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Verfassungen werden zuweilen nach siegreichen Revolutionen zu Papier gebracht, um neue Machtverhältnisse nachträglich zu legitimieren. Bei den „Verfassungsprozessen“, die gegenwärtig in den Andenländern stattfinden, handelt es sich aber um etwas anderes. Verfassungsprozesse sind hier Versuche, Auswege aus Krisensituationen zu finden, indem wirtschaftliche, soziale und politische Veränderungen erst einmal als Verfassungsnormen postuliert werden. Aus einem konjunkturellen Wahlsieg soll auf diese Weise langfristig eine neue Ordnung entstehen. Dabei kann die Verfassungsdiskussion bei breiter Beteiligung der Bevölkerung selbst ein Moment gesellschaftlicher Mobilisierung und Bewusstwerdung sein, und der Text einer so erarbeiteten Verfassung ist dann eine permanente Aufforderung, die Verfassungsbestimmungen in gesellschaftsverändernde Politik umzusetzen.
Eine neue Verfassung allein schafft aber noch keine neue Gesellschaft, sie verändert zunächst nicht die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Das zeigte sich bestürzend klar in einem Land, das 1991 eine neue Verfassung erhielt, die damals als die fortschrittlichste Südamerikas gelten durfte: Kolumbien. In einer Situation der permanenten Krise, als der Staat von den Schlägen gewaltbereiter Drogenhändler erschüttert wurde und zudem zwei seit den 60er Jahren existierende linke Guerillagruppen weite Teile des Landes beherrschten, wollten Gruppen demokratischer Intellektueller eine neue Verfassung erarbeiten, die den Kolumbianern Alternativen zu gewaltsamen Konfrontation bieten sollte. Beteiligt waren auch einige Führer der kurzlebigen Guerillaformation M 19, die zuvor nach erfolgreichen Friedensverhandlungen ins zivile Leben zurückgekehrt waren. Im ganzen Lande wurde die Verfassung diskutiert, ein Verfassungsprozess, der in seiner Methodik und seiner Zielsetzung Demokratie ausweiten sollte. Dies schlug sich u.a. darin nieder, dass sie der bislang diskriminierten indigenen und afrokolumbianischen Bevölkerung Sonderrechte einräumte, u.a. die garantierte Vertretung durch zwei Senatoren im Kongress. Aber die Kräfte der alten Ordnung waren stärker als die neue Verfassung, und sie wurden weiter gestärkt durch die permanente Intervention der USA, die zunächst unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung stattfand und später als Teil des weltweiten Kampfes gegen den „Terrorismus“ firmierte. Immerhin, wenn heute auch unter einem autoritären und bedingungslos USA-abhängigen Präsidenten trotz der Schreckenstaten der Paramilitärs und des Scheiterns der Friedensverhandlungen mit den FARC noch Elemente von Rechtstaatlichkeit in Kolumbien vorhanden sind, so ist dies nicht zuletzt auch dem Umstand zu verdanken, dass die verbliebenen demokratischen Kräfte sich auf die Verfassung von 1991 berufen können.
Eine ungleich größere Bedeutung hatte die neue Verfassung Venezuelas, die bald nach Hugo Chavez’ spektakulärem Wahlsieg 1999 erarbeitet wurde und schon mit der Umbenennung des Staates in „Bolivarianische Republik Venezuela“ den Beginn einer neuen Ära ankündigte. Die Verfassung bringt wie die kolumbianische größere Rechte für die indigene Bevölkerung. Sie bietet bei Aufrechterhaltung einer starken staatlichen Zentralgewalt mehr Spielraum für autonome Initiativen von Organisationen an der Basis. In einigen ihrer Bestimmungen sprengt sie den Rahmen einer repräsentativen Demokratie, die die einmal gewählten Abgeordneten vom Druck der eigenen Basis entlastet: Aus dem System der Rätedemokratie übernimmt sie die Abberufbarkeit der einmal gewählten Volksvertreter bis hinauf zum Präsidenten, der mit einer qualifizierten Mehrheit in der Mitte seiner Amtszeit abberufen werden kann. Die Opposition gegen Chavez wollte von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, um Chavez vorzeitig abzuwählen, das Plebiszit zu seiner Absetzung, das verfassungsgemäß eingeleitet und durchgeführt wurde, scheiterte jedoch.
