15. Mai 2008
Ich begrüße Sie herzlich zum Auftakt des 20. Heidelberger Symposiums, verbunden mit aufrichtigen Komplimenten an die studentischen Mitglieder des Heidelberger Clubs, die dieses interdisziplinäre Studium Generale mit Koryphäen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Medien und Politik auf die Beine gestellt haben.
Das diesjährige Programm ist überschrieben mit „Wissen, Macht, Menschen“, und auf der Titelseite des Programmhefts blickt uns eine antike Statue entgegen: eine weibliche Gestalt, gewappnet mit einer Rüstung, Helm und Speer (auf anderen Darstellungen auch mit dem Medusenschild, das ihre Gegner zu Stein erstarren lässt).
Es ist Minerva, das römische Gegenstück zu Athene; Tochter des Göttervaters Jupiter, Göttin der Weisheit, Schutzherrin der Dichter und Lehrer, nebenbei auch das Emblem der Max-Planck-Gesellschaft. Wieso aber ist die Patronin der Wissenschaft mit Helm und Speer gewappnet? – Sie ist, wie andere Götter aus der Welt der griechischen und römischen Mythologie, eine mehrdeutige Gestalt. Die Göttin der Weisheit verkörpert zugleich die Kunst der besonnen Kriegführung, der klugen Strategie – im Unterschied zu Mars, dem Gott des totalen Krieges und der blutigen Schlachten, der allerdings in der Hierarchie der römischen Gottheiten über ihr steht.
Minerva vereinigt also Wissen und Macht – dieser Zusammenhang wurde nicht erst von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung entdeckt, die Emanzipation durch Bildung auf ihre Fahnen schrieb. Die doppelte Botschaft der Minerva heißt: Wissen verleiht Macht, und Macht muss durch Wissen zivilisiert werden, auch und gerade militärische Macht. Das ist eine sehr aktuelle Botschaft. Wenn Militärmacht nicht durch Klugheit gezügelt wird, richtet sie Katastrophen an – wie gegenwärtig im Irak zu besichtigen.
Man kann der Kombination von Wissen und Waffen, die Minerva verkörpert, noch andere Facetten abgewinnen: Wissen kann gefährlich sein – für den Forscher und Wissenden wie für die herrschenden Mächte, soweit ihre Herrschaft auf der Unwissenheit der Beherrschten beruht. Es kennzeichnet historisch überholte Regimes, dass sie die Freiheit der Wissenschaft und der Information zu unterdrücken suchen.
Für die anti-reformatorische Kirche war Giordano Bruno mit seinen umstürzenden Lehren von der Unendlichkeit des Weltalls und der Ewigkeit des Universums eine solche Bedrohung ihres Weltbilds, dass er von der heiligen Inquisition wegen Ketzerei zum Tod auf dem Scheiterhaufen verdammt wurde. Seine Entgegnung auf das Urteil ist legendär: „Mit größerer Furcht verkündet Ihr vielleicht das Urteil gegen mich, als ich es entgegennehme.“ Er durchschaut die Grausamkeit des Urteils als vergeblichen Versuch, sich gegen den Wandel der Zeiten zu stemmen, der durch die neuen Erkenntnisse der Astronomie, Mathematik und Physik vorangetrieben wurde. Sein Zeitgenosse Galileo Galilei entging diesem Schicksal nur knapp, auch wegen seiner größeren Biegsamkeit kam er mit Verbannung und der Indexierung seiner revolutionären astronomischen Schriften davon, mit denen er dem Dogma, dass die Erde im Mittelpunkt der Welt stehe, den Todesstoß versetzte.
Es hat bis zum Jahre 2000 gedauert, bis der päpstliche Kulturrat die Verbrennung Brunos im Jahre 1600 für unrecht erklärte. Immerhin, könnte man sagen, verhält sich die katholische Kirche zu ihrer Geschichte, auch wenn die Aufarbeitung der eigenen Sünden manchmal ein bisschen arg lang auf sich warten lässt.
Heute sind es in der Regel nicht die Forscher, schon gar nicht die Naturwissenschaftler, die um ihr Leben fürchten müssen: es sind vor allem Journalisten und Künstler, die für ihre kritische Arbeit hinter Gitter oder gar zu Tode gebracht werden. Der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink und die russische Reporterin Politkowskaja sind dafür nur zwei der bekannteren Beispiele aus der jüngsten Zeit. Sie verbreiteten gefährliches Wissen: gefährlich für die Staatsmacht und gefährlich für sie selbst.
