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Kaukasus: Grenzerfahrung Russland

Der Autor Martin Kaul studiert in Dresden Internationale Beziehungen. Er hat ein Auslandssemester in Petersburg verbracht und für die letzten 3 Monate ein Praktikum im Menschenrechtszentrum der Nichtregierungsorganisation „Memorial“ in Moskau gemacht. Dort beschäftigte er sich in der Abteilung „Brennpunkte“ mit der Situation in Regionen wie Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan. Als praktischer Abschluss seines Praktikums machte er einen Ausflug für ein paar Tage in die Region selbst.

27. Mai 2005
Von Martin Kaul, Praktikant bei Memorial
Von Martin Kaul, Praktikant bei Memorial

Inguschetien, im März 2004

„Haben Sie das auch auf Russisch?“ Spätestens mit dieser Frage der Kontrolleurin zu meinem deutschen Pass wird mir klar, dass anscheinend nicht viele Ausländer die Strecke von Moskau nach Nazran in Inguschetien mit dem Zug bereisen. Nur wenige haben vermutlich Lust auf 2.000 Kilometer und 38 Stunden Zugfahrt. Immerhin reist man zu studentenfreundlichen Kosten von 15 Euro für das Ticket, kann das Gefühl genießen, viel Zeit zu haben: Zum Teetrinken, Leute kennen lernen, lesen – und die unglaubliche Weite Russlands kann man nur im Zug annähernd begreifen. Auch Journalisten, die auf offizielle Armeetouren durch Tschetschenien lieber verzichten, wählen Nazran als Ausgangspunkt für illegale Ausflüge in das nur 60 km entfernte Grosny oder andere Orte in der umkämpften Republik.

„Na, Sie wollen wohl zum Wandern in die Berge?“ fragt die ältere Dame auf dem Platz neben mir mit Blick auf meinen imposant großen Wanderrucksack. Da meine Mitreisenden schon nach wenigen Minuten den Eindruck machen, als würden sie sich seit Jahren kennen, erzähle ich in den nächsten Stunden etwas mehr über meine Pläne, obwohl mir nahe gelegt wurde, mit Informationen zu mir und meiner Reise recht vorsichtig umzugehen. Nach einiger Zeit kommt die Pass-Kontrolle. Die Milizionäre prüfen ausführlich meine Papiere, fragen nach meinen Reiseplänen, studieren das Dokument, das mir Memorial für diesen Fall gegeben hat – und wünschen mir anschließend überraschend freundlich interessante Erfahrungen.

An einem Freitagmorgen erreichen wir Nazran. Mit 120.000 Einwohnern ist Nazran die bedeutendste Stadt der 460.000-Einwohner-Republik, die nur etwas größer als das Saarland ist. Das hauptsächlich muslimische Inguschetien liegt im nördlichen Kaukasusvorland, direkt östlich von der Unruheregion Tschetschenien, die inzwischen ein Sicherheitsproblem für die kleine Republik geworden ist. Auch der Konflikt Anfang der 90er-Jahre zwischen Inguschetien und dem überwiegend christlichen Nord-Ossetien um den Bezirk Prigorodny, einem kleinen Gebiet an der Grenze zwischen den beiden Republiken, schwelt weiter.

Der Blick auf die Berge ist atemberaubend, das Wetter scheint gut zu werden, wir sind so weit im Süden, dass kein Schnee mehr liegt. Sehr schön. Nur leider ist von dem Fahrer der Nichtregierungsorganisation „Memorial“ am Bahnhof nichts zu sehen.

Aus Moskau wurde die strikte Sicherheitsanweisung gegeben, in Nazran keinen Schritt alleine zu tun. Also warte ich in der menschenleeren Wartehalle des Bahnhofs. Zwei junge Russen kommen herein. Nach einer Weile fragen sie, wo ich hin wolle. Freundlich lasse ich sie wissen, dass ja jeder so seine eigenen Angelegenheiten zu erledigen habe und ich lieber nicht darüber sprechen möchte. Das finden sie nicht so gut. Trotzdem unterhalten wir uns länger. Als sie sich auf ihrem Weg nach Grosny verabschieden, geben sie mir noch den guten Rat, das nächste Mal besser nicht zu versuchen, ein Gespräch abzuwehren – „Es gibt hier Leute, die töten dich dafür.“

„Hier gibt es andere Regeln“

Nach einigen Stunden Warten auf den Fahrer wird die Situation am Bahnhof immer unangenehmer. Obendrein wird die Miliz aufdringlich. Die ersten zwei Kontrollen geben sich noch mit bloßem Passzeigen zufrieden, stellen ein paar Fragen, tragen meine Daten in alte Bücher ein und kehren dann wieder zum Spiel mit verschiedenen Handyklingeltönen zurück. Dann jedoch dieser Mann in Zivil: „Na, wo soll es denn hingehen? Ihre Dokumente, bitte!“ Nachdem ich mir erstmal die seinigen zeigen lasse, sagte er, er hätte erfahren, dass sich hier am Bahnhof ein Ausländer befände, bei dem die Kontrolle lohnen würde.

