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Fernsehansprache Wladimir Putins zum Geisel-Drama von Beslan

Lesedauer: 6 Minuten
Wladimir Putin beim Treffen im Operations Headquarter zur Geiselbefreiung in Beslan am 04. September 2004. Lizenz: frei.
Diese Rede erschien zunächst auf russisch und englisch auf kremlin.ru.

4. September 2004
Übersetzung: Jens Siegert, Moskau

Es ist schwer zu sprechen. Und bitter. In den vergangenen Tagen hat ein jeder von uns tief gelitten und das, was in der russischen Stadt Beslan geschah durch sein Herz gelassen. Dort hatten wir es nicht einfach nur mit Mördern zu tun, sondern mit denen, die ihre Waffen gegen schutzlose Kinder richteten.

Ich jetzt wende ich mich vor allem anderen mit Worten der Unterstützung und des Beileids an die Menschen, die das Wertvollste im Leben verloren haben - ihre Kinder, ihre Familienangehörigen und Nächsten.

Ich bitte darum, allen zu gedenken, die in den letzten Tagen von der Hand der Terroristen umgekommen sind.

In der Geschichte Russlands gab es nicht wenige tragische Seiten und schwere Heimsuchungen. Heute leben wir unter Bedingungen, die nach dem Zerfall eines riesigen, eines großen Staates entstanden sind. Eines Staates, der sich unter den Bedingungen einer sich schnell wandelnden Welt, leider, als nicht lebensfähig erwiesen hat.

Aber, ungeachtet aller Schwierigkeiten, ist es und gelungen, den Kern dieses Giganten, der Sowjetunion, zu erhalten. Und wir nannten unser neues Land Russische Föderation.

Wir alle erwarteten Veränderungen. Veränderungen zum Besseren.

Aber es stellte sich heraus, dass wir auf vieles, das sich in unserem Leben änderte, nicht vorbereitet waren. Warum?

Wir leben in den Bedingungen einer Transformationsökonomie und einem politischen System, das nicht dem Zustand und Niveau der gesellschaftlichen Entwicklung entspricht.

Wir leben unter den Bedingungen von sich verschärfenden inneren Konflikten und innerethnischen Widersprüchen, die früher garusam durch die herrschende Staatsideologie unterdrückt wurden.

Wir haben aufgehört, den Fragen der Verteidigung und Sicherheit die nötige Aufmerksamkeit zu schenken und haben der Korruption erlaubt, die Justiz- und die Polizeibehörden zu infizieren.

Darüber hinaus, sah sich unser Land, das einst das weltweit mächtigsten System zum Schutze seiner Außengrenzen hatte, von einer Stunde auf die andere sowohl von Westen wie auch von Osten ohne Schutz.

Zur Schaffung neuer, zeitgemäßer und wirklich geschützter Grenzen braucht es viele Jahre und Milliarden von Rubel.

Aber auch dabei hätten wir effektiver sein können, wenn wir rechtzeitig und professionell gehandelt hätten.

Alles in allem muss man eingestehen, dass wir kein Verständnis für die Komplexität und Gefährlichkeit der Prozesse gezeigt haben, die in unserem eigenen Land und in der Welt vor sich gehen. Jedenfalls haben wir es nicht geschafft, angemessen darauf zu reagieren. Wir haben Schwäche gezeigt.

Und die Schwachen schlägt man.

Manche wollen sich von uns ein fettes Stück abbeißen, andere helfen ihnen dabei. Sie helfen, weil sie davon ausgehen, dass Russland als eine der größten Atommächte immer noch für irgendjemanden eine Bedrohung darstellt. Deshalb müsse man diese Bedrohung beseitigen.

Und selbstverständlich stellt der Terrorismus nur ein Instrument dar, diese Ziele zu erreichen.

Wir hatten es, wie ich schon vielfach gesagt habe, oft mit Krisen, Aufständen und Terroranschlägen zu tun. Aber das, was jetzt geschehen ist, ist ein unmenschliches und in seiner Härte beispielloses Verbrechen der Terroristen. Das ist keine Herausforderung für den Präsidenten, das Parlament oder die Regierung. Das ist eine Herausforderung für ganz Russland. Für unser ganzes Volk.

Das ist ein Angriff auf unser Land.

[...]