Man kann die bewaffnete Göttin der Weisheit noch auf eine andere Weise lesen: Dann steht sie für die wissenschaftliche Kriegführung, die in der Moderne ihren traurigen Höhepunkt erreicht hat. Moderne Kriege sind technologische Kriege, bei denen die Wissenschaft Pate steht. Ein Gutteil der Forschungsausgaben der USA, Russlands, Europas und zunehmend auch Chinas fließt in den Rüstungssektor. Dort finden bahnbrechende Innovationen statt, die dann ihren Umweg in den zivilen Sektor finden, von der Atomtechnologie über das Internet bis zum Flugzeugbau. Spätestens mit der Atombombe haben auch die scheinbar wertfreien Naturwissenschaften ihre Unschuld verloren. Immerhin hat der Atomblitz über Hiroshima und Nagasaki einen bis heute andauernden Prozess kritischer Selbstreflexion in den Naturwissenschaften ausgelöst, Albert Einstein vorneweg. Atomphysiker, Biogenetiker, Reproduktionsmediziner oder Autokonstrukteure, die sich heute nicht mit den potentiellen gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Forschungen auseinandersetzen, müssen sich zu Recht Fachidioten schimpfen lassen.
Annäherungen an die Wissensgesellschaft
Dass wir mit dem Übergang zum 21. Jahrhundert in das Zeitalter der „Wissensgesellschaft“ eingetreten sind, gehört mittlerweile zum Allgemeingut der Feuilletons. Dabei geht es nicht nur um die berühmte Beschleunigung der Wissensproduktion, die auch Bildungsministerin Schawan in ihrem Grußwort für dieses Symposiums zitiert: Danach verdoppelt sich alle fünf Jahre das weltweite Wissen. Wir sind beeindruckt, auch wenn die Frage offen bleibt, wer das wie gemessen hat. Was angesichts dieser Wissensflut hoffnungsvoll stimmt, ist das wachsende öffentliche Interesse an Wissensthemen, von neuen Erkenntnissen der Gehirnforschung, der Reproduktionsmedizin und der Klimaforschung bis zur Kontroverse um das Urheberrecht, das sich in einer Flut von populärwissenschaftlichen Publikationen und Sendungen zeigt.
Die Zeit ist reif, einen weit gefächerten Dialog über Wissensgesellschaft und Wissenspolitik zu beginnen und dieses Thema aus der Insider-Welt der Experten herauszuholen. Es geht darum, dass die technische, soziale und kulturelle Umwälzung, die mit dem schillernden Begriff der Wissensgesellschaft verknüpft ist, nicht hinter dem Rücken der Gesellschaft stattfindet.
Der Begriff „Wissensgesellschaft“ schillert in vielen Farben. Eine klare, einfache und übereinstimmende Definition ist nicht auszumachen, und doch wissen wir recht gut, was damit gemeint ist und welche großen Trends sich in dieser Bezeichnung bündeln:
- Wissen ist zur entscheidenden Produktivkraft moderner Ökonomien geworden. Die Erzeugung und Vermittlung von Wissen wird zur entscheidenden Wohlstandsquelle des 21. Jahrhunderts. Das heißt aber zugleich - es ist das Humankapital, das zählt. Weniger technisch gesprochen: Der Mensch wird wieder wichtiger gegenüber dem in Maschinen und Gebäuden gebundenen toten Kapital. Ein Vergleich zwischen einem Atomreaktor und einem Genlabor macht deutlich, wie sich das Verhältnis zwischen Sachkapital und Mensch verschiebt. Das Verhältnis von Unternehmen und MitarbeiterInnen wird neu verhandelt – die Stichworte sind mehr Eigenverantwortung, Teamarbeit und flache Hierarchien, kontinuierliche Weiterbildung, flexible Arbeitszeiten und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Betriebe, die diesen Wandel nicht mitgehen, werden ihre Marktposition verlieren.
