Übersetzung: Jens Siegert
Nesawissimaja Gaseta: Herr Koenigs, wie bewertet die Bundesregierung die Situation der Menschenrechte in Russland?
Tom Koenigs: Zu dieser Bewertung haben wir Informationen aus vielen Quellen, vom Europarat, der UNO, von russischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen ebenso wie aus unserer Botschaft in Moskau, die aktive Kontakte mit russischen staatlichen Stellen und zivilgesellschaftlichen Organisationen pflegt.
Offen gesagt, gibt es viele Klagen. Ein ganzer Komplex von Beanstandungen kommt im Zusammenhang mit dem Krieg in Tschetschenien. Es ist offensichtlich, dass dort eine große Zahl von Menschenrechtsverletzungen geschehen und dass die Schuldigen selten oder zumindest nicht immer vor Gericht gestellt und entsprechend bestraft werden. Daneben ensteht der Eindruck, dass Tschetschenien die Situation in ganz Russland „infiziert“. Deshalb sind wir sehr besorgt, dass der Kampf gegen den Terrorismus in mancher Beziehung die Menschenrechte mehr bedroht als der Terrorismus selbst.
NG: Das heißt, Ihrer Meinung nach werden die Menschenrechte am stärksten im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Terrorismus verletzt?
TK: Ich rede von Besorgnis, die sich auf Informationen stützt. Wir haben viele Anfragen von Menschen, die vor Gericht keine Gerechtigkeit erfahren haben, obwohl ihre Rechte verletzt wurden. Besondere Beunruhigung lösen Fälle aus, in denen Menschen, die sich an den Menschenrechtsgerichthof in Straßburg gewandt und dort Unterstützung gefunden haben, danach zu Hause Repressionen ausgesetzt waren: Sie verschwanden, wurden umgebracht oder wurden anderweitig unterdrückt. Das führt dazu, dass ein so wichtiges Instrument wie der Menschenrechtsgerichtshof seine Wirkung verliert.
Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit erfüllen uns mit der großen Befürchtung, dass die im Rahmen des Tschetschenienkriegs von der Armee, der Polizei oder dem FSB angewandten Methoden auch in das übrige Russland „einsickern" und dort nicht verurteilt und bestraft werden. Auf die Menschenrechtsorganisationen wird unter anderem mittels der Steuergesetzgebung Druck ausgeübt. Im übrigen sind wir der Meinung, dass die Zivilgesellschaft in einer Reihe mit der Verfassung und den Gerichten eine sehr wichtige Wächterin für die Menschenrechte ist. Außerdem gibt es in der russischen Presse und besonders im Radio und im Fernsehen immer mehr die Regierung unterstütztende Programme und immer weniger oppositionelle. Im Ergebnis schwächt das die Kontrollfunktion der Massenmedien. Solche Tendenzen beobachten wir mit großer Besorgnis.
Natürlich haben im Vergleich zu vor zwanzig Jahren in Russland grundsätzliche Reformen staatgefunden, und man hat große Verbesserungen erreicht. Aber in den vergangenen Jahren hat sich die Reformentwicklung ein wenig festgefahren.
NG: Die deutschen Massenmedien haben mehrfach auf die Unterschiede zwischen dem Kanzler und dem Außenminister in ihrem Zugang zu Russland aufmerksam gemacht. Was denken Sie darüber?
TK: Herr Fischer besteht, wenn er über Russland redet, immer darauf, denjenigen Organisationen, die viel für Glasnost und Perestroika tun können, die Handlungsfreiheit zu geben, die notwendig ist, um Reformen in der Gesellschaft zu fordern und voranzutreiben. Wenn diese Freiheit unterdrückt wird, schwieriger gemacht wird oder die Gesellschaft stärker „vertikalisiert" wird, dann ist das immer eine Bedrohung für die Menschenrechte. In dieser Hinsicht ist der deutsche Außenminister immer sehr wachsam. Das hängt damit zusammen, dass er intensiv mit solchen internationalen Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch zusammen arbeitet, aber auch damit, dass wir sehr gute Kontakte zu russischen Menschenrechtlern haben und sehr aufmerksam hinhören, was Menschen dazu bringt, in Deutschland um Asyl zu bitten.
Ich denke, dass die unterschiedlichen Bewertungen, über die Sie reden, damit erklärt werden können, dass die Beziehungen zwischen den Menschenrechten auf der einen Seite und der wirtschaftlichen Entwicklung auf der anderen Seite von Herrn Fischer anders gesehen wird. Das liegt unter anderem daran, dass er der Grünen Partei angehört. Der Außenminister ist der Meinung, dass man den Menschnrechtsfragen sehr große Bedeutung beimessen muss, und deshalb darf dieses Thema bei diplomatischen Treffen mit seinem Kollegen oder dem russischen Präsidenten nicht unberührt bleiben.
NG: Und für den Kanzler ist so ein Akzent auf die Menschenrechte nicht notwendig, oder gibt es da eine Art Arbeitsteilung?
TK: Natürlich gibt es hier eine Arbeitsteilung, aber es gibt hier auch Meinungsunterschiede.
NG: Herr Koenigs, warum erinnert man sich in Berlin angesichts dieser Aufmerksamkeit für die Menschenrechte nicht an die Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung in den baltischen Staaten?
TK: Das ist ein Problem, das in den Institutionen der EU wahrgenommen wird. Dort gibt es Programe und Institute, die sich mit den Fragen von Minderheiten und Diskriminierung beschäftigen. Der Schutz von Minderheiten in der EU ist stärker als im Europarat oder in jedem einzelnen Land. Im Umgang mit möglichen Konflikten in den Staaten der Europäischen Union gibt es also die notwendigen Instanzen und Gesetze.
