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Rede von Claudia Roth vor dem Deutschen Bundestag

Lesedauer: 5 Minuten
Claudia Roth. Quelle: bundestag.de. Diese Rede erschien zunächst auf gruene-bundestag.de.

13. November 2003
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Russland ist auch ohne die EU-Mitgliedschaft ein großes europäisches Land. Seine und die Geschichte der Beziehungen zu anderen Ländern Europas – auch zu Deutschland – haben gezeigt, dass es uns alles andere als gleichgültig sein kann, was dort geschieht. Lieber Friedbert Pflüger, es ist uns auch alles andere als gleichgültig, was dort geschieht.

Schon seit Gorbatschow 1985 Perestroika und Glasnost verkündete, keimte im Westen, aber vor allem auch in der russischen Gesellschaft die Hoffnung auf eine freiere Gesellschaft, auf Rechte für jeden und jede auf, darauf, dass nicht jeder Mensch wie selbstverständlich Eigentum des Staates ist. Jede Entwicklung zu Wohlstand – auch das ist etwas Neues für die meisten Menschen in Russland – setzt eine funktionierende Wirtschaft voraus. Dazu gehören die Anerkennung ökonomischer Gesetze und die Respektierung der individuellen Unabhängigkeit und Integrität, kurz: der Menschenrechte und des Rechtsstaates. Auch das alles ist in Russland neu.

Seit Gorbatschow – fortgesetzt durch Jelzin und Putin – begann all das Bedeutung zu erlangen und immer mehr Menschen in Russland begannen, ihre Rechte ernst zu nehmen, sie selbstbewusst einzuklagen und sich so zu verhalten, wie es Menschen mit ihren unveräußerlichen Rechten eben zu Recht tun. Nach außen – auch in unsere Richtung – versicherten die Mächtigen ihr Bestreben, die politisch-bürgerlichen Freiheitsrechte und die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte zu verwirklichen und zu garantieren, um damit die russische Gesellschaft bzw. Russland überhaupt zukunftsfähig zu machen.

Wir sollten sie darin ernst nehmen. Wir sollten sie beim Wort nehmen. Deshalb stimme ich der Kritik der EU-Kommission an den unakzeptablen Äußerungen Berlusconis anlässlich des EU-Russland-Gipfels ausdrücklich zu:

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Russland ist noch längst kein Rechtsstaat. Die Tsche-tschenienpolitik der russischen Regierung ist falsch. Die dortigen Wahlen waren eine Farce. Nicht nur tschetschenische Terroristen, sondern auch russische Sicherheitskräfte verüben dort Verbrechen. Wer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, wer die bedrückende Situation der Flüchtlinge, wer die Realität in Tschetschenien, die Menschenrechtsverletzungen, als Märchen der Medien diskreditiert, verhöhnt die Opfer und zeigt sein gespaltenes Verhältnis zur Unabhängigkeit der Presse.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Eine Farce ist aber keine politische Lösung. Die scheinbare Übertragung der Verantwortung für eine falsche Politik auf eingesetzte Kollaborateure entbindet die russische Regierung nicht von ihrer Verantwortung und der Notwendigkeit einer politischen Lösung, die die Menschen in Tschetschenien einbezieht, um überhaupt Aussicht auf Erfolg zu haben. Es ist tatsächlich im ur-eigenen Sinne Russlands, politische Lösungen zu suchen, weil dieser Krieg das ganze Land verändert.

Der Zusammenhang zwischen Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechten und Wirtschaft spielt im heutigen Russland und für die gegenwärtigen Vorgänge um den Oligarchen Chodorkowski eine wichtige Rolle. Der für uns eher merkwürdige Vorgang eines gemeinsamen offenen Briefes an Putin von mehreren, auch mittelständischen Wirtschaftsverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen – von Menschenrechtsgesellschaften wie MEMORIAL bis zu Verbraucherschutzverbänden – zeigt das.

Was aber verbündet diese hierzulande traditionell eher in distanziertem Misstrauen zueinander stehenden Interessengruppen? Natürlich ist der bisherige Jukos-Chef ein Oligarch. Zweifellos hat er seinen Reichtum nicht nur legal erworben. Niemand, so sagt der Vorsitzende der Gesellschaft MEMORIAL, kann in Russland die Steuergesetze einhalten, auch MEMORIAL nicht. Für ihn stellen sie ein ganz spezielles politisches Instrument dar, das Missbrauch Tür und Tor öffnet und jede juristische Person erpressbar machen und unter Druck setzen kann. Nicht zuletzt mit ihrer Anwendung wurde allen unabhängigen elektronischen Medien die Existenzgrundlage entzogen.

(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Richtig!)

Nicht jedoch um die Rechtfertigung des Milliardärs Chodorkowski geht es. Auch den Menschenrechtsgruppen in Russland ist er nicht besonders sympathisch. Es geht um etwas anderes. Es geht um den Kampf um das Recht, vom Staat und seinem Willen unabhängig handeln zu können.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Dafür, das getan zu haben, dafür, dass er soziale Aufgaben als Pflicht eines Unternehmers ansah und dass er andere Parteien als die der Macht unterstützte,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der CDU/CSU)

wurde der Bürger Chodorkowski verhaftet, begleitet von gefährlich antisemitischen Tönen. Niemand bestreitet das ernsthaft in Russland.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der CDU/CSU)

Das ist der Grund für das Bündnis zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft in Russland. Ihr gemeinsames Ziel ist ein Gesellschaftsvertrag zwischen ihnen und der politischen Macht, der die Unternehmen auf Gesetzestreue und soziale Verantwortung verpflichtet und die Respektierung der Rechte des Einzelnen garantiert.

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das hört sich aber anders als bei Schröder an!)

Putin hat den Vorschlag für einen Gesellschaftsvertrag bisher leider schlichtweg abgelehnt. Wir jedoch sollten diesen Vorschlag ausdrücklich unterstützen. Er enthält den Kern unserer Vorstellungen vom Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft. Eine solche soll und muss Russland werden. Auf diesem Weg wird Russland all unsere Unterstützung bekommen.
Am Konzept einer so genannten gelenkten Demokratie haben wir dagegen erhebliche Zweifel; denn dies ist im Grunde die modernisierte Variante des autoritären Staates, der in Russland schon eine lange und verhängnisvolle Tradition hat. Das laut zu sagen ist unsere demokratische Verantwortung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU)

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