- Eine wachsende Schicht von Wissensarbeitern wird unsere Arbeitswelt prägen: von der Forschung bis zur Verarbeitung anspruchsvoller Informationen in der Industrie und im Dienstleistungsbereich. Damit ist ein tiefgreifender Wandel in der Arbeitsorganisation und den Arbeitsbeziehungen verbunden. Die Arbeitswelt individualisiert sich. Die alten Arrangements der Industriegesellschaft (die Tarifpartnerschaft von big labour und big business, die Trennung von Arbeit und Leben, die erwerbsbiografische Kontinuität von der Ausbildung bis zur Rente) werden ausgehöhlt. Damit verbunden sind wachsender Leistungsdruck und biografische Unsicherheit. Auf der anderen Seite setzt die neue Wissensökonomie aber auf Seiten der Menschen verstärkt auf die Bereitschaft zu Kommunikation, zu Engagement, Kreativität und kollektiver, erfinderischer Tätigkeit – auf Werte also, die sie durch das Vorantreiben von Atomisierung und Konkurrenz gerade gefährdet.
- In der Wissensgesellschaft werden der Zugang zu Bildung und die Fähigkeit zum souveränen Umgang mit dem explodierenden Wissen zu zentralen Faktoren für die Verteilung von Berufs- und Lebenschancen. Es ist ein verheerendes Attest für unser Bildungssystem, dass es wie kaum ein anderes in den industrialisierten Ländern soziale Ungleichheit verstärkt. Das gilt insbesondere für Kinder mit dem berühmten „Migrationshintergrund“, die zu einem Großteil ohne qualifizierten Schulabschluss bleiben. Der Gegensatz von „Begabtenförderung“ und „Chancengleichheit“ ist eine Scheinalternative. Wer beides gegeneinander ausspielt, erreicht weder das eine noch das andere.
Die Reform unseres Bildungssystems, von den Schulen bis zu den Universitäten und den Weiterbildungs-Institutionen, ist deshalb eine Schlüsselfrage für Chancengerechtigkeit in der Zukunft. Dabei geht es sowohl um Fragen des Zugangs und der Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Säulen des Bildungssystems wie um die Veränderung der Inhalte und der Lernformen. Die Diskussion über Schulformen allein greift jedenfalls zu kurz – wir müssen uns damit auseinandersetzen, was die Schlüsselqualifikationen für die Wissensgesellschaft sind, in welchem Verhältnis kognitive, soziale und kulturelle Kompetenzen in unserer Vorstellung eines „gebildeten Individuums“ stehen. Im Begriff des „Wissens“ steckt schon ein Mehrwert gegenüber dem bloßen Anhäufen von Informationen: Es geht um die Fähigkeit der Auswahl, der Einordnung und Bewertung von Informationen, kurz: um Orientierungswissen statt um bloßes Bescheidwissen, um Gestaltungskompetenz statt der Bewältigungsfähigkeit. - Mit der Wissensgesellschaft entstehen auch neue Arenen der Politik: Internetforen, die von den Nutzern selbst organisiert und gestaltet werden, elektronische Netzwerke, neue Möglichkeiten der Information und der Bürgerbeteiligung vor allem auf kommunaler Ebene. Solche Interventionsfähigkeit erfordert freilich umfassende Transparenz des Verwaltungshandelns. Informations- und Beteiligungsrechte der Bürger gegenüber der Verwaltung können nicht nur Korruption verhindern helfen, sie stärken auch die zivilgesellschaftliche Basis der Demokratie.
- Der Übergang zur „Wissensökonomie“ wirft auch die Frage nach der privaten Verwertung bzw. der öffentlichen Zugänglichkeit von Wissen in einer neuen Schärfe auf. Nie war der alte Schlachtruf „Wissen ist Macht“ so aktuell wie heute. In einem bisher nicht dagewesenen Umfang und Tempo wird heute gesellschaftlich folgewirksames Wissen von Unternehmen erzeugt, finanziert und vermarktet. Die Patentierung von bloßen „Entdeckungen“ (etwa von Gensequenzen) und der Ausbau eines umfassenden Regimes des Schutzes und Handels mit „geistigen Eigentumsrechten“ ist eine der brisantesten politischen Streitfragen, für die es noch viel zu wenig öffentliche Aufmerksamkeit und Kompetenz gibt. Die Frage, was zukünftig zur öffentlich zugänglichen „Wissensallmende“ oder „Public Domain“ gehören soll, kann nicht dem Markt überlassen bleiben – es handelt sich um eine hoch politische Frage für die Zukunft der Demokratie wie für die Innovationsfähigkeit unserer Gesellschaft. Die Forderung nach öffentlichem Zugang muss allemal für Forschungsergebnisse gelten, die mit öffentlichen Mitteln gefördert oder in öffentlichen Institutionen generiert wurden.