Wie schon im Zug, zeigt sich auch hier, wie hilfreich jede Art von offiziell aussehendem Dokument mit Milizionären in Russland sein kann. Das Moskauer Schreiben, in dem meine geplanten Aktivitäten in Inguschetien angegeben sind, wirkt sofort. Ich sei ja kein Dummkopf und würde eine Menge vom Kaukasus verstehen; er selbst gibt sich als tschetschenischer Flüchtling aus. Ich frage ihn, wo und wie man eine funktionierende Handykarte bekommen könne. Schon in Städten wie Petersburg und Moskau wird das Kaufen einer Handykarte ohne Registrierung zu einem schwierigen Unterfangen. Der Mann mit dem beeindruckenden Ausweis irgendeiner Abteilung des Innenministeriums antwortet mit einem Lächeln: „Du bist hier im Kaukasus. Hier gibt es andere Regeln.“

Nachdem ich vergeblich fünf Stunden am Bahnhof gewartet habe, gehe ich gemeinsam mit einigen Einheimischen die Gleise entlang, um in den Geschäften die Handykarte zu kaufen. Plötzlich, an der Straße angelangt, hält ein weißer Van mit dunklen Scheiben neben mir, Leute springen heraus. Unwillkürlich muss ich an die vielen Berichte über Dutzende Entführungsfälle im letzten Jahr in Inguschetien denken. Daher arbeite ich mich zügig an den vielen Menschen vorbei, die mich mehr als interessiert anschauen, und gehe in einen der Handyläden. Hier möchte man meinen Pass noch nicht einmal sehen. In telefonischen Beruhigungs- und Rechtfertigungsversuchen gegenüber den Kollegen in Moskau verspreche ich meine sofortige Rückkehr zum Bahnhof, um dort die Mitglieder von Memorial zu erwarten. Ramzes, ein junger Mann aus dem Handyladen , führt mich zurück zum Bahnhof und erzählt mir, sein Vater habe weite Teile der Stadt in der Hand. Sein Fahrer fährt währenddessen zu dem Büro von Memorial und gibt Bescheid, dass ich angekommen bin. Am Bahnhof angelangt, werde ich dann von meinen Kollegen aus Nazran erwartet. Wie sich herausstellt, haben wir uns am Morgen übersehen.

Im Büro von Memorial geht es sofort an die Arbeit. Zwei deutsche Journalisten interviewen zwei Tschetschenen, deren Angehörige entführt wurden. Die beiden erzählen von ähnlichen Ereignissen wie sie schon so oft in Berichten im Moskauer Büro zu lesen waren. Meist mitten in der Nacht kommt eine Wagenkolonne vorgefahren, bewaffnete und oft maskierte Männer verschaffen sich Zutritt zum Haus, durchsuchen Haus und Garten nach Waffen und nehmen den Mann und/oder Sohn mit. So oder auf ähnliche Weise, wurden im vergangenen Jahr mehr als 411 Menschen in Tschetschenien entführt, in Inguschetien waren es einige Dutzend. Manche werden anschließend tot aufgefunden, einige werden freigelassen oder freigekauft, die meisten jedoch sieht man einfach nie wieder. Einer der Tschetschenen, ein älterer Mann mit braungebrannter Haut, beklagt sich, dass man sich an ausländische Medien richten muss, um überhaupt Aufmerksamkeit zu bekommen und sagt, wie dankbar er doch gleichzeitig für die Hilfe ist. Er beschreibt den besonderen Schmerz, den er tagtäglich empfindet, wenn er zwischen Miliz, Prokurator und anderen Stellen umherläuft, abends nach Hause kommt und es doch nichts Neues über seinen 21-jährigen Sohn gibt. Hilfe von russischer Seite bekommt er keine. „Sogar der Prokurator sagt mir, dass er Angst vorm FSB (Ex-KGB) habe.“ Die Tschetschenin neben ihm behauptet sogar, sie wüsste, in welchem Gefängnis ihr Mann festgehalten würde. Doch dort kann sie nicht einfach hin. Das Gefängnis befindet sich in einer der Hochburgen von Ramzan Kadyrov, ein warlord und gleichzeitig Vizeministerpräsident Tschetscheniens. „Ich habe vier Kinder. Was wird, wenn sie mich dann auch einfach mitnehmen?“