Durch diesen Erfolg und seine überzeugende Wiederwahl im Dezember 2006 fühlte sich Chavez ermutigt, eine weitere tiefgreifende Verfassungsänderung zu proklamieren, um so den Übergang zu einem neuen politischen, sozialen und wirtschaftlichen System zu bewerkstelligen. Die auf seine Initiative hin vorgeschlagene Verfassungsreform war jedoch in mehrfacher Hinsicht problematisch. Sollte sie wirklich eine qualitativ andere Gesellschaftsordnung begründen, wie sie mit der vorschnellen Losung eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ angekündigt wurde, so wäre es logisch gewesen, abermals eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen und einen Verfassungsprozess unter breiter Beteiligung aller Volkssektoren zu durchlaufen. Stattdessen wurde hastig der Entwurf einer Verfassungsreform vorgelegt, der neben positiven Elementen, etwa der Ausweitung sozialer Rechte, auch viele fragwürdige Teile enthält. So wurden die Befugnisse des Präsidenten auch auf Gebiete ausgeweitet in denen eine Kontrolle durch andere demokratisch legitimierte Institutionen besonders notwendig ist: zum Beispiel auf eine territoriale Neuordnung des Landes. Die Möglichkeit der mehrfachen Wiederwahl des Präsidenten war nicht einmal der bedenklichste Teil dieses Reformentwurfs. Natürlich meldete die Opposition ihren Widerstand an, aber auch im chavistischen Lager wurden begründete Einwände laut, und selbst Verfechter einer kritischen Unterstützung von Hugo Chavez nahmen offen gegen die Verfassungsreform Stellung. Dass diese schlecht ausgearbeitete und zudem inkohärente Verfassungsreform in einer freien Abstimmung knapp scheiterte, sollten Freunde der bolivarianischen Revolution eher als einen Sieg der Demokratie begrüßen denn als Niederlage beklagen, ungeachtet des Triumphgeschreis einer unglaubwürdigen Opposition. Hugo Chavez musste lernen, dass die übereilte Veränderung einer immer noch vorbildlichen Verfassung kein geeigneter Weg ist, die Revolution zu neuen Höhen zu führen.
Bolivien
Die Aufgabe, vor der die Schöpfer der neuen Verfassung Boliviens standen, war noch weitaus umfassender. In Venezuela und Kolumbien war es in Hinblick auf die indigenen Völker nur darum gegangen, den lange benachteiligten und ausgegrenzten ethnischen Minderheiten gleiche Rechte und sogar eine Sonderstellung im Sinne einer positiven Diskriminierung einzuräumen – in Bolivien dagegen musste die indigene Bevölkerungsmehrheit, die jahrhundertelang von einer Minderheit unterdrückt worden waren, eine Republik neu begründen, in der das Erbe der spanischen Kolonie endlich überwunden werden sollte. „Refundar Bolivia“ : nichts weniger als eine Neugründung Boliviens wurde angezielt. Dabei war die Forderung nach Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung schon 2OO2 von der indigenen Volksbewegung des Tieflands erhoben worden, sie wurde auch beim Sturz des neoliberalen Präsidenten Gonzalo Sanchez de Losada im Oktober 2003 laut und gehörte zu den Wahlversprechen, mit denen Evo Morales im Dezember 2005 eine überzeugende Mehrheit erreichen konnte. Angesichts der Bedeutung der ersten Wahl eines Indigenen zum Präsidenten eines südamerikanischen Landes wurde damals zu wenig beachtet, dass zur gleichen Zeit zum ersten Mal Direktwahlen der Präfekten der 9 Departement stattfanden – und dass hier der MAS, die Partei von Evo Morales, in der Minderheit blieb und nur in den Departements des Hochlandes erfolgreich war. Der Osten des Landes mit den Departements Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija (nach dem Umriss dieser Gebiete auf der Landkarte der sogenannte „Halbmond“) blieb unter der Kontrolle der alten Eliten. ...