- Im Zeitalter der Kombination von Informationstechnik, Biogenetik und Nanotechnik eröffnen sich neue Dimensionen des wissenschaftlich-technischen Zugriffs auf Mensch und Natur: Gen-Design von Embryonen, Konstruktion von Biorobotern, Züchtung neuer Lebewesen im Reagenzglas – Science Fiction wird von der Wirklichkeit überholt. Angesichts der scheinbar unendlichen Erweiterung des technisch Machbaren stellt sich auch die Frage nach den Grenzen der Freiheit der Wissenschaft neu. Die Freiheit von Wissenschaft und Forschung ist mit gutem Grund ein zentraler Wert demokratischer Verfassungen. Er stammt noch aus einer Zeit, in der man einigermaßen klar zwischen Grundlagenforschung, anwendungsbezogener Forschung und der technisch-ökonomischen Nutzung von Wissen unterscheiden konnte. Diese Grenzen verschwimmen immer mehr. Alles Wissen, das in die Welt gesetzt wird, ist latentes Verwertungswissen, und die Fristen zwischen neuen Erkenntnissen, neuen Techniken und neuen Anwendungen werden – nicht zuletzt aufgrund des Drucks aus Politik und Wirtschaft - immer kürzer.
Die gesetzliche Beschränkung von Forschung und Entwicklung sollte da gezogen werden, wo die Menschenwürde von ihr verletzt wird. Das gilt z.B. in der Bundesrepublik noch für die verbrauchende Forschung an Embryonen. Mit der jüngsten Reform der „Stichtagsregelung“ für die Forschung an embryonalen Stammzellen hat die Mehrheit des Bundestags allerdings vorexerziert, dass auch ethisch begründete Forschungsschranken flexibel gehandhabt werden können. In anderen Ländern wurden sie bereits gänzlich niedergerissen. Die brisante Frage lautet: Müssen angesichts der ethischen und sozialen Sprengkraft neuer Entwicklungen etwa in der Humangenetik oder bei der Klontechnik die Verbotsgrenzen bis in die Grundlagenforschung vorverlagert werden – und wie wären solche Verbote in einer globalisierten Forschungswelt durchzusetzen und zu kontrollieren?
„Governance of Science“ ist eine neue Fragestellung in der wissenschaftlichen Welt. Dabei geht es um die berufsethische Selbstbegrenzung der Wissenschaft und die systematische Integration des „precautionary principle“ in das wissenschaftliche Forschen bis hin zu gesetzlichen Beschränkungen der Forschungsfreiheit. - Ein wachsender Anteil der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung spielt sich inzwischen in der virtuellen Welt der Datenverarbeitung, Wissensproduktion und der elektronischen Medien ab. Ob damit bereits der Weg in ein neues, umweltverträgliches Wirtschaftsmodell eingeleitet ist, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Angesichts des Klimawandels und der absehbaren Verknappung fossiler und mineralischer Rohstoffe hängt alles davon ab, dass die Entkopplung von wirtschaftlicher Wertschöpfung und Naturverbrauch gelingt. Das bedeutet nichts anderes als eine neue industrielle Revolution, eine sprunghafte Steigerung der Ressourceneffizienz und ein rascher Übergang ins Solarzeitalter. Dass es dafür einer gewaltigen wissenschaftlich-technischen Innovationsleistung bedarf, versteht sich fast von selbst.
- Schließlich müssen wir uns damit auseinandersetzen, wie die wachsende Wissens- und Wohlstandskluft zwischen den forschungsstarken, technologisch hochgerüsteten Gesellschaften und den verarmten Zonen an der Peripherie der globalen Wissensgesellschaft vermieden werden kann. Die Spaltung in prosperierende und ökonomisch ausblutende Regionen wird durch die Ungleichverteilung von Forschungskapazitäten, Bildung und technologischer Infrastruktur verdoppelt und verschärft. Das Internet verwandelt die Welt mitnichten in ein einziges „global village“, das alle mit allen vernetzt. Das Potenzial dazu hat es, doch das wird nur zu nutzen sein, wenn es gelingt, das Internet nach dem Beispiel der Open Source Bewegung als Public Domain für Kreativität und Innovation zu erhalten. Deshalb müssen die Bestrebungen abgewehrt werden, das Internet im Zuge des Kampfes gegen „Piraterie und Diebstahl geistigen Eigentums“ zu einem bloßen Vertriebssystem für die Produkte der Inhaber privater intellektueller Eigentumsrechte zurechtzustutzen.