Alfon, ein inguschetischer Mitarbeiter von Memorial in Nazran, erzählt etwas über einen der anderen Krisenherde der Region. Im Umbruch der frühen 90er-Jahre in Russland und als Nachbeben der Deportation von Tschetschenen, Inguschen und sechs anderen kaukasischen Völkern durch Stalin am 23. Februar 1944, kam es im Herbst 1992 zu fünftägigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Inguschetien und Nordossetien, der christlichen Republik im Südosten von Inguschetien. Laut offiziellen Angaben sollen ca. 600 Menschen ums Leben gekommen sein.

Auslöser für den Territorialkonflikt war ein Moskauer Erlass zur Rehabilitierung unterdrückter Völker. Darin räumte die russische Regierung im Frühjahr 1991 zumindest theoretisch die Möglichkeit ein, im Zuge der Rehabilitierung die Grenzen von autonomen Republiken und Gebieten zu verändern. Die inguschetische Republik forderte, wie auch die inguschetische nationale Minderheit in Nordossetien, die Angliederung des historisch inguschetischen Prigorodny-Bezirkes an die gerade entstandene Republik Inguschetien. So eskalierten Ende Oktober 1992 die seit dem Frühjahr 1991 sporadisch andauernden Kämpfe in der autonomen russischen Föderationsrepublik Nordossetien zwischen den bewaffneten Kräften der inguschetischen nationalen Minderheit und nordossetischen Truppen um den Bezirk Prigorodny.

„Ich kann dir einige dieser Dinge nur als Privatmann erzählen, nicht als objektives Mitglied von Memorial“, sagt Alfon. Aus der inguschetischen Perspektive spricht er von dem ewig benachteiligten Volk der Inguschen. Er berichtet, wie man in Nordossetien die Kämpfe geplant habe, dass die Nordosseten sogar Panzer hatten, die Inguschen hingegen nur leichte Waffen und wie die anrückenden russischen Schlichtungstruppen sich auf die Seite der Nordosseten geschlagen hätten. Zwischendurch kommen ihm Tränen in die Augen. Putin hatte nach dem Anschlag auf die Schule im nordossetischen Beslan das christliche Nordossetien als den „Vorposten Russlands im Kaukasus“ bezeichnet. Alfon beschreibt, wie wütend ihn die herablassende Haltung des Kremls gegenüber Inguschetien und Tschetschenien macht. „Dadurch wird Russland den Kaukasus verlieren“, sagt er. „Nicht in den nächsten Jahren, doch du wirst es noch erleben.“

In ihrem Budget haben Hilfsorganisationen für inguschetische Flüchtlinge keinen Platz

Wie sehr der Konflikt zwischen Inguschetien und Nordossetien nicht nur in Russland verdrängt wird, sondern auch im Ausland vergessen ist, erfährt man am nächsten Morgen im inguschetischen Flüchtlingslager Maiskii. Zwischen den zwei Republiken Nordossetien und Inguschetien gelegen, fühlt sich niemand so richtig zuständig für die mehr als 6.000 hier lebenden Flüchtlinge. So wird ihnen in ihren Bretterbuden oft für lange Zeit Strom und Gas abgestellt. Im Flüchtlingslager gibt es keine medizinische Versorgung und internationale Hilfe kommt nur sehr sporadisch, da internationale Hilfsorganisationen die inguschetischen Flüchtlinge seit mehr als zehn Jahren nicht in ihr Budget aufnehmen. Für die Sicherheit des Lagers ist ein einziger Milizionär zuständig.

Die Verwaltung für das Lager sitzt in der Hauptstadt Nordossetiens, Vladikavkaz, was übersetzt „Beherrsche den Kaukasus“ heißt. Die Administration dort erkennt den Status des Lagers als Flüchtlingslager nicht an, unter anderem, weil es sich in einer Wasserschutzzone befinden soll. Digirov ist einer der inguschetischen Flüchtlinge des Lagers und lebt schon acht Jahre dort. Er erzählt, wie er eines Tages einfach mitgenommen wurde, drei Monate in einem Gefängnis verbracht hat und nie wieder in sein Zuhause zurückkehren konnte. Unter denjenigen, die ihn mitnahmen, waren seine Arbeitskollegen.