Ecuador
Der Verfassungsprozess in Ecuador ist später als in Bolivien in Gang gekommen, nach der überraschenden Wahl des linksgerichteten Ökonomen Rafael Correa zum Präsidenten des Landes im November 2006. Für Correa hatte der Verfassungsprozess vielleicht noch größere Bedeutung als für seinen bolivianischen Amtsbruder: Im gerade gewählten Kongress hatte er noch gar keine eigene Partei, auf die er sich stützen konnte, und erst für die Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung fand sich unter der Bezeichnung „Alianza Pais“ ein Bündnis zusammen, das eigentlich nur durch die Bindung an Rafael Correa und seine erklärt anti-neoliberalen Politik zusammengehalten wurde. Alianza Pais erreichte die absolute Mehrheit.
Es hatte Symbolkraft, dass die Abgeordneten in Montecristi zusammentraten, dem Geburtsort von Eloy Alfaro, eines progressiven liberalen Politikers vom Ende des 19. Jahrhunderts, auf dessen Erbe sich die entschiedene Linke Ecuadors gern berief. Präsident dieser Konstituierenden Versammlung wurde Alberto Acosta, der zuvor als Minister für Energie einen aufsehenerregenden Vorschlag zum Verzicht auf Erdölförderung in ökologisch problematischen Regenwaldgebieten gegen Entschädigungszahlungen aus den entwickelten Ländern hervorgetreten war. Acosta hat die Arbeit an der Verfassung hervorragend koordiniert und dabei als Mitglied von „Alianza Pais“ auch den Respekt vieler Abgeordneter der Opposition errungen. Die Verfassungsdiskussion in Montecristi war außerordentlich gründlich, manchmal ausufernd, sie ging unter Hinzuziehung vieler Experten und von Abgesandten gesellschaftlicher Gruppen in zehn „mesas“ (Kommissionen oder Arbeitsgruppen) vonstatten, die über bestimmte Themen berieten – wobei in den meisten Fällen die Abgeordneten der Oppositionsparteien konstruktiv an der Klärung von Sachproblemen mitwirkten. Gewiss kam es in den Plenarsitzungen gelegentlich auch zu heftigen Konfrontationen, aber nicht zu einer gezielten und fortlaufenden Sabotage an der verfassunggebenden Arbeit wie in Bolivien. ...
Vergleichende Aspekte der beiden neuen Verfassungen Boliviens und Ecuadors
Obwohl der Verfassungsprozess Boliviens früher begonnen hat als in Ecuador, sieht es gegenwärtig so aus, als ob die neue Verfassung Ecuadors früher verabschiedet wird als die Boliviens. Für die Volksabstimmung über die Verfassung in Ecuador ist bereits ein fester Termin vorgesehen, und zwar der 28. September. Rafael Correa setzt alles auf diese Karte: im Falle einer Zustimmung kann er dann Neuwahlen ausschreiben und auf eine Mehrheit im neuen Kongress hoffen, im Falle der Ablehnung müsste er allerdings mit einem Kongress weiterregieren, in dem die Opposition noch immer die Mehrheit hat. In Bolivien ist dagegen nach den Erklärungen von Evo Morales als Reaktion auf seine eindrucksvolle Bestätigung am 10. August der Verfassungsprozess wieder offen: der Präsident selbst sieht die Notwendigkeit, den Autonomiebestrebungen der Halbmond-Departements in vertretbarem Umfang Rechnung zu tragen und in direkten Verhandlungen einen Ausgleich auszuhandeln. Damit rückt die Verabschiedung einer neuen Verfassung Boliviens wieder in eine heute nicht bestimmbare Zukunft.