Wissensgesellschaft als Risikogesellschaft
Mit dem Fokus auf das emanzipatorische Potenzial der „Wissensgesellschaft“ sollen mitnichten die Risiken und Nebenwirkungen übergangen werden, die mit dieser Umwälzung verbunden sind. Das alte Versprechen der Moderne, dass die Steigerung von wissenschaftlichem Wissen und Technologie auch zu mehr Sicherheit und Wohlstand führt, findet heute mit Blick auf unbeabsichtigte Nebenfolgen, die katastrophale Ausmaße annehmen können, kein Vertrauen mehr. Das gilt für die vermeintlichen Segnungen der Atomenergie wie für die gentechnische Manipulation von Lebensmitteln. Selbst die als Beitrag zum Klimaschutz gepriesene Produktion von „Biosprit“ aus Mais, Soja oder Palmöl hat sich sehr schnell als ökologischer und sozialer Bumerang erwiesen: ein typischer Fall unterkomplexer Strategien in einer komplexen Welt.
Wir müssen lernen, den Fortschritt der Wissenschaften zugleich als Vermehrung von Unsicherheit und Nicht-Wissen zu betrachten. Das bedeutet keine Absage an die Wissenschaft, sondern erfordert gegenüber dem naiven Glauben an eine lineare Sicherheits- und Wohlstandsmehrung durch mehr Wissen eine Steigerung kritischer Rationalität. Dementsprechend gilt es, für die Organisation von Forschung und Entwicklung offene, kooperative, fehlerfreundliche und lernfähige Architekturen zu finden. Bei aller notwendigen Spezialisierung sind Interdisziplinarität von Forschungsteams und ein kontinuierlicher Dialog von Natur- und Geisteswissenschaften unverzichtbare Elemente eines Modells „reflexiver Modernisierung“, das die Risiken der Wissensproduktion begrenzt, ohne ihre Potenziale abzuwürgen.
In einem aufgeklärten, reflexiven Entwurf der Wissensgesellschaft spielt der Faktor Zeit eine zentrale Rolle. Innovative Forschung braucht Zeit, um verschiedenen Hypothesen nachzugehen und unterschiedliche Ansätze zu verfolgen. Zwar ist Effizienz im Umgang mit knappen Mitteln auch der Wissenschaft zuzumuten. Aber der Diktatur der Beschleunigung muss sie sich verweigern. Das gilt auch für Studium und Lehre. Ein klarer Orientierungsrahmen hilft Studenten, sich im Dickicht des Wissenschaftsbetriebs zurechtzufinden und ihr Grundstudium zu strukturieren. Aber die Gleichschaltung von Studiengängen und die trichterförmige Verabreichung von Wissenspaketen unter großem Zeitdruck, die im Zusammenhang mit den Bologna-Reformen Platz greift, ist des Guten zuviel.
Kreativität braucht Freiräume, und Innovationen gedeihen dort am besten, wo nicht unter großem Zeitdruck vorschnelle Entscheidungen über die einzuschlagende Richtung getroffen werden müssen. Denn Entscheidungen zu treffen heißt, alle denkbaren Möglichkeiten zu verwerfen bis auf eine. Innovative Prozesse zeichnen sich aber gerade dadurch aus, dass sie unterschiedliche Optionen ausloten, um die beste herauszufinden.
Vor allem aber müssen wir uns eines erhalten: unsere Neugier auf die Welt, unsere Fähigkeit, die Dinge in Frage zu stellen und die Bereitschaft, ausgetretene Pfade zu verlassen, um Neuland zu erforschen. Das gilt für die Hochschulen wie für das richtige Leben.
Der Vortrag greift Überlegungen wieder auf, die in zwei Publikationen der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema Wissensgesellschaft formuliert wurden: dem Tagungsband „Mut zu Wissen – links zur Wissensgesellschaft“ (2002) und dem Sammelband „Konturen der Wissensgesellschaft“ (2005).