Arbeiten können die Flüchtlinge nur auf Gelegenheitsbasis. Magomed, ein anderer Flüchtling, muss seine Familie vom Kindergeld ernähren. Für seine vier Kinder sind das nicht viel mehr als acht Euro im Monat. Seine Frau zeigt ihren alten Pass aus Zeiten der Sowjetunion. Für einen neuen verlangen die nordossetischen Beamten 100 Dollar. Im Zimmer steht ein kleiner Gasofen, in dem eine kleine Flamme züngelt. „Das ist schon das Maximum, was wir an Gas zum Heizen bekommen. Oft gibt es für mehrere Wochen weder Gas noch Strom.“

Am Nachmittag gehen wir in ein tschetschenisches Flüchtlingslager. Auch wenn hier der russische Migrationsdienst, der für Flüchtlingshilfe zuständig ist, seine Hilfe hin und wieder für längere Zeiträume aussetzt, bekommen die tschetschenischen Flüchtlinge, im Unterschied zu den Inguschen, wenigstens noch etwas internationale Hilfe. Esambaeva, die gewählte Kommandantin des Lagers, wagt sogar ein paar politische Kommentare: „Ich lebe nun seit vier Jahren im Lager. Das Wichtigste für mich ist zuerst einmal Frieden in Tschetschenien, damit ich zurückkehren kann.“ Versuchen nach Europa zu gelangen will sie nicht. „Man hört so viel Schlimmes über die Auffanglager im Westen, besonders die Lager in Polen sollen furchtbar sein.“ Viele tschetschenische Lager in Inguschetien gibt es mittlerweile nicht mehr, die meisten wurden geschlossen. Die Tschetschenen sollen in das sich „normalisierende“ Tschetschenien zurückkehren. Viele wählen aus Sicherheitsgründen lieber den Westen.

Jedoch loben wiederholt die tschetschenischen Flüchtlinge die große Gastfreundschaft der Inguschen, die in den Tschetschenen ethnisch ein Brudervolk mit vielen Gemeinsamkeiten sehen. Nachdem die anderen Nachbarrepubliken während des zweiten Tschetschenienkrieges von 1999 an keine weiteren tschetschenischen Flüchtlinge aufgenommen oder sie sogar ausgewiesen haben, hat sich die inguschetische Bevölkerung durch die schätzungsweise 300.000 tschetschenischen Flüchtlinge zeitweise fast verdoppelt.

Warum es denn so schwierig sei, als Flüchtling in ein so reiches Land wie Deutschland aufgenommen zu werden, möchten einige Frauen von mir wissen...

Der nächste Tag, ein Sonntag, ist eine recht willkommene Zeit der Erholung. Vom Hotel darf man sich aber nicht entfernen. Auch beim abendlichen Bier vor dem Hotel in der Dämmerung wird einem angesichts der jungen, umherstreifenden, schwer bewaffneten Wachen etwas mulmig. Stattdessen gehe ich in das Restaurant des Hotels. Es ist ziemlich verlassen, in den Aquarien ist kein Wasser. Das Essen ist deftig, die Bierpreise studentisch. Die anderen einzigen Restaurantgäste laden mich zum Wodka ein. Es sind Timur, ein Ingusche und Berater eines Dumaabgeordneten und der noch viel betrunkenere Chef des Sicherheitspersonals des Hotels, Achmed. Nachdem Timur mehr als einmal versicherte, dass er besonders Deutsche achtet und schätzt und wir feststellen, dass wir sogar zwei Tage später im gleichen Flieger nach Moskau sitzen werden, sind wir ein paar Wodka später seiner Ansicht nach die besten Freunde. Timur nennt sich einen russischen Patrioten. Achmed faselt besoffen etwas von großartiger Sowjetunion, fast ebenso großartigem Saddam Hussein und versucht sich im weiter in Antiamerikanismus. Doch nicht einmal Timur scheint ihn sprachlich annähernd zu verstehen. Auch die Hotelbewacher in Tarnkleidung, die sich mit Maschinengewehren und Panzerfaust in ein Hinterzimmer begeben, scheinen von den Bierpreisen überzeugt zu sein und lassen sich ausreichend Getränke bringen. Achmed als ihr Chef steht auf, um sie kurz vorzustellen, stützt sich dabei in einer der Soßenschüsseln ab und stößt ein oder zwei Bier um. Die meisten von ihnen heißen auch Achmed.