Beide Verfassungsprozesse wurden zunächst einmal von dem Ziel bestimmt, den ausgeschlossenen und diskriminierten indigenen Völkern zu einer vollen Anerkennung in einer neuen staatlichen Grundordnung zu verhelfen. Dabei handelte es sich jedoch nicht um den Schutz bedrohter Minderheiten, sondern darum, dass zuvor ignorierte Mehrheiten ihre moralischen Prinzipien und in einem gewissen Maße auch überkommene kollektive Lebens- und Wirtschaftsformen zu Bestandteilen einer neuen Verfassung des ganzen Staates machen. In beiden Verfassungen werden solche Prinzipien benannt, so im Artikel 8 des bolivianischen Verfassungsentwurfs, der die ethisch-moralischen Prinzipien, nach denen der Staat handeln muss, auf Aymara benennt: Du sollst nicht faul sein, du sollst nicht lügen, du sollst kein Dieb sein“ Das oberste Prinzip, das an vielen Stellen wieder zitiert wird, ist „vivir bien“„gut leben“: „gut“ im Sinne des Einklangs mit seinen Mitmenschen und der Natur, was jedenfalls hemmungslose Konkurrenz und das ständige Hetzen nach „besserem“ Leben, angetrieben von Profitstreben, ausschließt. In ähnlicher Weise postuliert die neue Verfassung Ecuadors das „buen vivir“, das gute oder rechte Leben als Gegenbild zur neoliberalen Zerstörung jedes gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Grundsätze des „buen vivir“ werden immer wieder beschworen und sogar in einem umfangreichen Abschnitt der Verfassung zusammenfassend dargelegt.
Gerade der Rückgriff auf das Erbe der vorkolonialen Völker soll den Opfern neoliberaler Experimente einen Neuanfang ermöglichen. Darin besteht auch die Bedeutung der Diskussion um den Begriff der „Plurinationalität“, der in beiden Ländern in die Verfassungstexte aufgenommen wurde. Ob dies Konsequenzen für alle Abschnitte der Verfassungen hat, steht auf einem anderen Blatt und konnte hier nur exemplarisch am Beispiel der offiziellen Sprachen erörtert werden. Beide Verfassungen werden aber nicht nur durch Wertschätzung eines vorkolonialen Erbes geprägt, sondern auch durch den Anschluss an eine fortgeschrittene internationale Diskussion: Ein erweiterter Menschenrechtsbegriff wird benutzt und entfaltet, dadurch wird es möglich, die kollektiven Rechte indigener Völker als Teil der allgemeinen Menschenrechte zu interpretieren.
Den neuen Verfassungen ist auch gemeinsam, dass sie im Gegensatz zum neoliberalen Staatsabbau dem Staat als Sachwalter und Verteidiger des Gemeinwesens wieder vielfältige Kompetenzen einräumen, von der Verantwortung für Erziehung, Gesundheit, soziale Sicherung und lebenswichtige öffentliche Dienstleistungen (Wasser, Energieversorgung) bis hin zu einer aktiven Rolle im Wirtschaftsleben, mit öffentlichem Eigentum in den strategisch wichtigen Wirtschaftssektoren. Andere Eigentumsformen werden anerkannt und garantiert, auch das Privateigentum, aber der Weg zu weitreichender Sozialisierung ist nicht versperrt. Unfangreiche Partizipations-Bestimmungen sollen sicherstellen, dass der Staat selbst demokratisiert wird und „Verstaatlichung“ nicht wieder in bürokratische Willkür und Ineffizienz einmündet. Dem kommunitären Eigentum der indigenen Völker wird besonderer Schutz und Förderung zugesprochen, und das Schicksal beider Länder wird davon abhängen, wie die Konflikte mit Großgrundbesitz und Großkapital ausgetragen werden, die sich aus der Verwirklichung solcher Verfassungspostulate zwangsläufig ergeben.