienststruktur „FAPSI“, ist völlig unzugänglich und nicht kontrollierbar
- Ohne jede Scham wurden bei den Dumawahlen die administrativen Ressourcen eingesetzt
- Die Abschaffung des Staatskomitees für Umweltschutz und des Föderalen Walddienstes, der beiden wichtigsten Umweltschutzbehörden Russlands
- Durch die Duma verabschiedete Gesetze, die Russland in eine internationale Atommüllkippe verwandeln
- Antiökologische Reform des „Waldkodex“, der die Möglichkeit den Wald zu schützen stark einschränkt
- Die Weigerung, das Kyoto-Protokoll zu unterschreiben, das dazu beitragen soll, die Klimaerwärmung zu stoppen