Da man nicht häufig einen betrunkenen Parlamentsberater vor sich sitzen hat und Achmed nur gelegentlich vergeblich versucht, mich zum Tanzen zu kaukasischer Musik wegzuzerren, bietet sich eine ausgezeichnete Gelegenheit, einige politische Fragen zu stellen. Nach einer Phase des vorsichtigen Annäherns an das Thema sage ich ihm, dass ich gerne seine Meinung zu einer Aussage hätte, die ich in den letzten Tagen häufig gehört hätte: „Verliert Russland den Kaukasus?“ Timurs Gesicht wird schlagartig sehr ernst, seine Augen erstaunlich nüchtern. Seine Antwort muss er jedoch nicht lange überlegen: „Davon bin ich völlig überzeugt.“ Nachdem ich etwas überrascht nach einem möglichen Zeitraum frage, sagt er: „In den nächsten 5-10 Jahren.“

Am nächsten Tag ergibt sich die Gelegenheit, an Gesprächen von zwei Juristen mit Tschetschenen und Inguschen im Memorial-Büro teilzunehmen. Ein inguschetischer Bewohner des Flüchtlingslagers Maiskii erzählt deprimiert davon, wie er sich schon seit vier Jahren aufgrund des von Vladikavkaz verweigerten Wohnortsnachweises im Pass nur in der winzigen Republik Inguschetien bewegen kann. An den Blockposten zu den Nachbarrepubliken wird ihm gesagt: „Wenn du keine Probleme willst, geh fort!“ Ein Ratschlag den er besser befolgt, da sogar inguschetische Milizionäre in Beslan krankenhausreif geschlagen wurden – von ihren nordossetischen Kollegen. Leider erfahre ich auch, dass ich an meinem letzten Tag nicht nach Beslan fahren kann. Die Petersburger Mitarbeiterin im Nazraner Büro ist nicht in der Region und alle anderen können mich dort nicht hinbringen, da sie Inguschen oder Tschetschenen sind. Nach dem Terroranschlag in der Beslaner Schule, an dem auch einige Inguschen beteiligt waren, bekommt man auch keine Taxifahrer mehr von Nazran nach Beslan. Dabei sind es nur 20 Kilometer, die die Städte trennen. Der Hass vieler Menschen in Nordossetien auf Tschetschenen und Inguschen wurde durch Beslan weiter angestachelt; eines der vielen Beispiele, wie sich der langjährige Konflikt in Tschetschenien auf andere Teile Russlands in vielen Formen ausweitet – nicht nur auf die Nachbarregionen.

In einer Juninacht 2004 werden an die 100 Menschen in Inguschetien getötet

Stattdessen werde ich in die 2003 aus einem Kartoffelfeld gestampfte Hauptstadt Magas gefahren, die sich nur 5 Kilometer von Nazran entfernt befindet. Einige Inguschen scheinen nicht mitbekommen zu haben, dass sie eine neue Hauptstadt haben. Auch im Zug wurde mir Nazran von den Damen weiterhin als Hauptstadt dargestellt. Wenigstens haben in Magas Panzer und Einheiten der russischen Armee genügend Platz auf den umliegenden Feldern, um sich in nächster Nähe zu Präsidentenpalast, Parlament und Hauptsitz des FSB niederzulassen.

Angesichts der immensen Präsenz von Waffen und Blockposten in der Gegend und dem Bild der Panzerfaust im Hotel am vorigen Abend, kommt das Gespräch mit meiner Begleitung auf das Thema Sicherheit. Ob es denn nötig wäre, ein Hotel mit einer so großen Anzahl an Maschinengewehren und sogar einer Panzerfaust zu bewachen? „Naja, wenn noch mal so etwas wie im letzten Sommer passiert, wäre eine Panzerfaust ein bisschen zu wenig!“ In der Sommernacht vom 21. auf den 22. Juni 2004 haben bis zu 500 bewaffnete Kämpfer an verschiedenen Punkten der Republik Inguschetien Gebäude des Innenministeriums und Polizeistationen gleichzeitig angegriffen. Außerdem wurden Straßensperren errichtet, an denen sie Mitglieder der Sicherheitsstrukturen regelrecht hinrichteten. Die Umstände dieser Nacht, in der fast 100 Menschen ums Leben kamen, scheinen nicht völlig geklärt. Wahrscheinlich jedoch sind viele der Kämpfer von Tschetschenien aus in die Republik gekommen. Die Aufklärungsarbeiten gehen aber eher schleppend voran.

