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Kampf um Alternativen

Foto: Nevit Dilmen/ GNU

16. Mai 2008
Von Andreas Behn
Von Andreas Behn

Wenige Tage vor dem V. Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, Lateinamerikas und der Karibik begann - ebenfalls in der peruanischen Hauptstadt Lima - der zivilgesellschaftliche Gipfel „Alternativen Verknüpfen - Enlazando Alternativas 3“.

Der Campus der Nationalen Ingenieursuniversität war vom 13. bis 16. Mai Schauplatz einer Fülle von Seminaren und Veranstaltungen, die von sozialen Bewegungen und Organisationen der Zivilgesellschaft beider Kontinente vorbereitet wurden. Wie bereits 2006 in Wien, parallel zum IV. Gipfeltreffen auf Regierungsebene, tagte im Rahmen der Alternativveranstaltung auch dieses Mal das so genannte Ständige Tribunal der Völker, das einst aus dem Russell-Tribunal hervorging. Über 20 transnationale Konzerne wurden wegen Verbrechen gegen die Menschenrechte oder Umweltverstößen auf die Anklagebank gesetzt.

Es war nicht einfach, den Parallelgipfel zu organisieren, denn die kritische Diskussion wirtschaftspolitischer Strategien und der Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika, unter Beteiligung der lokalen Basisbewegungen war dem peruanischen Präsidenten Alan García ein Dorn im Auge. Im Vorfeld warnten Regierungsvertreter immer wieder vor gewalttätigen Ausschreitungen, einige große Medien machten sogar eine „terroristische“ Gefahr aus. Die Veranstalter betonten unermüdlich, dass es sich nicht um einen „Gegengipfel“, sondern um ein Diskussionsforum handelt, und bekamen erst eine Woche vor Beginn - nach Intervention anderer Regierungen - die Genehmigung für die Veranstaltung. Es war der erste Erfolg für die Aktivisten, der zweite war das große, vor allem nationale Medienecho, das die Regierung Perus gerade verhindern wollte.

Von Ökonomie über Migration bis Feminismus

Über Tausend Menschen nahmen am Dienstag an der Eröffnungsveranstaltung im Theater der Universität teil. Direkt danach kam das Tribunal zu seiner ersten von sechs öffentlichen Sitzungen zusammen. Die Teilnehmer verteilten sich in den folgenden Tagen über das Gelände des Campus, in rund 15 Räumen gab es Veranstaltungen zu Themen wie Migration, Alternative Energien, bilaterale Wirtschaftsverträge oder Solidarische Ökonomie.

Zudem gab es ein Zelt, in dem rund um die Uhr verschiedene Aspekte von Genderpolitik und Feminismus diskutiert wurden, ein Radioforum übertrug live in sieben Sprachen übers Internet und diverse kulturelle Veranstaltungen wie Theateraufführungen und Konzerte sorgten für anspruchsvolle Abwechselung. Es war ein bisschen wie auf den Weltsozialforen von Porto Alegre, nur war dieses Forum ein wenig kleiner und übersichtlicher.

Die meisten Besucher kamen aus Lateinamerika. Sowohl bei den Organisatoren als auch beim Publikum war zu spüren, dass diesem Treffen - wie wohl auch dem offiziellen Gipfel – in den Ländern des Südens mehr Bedeutung als im Norden beigemessen wird.

Heinrich-Böll-Stiftung mit eigenem Veranstaltungsprogramm

Die Heinrich Böll Stiftung, vertreten durch die Büros in Chile und Rio de Janeiro und durch das Projekt EU-MERCOSUR: Handel – Entwicklung – Menschenrechte, organisierten zusammen mit zahlreichen Partnerorganisationen fünf Veranstaltungen. Im Zentrum stand der Themenkomplex Klimawandel, Energiekrise sowie eine strategische Auseinandersetzung um das Thema Agrartreibstoffe.

Am Mittwoch ging es in zwei aufeinanderfolgenden Workshops um neue Vorschläge zur Lösung der Energiefrage im regionalen Kontext und die Bewertung fragwürdiger Alternativen. Kritisch beleuchtet wurde die Option, fossile Treibstoffe durch vermeintlich umweltschonenden Treibstoff aus Energiepflanzen, den so genannten Agrotreibstoffen, zu ersetzen.