NG: Das ist aber trotzdem nicht ganz verständlich: Wenn es um Menschenrechte in Russland geht, werden Sie aktiv. Wenn aber in Lettland oder Estland was passiert, verweisen Sie auf Brüssel. Warum sagt Ihr Außenministerium den Regierungen in Riga und Tallin nicht direkt: So geht das nicht, ihr verletzt die Menschenrechte?
TK: Nein, wir sind gleich aktiv! Wir haben zum Beispiel die von Russland bei der Kommission für Menschenrechte eingebrachte Resolution unterstützt. Aber wir gehen davon aus, dass es für die Lösung der erwähnten Konflikte ausreichend Instanzen in der EU gibt. Wenn sich zeigt, dass das nicht ausreicht, dann wird sich mit dem Problem noch intensiver beschäftigt.
Menschenrechtsverletzungen gibt es in allen Ländern. Und wir haben, ich wiederhole das, Institute, sich mit ihnen zu befassen. An die kann sich eine Minderheit aus jedem EU-Staat wenden, die baltischen Staaten eingeschlossen. Aber Beschwerden über solche Menschenrechtsverletzungen wie in Tschetschenien gibt es bei uns aus Estland nicht.
NG: Heißt das, dass es Menschenrechte und Menschenrechte gibt?
TK: Natürlich nicht. Aber es gibt himmelschreiende Menschenrechtsverletzungen, die, obwohl Menschenleben bedroht sind, nicht von den gesetzlichen Instanzen behandelt werden. Und die Leidtragenden bleiben ohne Schutz. Und dann gibt es Menschenrechtsverletzungen, für deren Behandlung gibt es Instrumente und entsprechende Bedingungen, die helfen Gerechtigkeit zu finden. Soweit ich informiert bin, hat die Minderheit in den baltischen Staaten sehr wohl die Möglichkeit, sich der entsprechenden Rechtswege zu bedienen.
NG: Sie sind vor vergleichweise kurzem Beauftragter der deutschen Bundesregierung für Menschenrechte und humanitäre Hilfe geworden. Ist der Besuch in Russland Ihre erste Auslandsreise in diesem Amt? Mit wem haben Sie sich getroffen? Zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen?
TK: Ich war schon in ganz unterschiedlichen Ländern, zum Beispiel in denen, die von dem katastrophalen Tsunami im Dezember vergangenen Jahres betroffen waren. In China habe ich an einem Menschenrechtsdialog teilgenommen. Außerdem war ich in einer Reihe europäischer Länder.
Hier habe ich mich vor allem mit meinem Kollegen Wladimir Lukin ausgetauscht. Es gab Treffen in der Staatsduma und ebenfalls Gespräche mit Vertretern verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen, wie Memorial, dem Komitee der Soldatenmütter und der Moskauer Helsinki Gruppe.
In wenigen Tagen kann man sich keine vollständige Vorstellung von der Situation in Russland machen. Mir hat sehr gefallen, dass das Gespräch über bestehende Probleme und Reformen offen geführt wird und dass zivilgesellschaftliche Organisationen ernst genommen werden. Es ist offensichtlich, dass die offiziellen staatlichen Stellen an der Einbeziehung der Bürger und ihrer Organisationen in diese Entwicklung interessiert sind. Das halte ich für eine gute Sache. Obwohl ich auch Schwierigkeiten sehe, den guten Willen in Handlungen und Institutionen umzusetzen und ihnen dann auch noch Geltung nicht nur in der Hauptstadt sondern im ganzen Land zu verschaffen. Das ist natürlich kein sehr leichter Prozess.
Es bleibt der Eindruck, dass das Parteiensystem vorerst noch relativ schwach ist. Gerade wurde ein Gesetz angenommen, das die Barriere zum Einzug ins Parlament auf 7 Prozent anhebt und die Parteienlandschaft wohl noch weiter ausdünnt. In Deutschland würde eine solche Maßnahme eventuell meiner Partei, also den Grünen, den Einzug in den Bundestag verwehren, und das finde ich natürlich nicht gut. Das Element der „Vertikalisierung" geht meiner Ansicht nach nicht in die richtige Richtung, denn ich denke, dass Reformen nur bei einer breiten Beteiligung der Bürger erfolgreich sein können.
Es gibt nicht wenige Menschen, die befürchten, dass die russische Demokratie zu sehr eine nur auf den Präsidenten zugeschnittene werden könnte, also eine gelenkte Demokratie, die viel zu schwach „von unten“ wächst. Wir schauen uns das mit Interesse an, aber teilweise auch mit Besorgnis. Aber wir werden auch in Zukunft sowohl mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenarbeiten als auch selbstverständlich mit den offiziellen russischen Stellen, um an der Entwicklung und Stärkung von Bedingungen mitzuwirken, die die Einhaltung der Menschenrechte gewährleisten.
NG: Wenn es als Resultat der vorzeitigen Bundestagswahlen in Berlin zu einem Machtwechsel kommt, muss man dann erwarten, dass die neue Regierung in der humanitären Sphäre eine härtere Haltung Russland gegenüber einnimmt?
TK: Das glaube ich nicht. Allerdings ist es noch zu früh darüber zu reden, was bei den Wahlen geschieht. Ich denke, dass die Politik der jetzigen sehr ähnlich bleibt. Ich nehme an, dass selbst bei einem Regierungswechsel das Bestreben zu sehr intensiver Zusammenarbeit bestehen bleibt, aber gleichzeitig, das persönliche Wissen z. B. von Angela Merkel vom System der DDR eingerechnet, auch die Kritik an Menschenrechtsverletzungen fortgesetzt wird.