An verschiedenen Stellen der Straßen die wir abfahren weist der Fahrer auf vergangene Terroranschläge hin. Darunter ein Bombenanschlag auf den Präsidenten Murat Sjasikow im letzten Jahr und ein Sprengsatz auf einem Lastwagen im September – direkt neben dem Präsidentenpalast. Mögen die Menschen ihren Präsidenten aber im allgemeinen? Wie viele Gouverneure und Präsidenten im Kaukasus unter Putin ist der Fahrer ein früherer General des FSB. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass hier jemals ein Präsident gewählt wurde?“ antwortet er.

Einmal, am Fenster des Büros stehend, höre ich Schüsse ganz in der Nähe. Die Leute auf der Straße gucken sich kurz um, als ob jemand etwas gerufen hätte, und gehen dann weiter. Mir wird von den Säuberungsaktionen erzählt, die der FSB in der Stadt hin und wieder durchführt. Oft wird dabei ein Haus umstellt, der „Bandit“ im Innern möchte meist nicht herauskommen, schießt aus dem Fenster, was dann zu einem manchmal stundenlangen Beschuss des Hauses führt. Meist wird das Haus dann durch den Einsatz schwerer Waffen und Gerät dem Erdboden gleichgemacht. Die Vermieter bekommen jedoch keine Entschädigung. Sie haben selbst Schuld, wenn sie an „Banditen“ vermieten, sagen die Behörden.

Am Tag des Abflugs wartet Timur auf mich, ein paar Meter hinter der Kontrollzone des Flughafens. Er hatte dem Sicherheitspersonal eingebläut, man solle von dem Ausländer, der gleich komme, einfach nur wie üblich die Daten aufnehmen, ihn dann aber in Ruhe lassen – was wieder einmal zeigt, wie viel leichter das Leben in Russland mit Beziehungen und Bekanntschaften sein kann. Timur lädt mich auf ein warmes Bier. Er zeigt Fotos von sich mit dem inguschetischen Präsidenten, seinen Innenministeriumspass und gibt mir seine Kontaktdaten. Falls ich noch mal in die Gegend komme, sagt er. Ich frage, ob er gerne eine Telefonnummer von mir hätte. „Ist schon in Ordnung. Das könnte ich alles herausfinden, wenn ich wollte. Ruf mich einfach an, wenn du magst.“ Was er denn außer einer Telefonnummer sonst noch über mich in Erfahrung bringen könnte, möchte ich wissen. „So ziemlich alles ist möglich.“ Obwohl Timur bei dem Mittagsbierchen in ziemlicher Plauderlaune ist, habe ich das mulmige Gefühl, dass das Körnchen Wahrheit hier ein recht großer Brocken sein könnte.

Die BRD setzt auf Vertrauensbildung und den internen Dialog

Zwei Tage nach meiner Rückkehr aus dem faszinierenden, wunderschönen und doch so problembehafteten Kaukasus sitze ich in der deutschen Botschaft in Moskau, der immer noch größten deutschen Auslandsvertretung. Ich interviewe die für den Nordkaukasus zuständige Referentin zur Haltung Deutschlands bezüglich des Konfliktes in Tschetschenien und der Situation im Nordkaukasus.

Wir unterhalten uns über die recht unangenehme und schwierige Situation, in einem Flüchtlingslager vor tschetschenischen Flüchtlingen zu stehen, die einen zu der Politik seines Landes befragen. Sie sagt: „Zwar tangiert der Tschetschenienkonflikt auch die deutschen Interessen, (…) doch glaubt die Bundesregierung nicht an den Nutzen öffentlicher Anprangerung, sondern setzt auf Vertrauensbildung und den internen Dialog. (…) Die BRD verfolgt eine langfristige Russlandstrategie. (…) Russland darf sich nicht abkapseln und isolieren, sondern muss sich weiter öffnen. Das ist der richtige Weg“.

„Man sagt, dass der Kaukasus ein Ort ist, wo man ganz, ganz langsam auf die Stelle hauen muss, bis sich etwas bewegt“, sagt die Mitarbeiterin der Botschaft. „Ganz sicher ist es keine Region, wo man nur mit dem Finger schnippen muss.“

Dies den Frauen im Lager zu erklären wäre nicht sehr leicht gewesen.

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