Sergio Schlesinger und Juliana Malerba von der brasilianischen NRO Fase machten deutlich, dass diese Energiequelle innerhalb des vorherrschenden, auf den Interessen des exportorientierten Agrarbusiness basierenden Landwirtschaftsmodells alles andere als eine ökologisch nachhaltige Alternative sei: Umwelt schädigende Monokulturen, Anreiz zum Einsatz von Gentechnologie, oftmals inakzeptable Arbeitsbedingungen sowie die Gefahr neuer Abholzungen bis hin zur Einschränkung der weniger wirtschaftlichen Produktion von Lebensmitteln waren zentrale Kritikpunkte. Bevor an alternative Energiequellen gedacht werden könne, müsse außerdem zuerst einmal unser alltäglicher Energieverbrauch überdacht werden. Denn wenn der Konsum von Energie auf das Notwendige beschränkt würde, und Sektoren wie Energieproduktion und vor allen die Landwirtschaft nicht nur an Gewinninteressen orientiert wären, würde sich auch die Suche nach echten Alternativen effektiver gestalten.

Andere Redner wie Patricio Seguras vom Consejo de Defensa de la Patagonia und Pablo Villegas von der Articulación contra los TLCs zeigten auf, wie wenig sinnvoll zwei weitere, sowohl von europäischen wie lateinamerikanischen Regierungen gerne erwogene, Alternativen als Mittel gegen Klimawandel und Erderwärmung in Frage kommen. Am Beispiel eines großen Staudammprojektes am Rio Madeira, der in Brasilien wie in Bolivien kaum vorhersehbare Umweltveränderungen nach sich ziehen wird, und einer Analyse der langfristigen Rentabilität der Atomkraft wurden diese Optionen als Sackgasse entlarvt.

Wer profitiert vom Agrarbusiness?

Am Donnerstag wurde die Diskussion unter der Fragestellung, wer vom Agrarstreibstoff und dem Agrarbusiness am meisten profitiert, fortgesetzt. Christina Pohl von Friends of the Earth Europe führte aus, dass die Europäische Kommission an dem Beimischungsziel von zehn Prozent Agrartreibstoff beim Benzin bis 2020 festhalten will, obwohl die Kommission selbst gefährliche Folgen für die Umwelt und das Ansteigen der Lebensmittelpreise einräumt. Gewinner des Geschäfts mit Treibstoff aus Agrarpodukten sind der Analyse der internationalen Umweltorganisation zufolge die Automobilindustrie, Erdölkonzerne und die Banken, die vor allem die großem Lebensmittel- und Gentechnikkonzerne großzügig finanzieren.

Kirtana Chandrasekaran von Friends of the Earth in Großbrittanien, zeigte am Beispiel der Soja-Monokultur auf, wie wichtig eine Vernetzung der kritischen Bewegungen beider Kontinente ist. Vor allem in den großen Anbauländern Argentinien und Brasilien führt der exzessive Sojaanbau zu Umweltschäden, Verlust von Arbeitsplätzen und Gefährdung der Biodiversität. In den europäischen Importländern, wo die Soja vor allem als Futtermittel verwendet wird, verschlechtern sich gleichzeitig die Lebensbedingungen der Masttiere. Zudem steigt durch die einseitige wachstumsfördernde Sojaernährung die Zahl der Tiererkrankungen mit enormen Kosten für die gesamte Gesellschaft. Gemeinsame Kampagnen in Europa und Lateinamerika seien ein wichtiger Schritt, um den Teufelskreis aus hohem Fleischkonsum, hohen Subventionen, Umweltschäden und Aussterben der traditionellen Landwirtschaft zu durchbrechen.

Transnationale Unternehmen vor Gericht

Tags zuvor stand die Frage auf der Tagesordnung, inwiefern es möglich ist, mit juristischen Mitteln gegen Menschenrechtsverletzungen und illegale Umweltzerstörungen vorzugehen, die von europäischen Unternehmen in Lateinamerika begangen werden. Die Heinrich-Böll-Stiftung hatte dazu im Vorfeld der beiden Gipfeltreffen in Lima eine Studie beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Auftrag gegeben, in der mehrere aktuelle Fälle nicht nur dargestellt, sondern auch juristisch bewertet werden. Die Ergebnisse der Studie „Transnationale Unternehmen vor Gericht“ wurden von einem der beiden Autoren, dem Rechtsanwalt und Leiter des ECCHR Wolfgang Kaleck, in einem Interview vorgestellt.

Während die juristische Aufarbeitung und Ahndung von Verbrechen, die von staatlicher Seite, beispielsweise Militärdiktaturen begangen wurden, in den vergangenen Jahren einige Fortschritte gemacht hat, ist der Sachverhalt im Fall von privaten Unternehmen etwas komplizierter. Nicht nur, weil der konkrete Nachweis persönlicher Verantwortung einzelner Angestellter im Dienst des Unternehmens kompliziert ist. Oftmals finden die Unternehmen Mittel und Wege, die nationalen Gesetze und Gerichte zu manipulieren.