Die Terroristen glauben, dass sie stärker sind als wir. Dass sie uns mit ihrer Grausamkeit einschüchtern können, unseren Willen lähmen und unsere Gesellschaft spalten können. Und es scheint als hätten wir die Wahl, ihnen entgegenzutreten oder sich mit ihren Ansprüchen abfinden. Sich zu ergeben, zu erlauben, dass unser Land zerstört und Russland „aufgeteilt" wird, in der Hoffnung, dass man uns am Ende in Ruhe lässt.

Als Präsident, als Oberhaupt des russischen Staates, als Mensch, der den Eid geleistet hat, das Land und seine territoriale Integrität zu schützen, und einfach als Bürger Russlands bin ich überzeugt, dass wir in Wirklichkeit einfach keine Wahl haben. Denn wenn wir es zulassen sollten, dass man uns erpresst und wir in Panik geraten, dann stürzen wir Millionen von Menschen in eine unendliche Reihe von blutigen Konflikten nach Art von Karabach, Pridnestrowien oder anderen gut bekannten Tragödien. Man darf das Offensichtliche nicht übersehen.

Wir haben es nicht einfach mit einzelnen Aktionen zur Einschüchterung und mit börartigen Ausbrüchen von Terroristen zu tun. Wir haben es mit einer direkten Intervention des internationalen Terrors gegen Russland zu tun. Mit einem totalen, grausamen und umfassenden Krieg, der immer und immer wieder die Leben unserer Landsleute kostet.

Alle Erfahrungen auf der Welt zeigen, dass solche Kriege leider nicht schnell zu Ende gehen. Unter diesen Bedingungen können und dürfen wir einfach nicht so sorglos wie bisher weiter leben.

Wir sind verpflichtet, ein wesentlich effektiveres Sicherheitssystem zu schaffen und fordern von unseren Rechts- und Sicherheitsbehörden Taten, die Art und Ausmaß der neu auftretenden Bedrohungen angemessen sind.

Aber das Wichtigste ist die Mobilisierung der Gesellschaft angesichts der allgemeinen Gefahr. Die Ereignisse in anderen Ländern zeigen: Auf die effektivste Gegenwehr stoßen die Terroristen gerade dort, wo sie es nicht nur mit der Macht des Staates, sondern gleichzeitig mit einer organisierten, solidarischen Zivilgesellschaft zu tun haben.

Verehrte Landsleute,

diejenigen, die die Banditen zu diesem schrecklichen Verbrechen beauftragt haben, haben es sich zum Ziel gesetzt, unsere Völker gegeneinander aufzuhetzen, die Bürger Russlands einzuschüchtern und eine blutigen Bürgerkrieg im Nordkaukasus zu entfesseln.

In diesem Zusammenhang möchte ich folgendes sagen:

Erstens: In nächster Zeit wird ein Maßnahmenbündel vorbereitet, das auf die Stärkung der Einheit des Landes gerichtet ist.

Zweitens: Ich halte es für nötig, ein neues System zur Koordinierung der Kräfte und Mittel zu schaffen, die für die Kontrolle der Lage im Nordkaukasus zuständig sind.

Drittens: Es muss unbedingt ein effektives Antikrisen-Verwaltungssystem zu schaffen. Das schließt prinzipiell neue Ansätze bei der Arbeit der Justiz- und Sicherheitsbehörden mit ein.

Ich betone besonders: Alle diese Maßnahmen werden in voller Übereinstimmung mit der Verfassung unseres Landes durchgeführt werden.

Liebe Freunde,

wir durchleiden diese schweren, traurigen Stunden gemeinsam. Ich möchte jetzt allen danken, die Zurückhaltung und zivile Verantwortung bewiesen haben.

Wir waren und werden immer stärker als sie sein - mit unserer Moral, unserem Mut und unserer menschlichen Solidarität. Ich habe dies erneut heute Nacht gesehen.

In Beslan, buchstäblich von Leid und Schmerz getränkt, haben die Menschen noch stärker als sonst füreinander gesorgt und sich gegenseitig unterstützt. Und sie haben sich nicht gescheut, ihr Leben für das Leben anderer zu riskieren.

Selbst unter den unmenschlichsten Bedingungen blieben sie Menschen. Es ist unmöglich, sich mit dem Schmerz der Verluste abzufinden. Doch diese Prüfung hat uns einander noch näher gebracht und zwingt uns, vieles zu überdenken.

Heute müssen wir zusammenstehen. Nur so besiegen wir den Feind.

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