Gisele Cassano von der brasilianischen Organisation Terra de Direitos nannte beispielhaft den Fall des Schweizer Agrochemiekonzerns Syngenta, dem illegaler Anbau von genveränderten Pflanzen und ein extrem brutales Vorgehen gegen Bauernaktivisten vorgeworfen wird. Statt einer Verfolgung der Verbrechen von Unternehmensseite, so Gisele, werde das Recht so ausgelegt, dass Syngenta kaum behelligt werde. Währenddessen werden die Aktivisten, die sich gegen die Firmenpolitik wenden, seit Monaten kriminalisiert. Das Unternehmen habe es mittels Lobbyarbeit geschafft, die Rechtslage nachträglich zu seinen Gunsten zu verändern. Eine Praxis, die in Brasilien kein Einzelfall sei, so die Rechtsanwältin von Terra de Direitos aus Paraná in Südbrasilien.

Straffreiheit stoppen, Zeichen setzen

In dem anschließenden Workshop „Stoppt die Straffreiheit“ wurden diese Fragen vertieft. Mehrere Vertreter von sozialen Bewegungen, die direkt von Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzungen betroffen sind, waren gekommen, um ihre Anliegen vorzutragen und mit dem Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck und der Rechtsanwältin Jennie Green von der renommierten US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation Center for Constitutional Rights konkret zu besprechen.

Dies sind wichtige Fragestellungen auch für die zukünftige Bedeutung des Tribunals der Völker, das gleichzeitig die Anschuldigungen und Beweise gegen eine Vielzahl europäischer Konzerne anhörte. Obwohl ein Urteil gesprochen wird, handelt es sich um einen symbolischen Prozess, mit dem Öffentlichkeit erreicht und die Diskussion angestoßen werden soll.

Insbesondere im Kontext der Verhandlungen über Assoziierungsverträge zwischen beiden Kontinenten und Freihandelsgesprächen zwischen der EU und dem gemeinsamen südamerikanischen Markt Mercosur stellen sich die Fragen, welche Kontrollmechanismen gegenüber nicht staatlichen, aber regional extrem einflussreichen Akteuren wie solchen großen Unternehmen existieren und wie diese rechtlich in Verträge eingebunden werden können.

Prominente Menschenrechtsverletzer und Umweltverschmutzer

Die Liste der Fälle ist lang und keineswegs vollständig: Behandelt wird beispielsweise das finnische Zellulose-Unternehmen Botnia, dem in Uruguay Umweltverschmutzung und Ausnutzung seiner Vormachtstellung unter Missachtung geltenden Rechts vorgeworfen wird. Den Pharmakonzernen Böhringer und Roche wird die Nichtbeachtung geltender Gesetze bei der Herstellung von Medikamenten und bei der Durchführung von Tests an Menschen vorgehalten. Der spanische Erdölriese Repsol sowie die Britisch-holländische Shellgruppe stehen wegen Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung in Argentinien, Bolivien, Ecuador und Brasilien vor Gericht.

Der prominenteste Fall eines deutschen Konzerns ist Thyssen-Krupp, der im Bundesstaat Rio de Janeiro mit der derzeit größten Auslandsinvestition ein Stahlwerk und einen Hafen baut. Schon jetzt sind Tausende Fischer aufgrund von Verschmutzung der angrenzenden Bahia Sepetiba akut bedroht, ihren Lebensunterhalt zu verlieren. Außerdem soll das Unternehmen auf undurchsichtigen Wegen die Baugenehmigung ergattert haben und weigert sich, die geltenden Umweltnormen zu achten.

Im Gericht sind viele der Betroffenen als Zeugen zugegen, die Angeklagten verzichten zumeist auf ihr Verteidigungsrecht. Nachdem alle Zeugen angehört worden waren, überreichte die Heinrich-Böll-Stiftung der Jury die spanische Version des Berichts „Transnationale Unternehmen vor Gericht“, in der zwei der beim Tribunal präsentierten Fälle behandelt werden.

Wie beim Alternativgipfel überhaupt geht es bei dem Tribunal darum, denjenigen eine Stimme zu geben, die bei offiziellen Gesprächen zwischen Europa und Lateinamerika selten gehört werden. Das ist gelungen: Viele Menschen sind miteinander ins Gespräch gekommen, so dass das internationale Netzwerk von sozialen Bewegungen, NROs und anderen aktiven Gruppen wieder ein bisschen weiter verknüpft worden ist.