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Auszüge aus dem Plädoyer im prominent gewordenen Fall "Zheng Enchong"

Lesedauer: 10 Minuten

Erstinstanzliche Verhandlung des Falles „der illegalen Verbreitung von Staatsgeheimnissen“ durch Zheng Enchong

19. November 2008
Von Zhang Sizhi



Zum Fall

Zheng Enchong ist ein Rechtsanwalt aus Shanghai. Er wurde 2003 wegen "der illegalen Verbreitung von Staatsgeheimnissen" angeklagt und zu drei Jahren Haft verurteilt. Er hatte ueber 500 Familien vertreten, die in Shanghai aufgrund von Bauvorhaben ihre Wohnungen räumen mussten und sich fuer eine angemessene Entschädigung eingesetzt. Zhang Sizhi wurde sein Anwalt und besuchte ihn in Shanghai; waehrend seines gesamten Aufenthaltes wurde Zhang Sizhi von zwei Polizeiwagen "eskortiert". Zheng Enchong erhielt am 09.12.2005 in Abwesenheit den Menschenrechtspreis des Deutschen Richterbundes. Vor zwei Jahren wurde er aus der Haft entlassen.

 

Plädoyer von Zhang Sizhi

28.08.2003 Shanghai, Volkgericht mittlerer Ebene Nr. 2

"Vorsitzender Richter, Richter des Kollegialgerichtes: ...

Ich möchte Folgendes ergänzen: Insgesamt entspricht der Inhalt der Anklageschrift keinesfalls den Erfordernissen der „Strafverfahrensregeln der Volksstaatsanwaltschaft“. In § 281 II heißt es: (Die Anklageschrift enthält) „die Fakten des Sachverhalts, einschließlich Zeit, Ort, Verlauf, Mittel, Motiv, Absicht, nachteilige Folgen usw.“ Die Anklageschrift lässt das im Grunde aus, Motiv und Absicht der Straftat sowie Mittel des Angeklagten werden nicht deutlich gemacht, die Umstände der Straftat wird nicht begründet und es wird nicht dargelegt, welche nachteiligen Folgen das Verhalten von Zheng Enchong hatte.

Auch wenn Zheng Enchong eines Verbrechens beschuldigt wurde, so gibt es dennoch kein „Motiv“ und keine „Absicht“, es fehlen die „Mittel“, ganz zu schweigen von den „Folgen“. Kurzum, es fehlen sowohl die objektiven als auch die subjektiven Bedingungen für eine Straftat und außerdem  natürlich die notwendige organische Einheit beider. Dieser Mangel ist der Hauptgrund dafür, dass die Anklage nicht zwischen Straftat und Nicht-Straftat unterscheiden kann. Dieser Mangel ist auch die wichtigste Grundlage dafür, dass wir die Anklageschrift ablehnen. Wir bitten die Richter eingehend zu prüfen, ob die Anklageschrift den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht.

Nachfolgend aufgeführt sind Zweifel in Bezug auf die Beweise in diesem Fall sowie mein Standpunkt bezüglich der Verteidigung von Zheng Enchong:

I. In der Anklageschrift heißt es:

„Zheng Enchong erfuhr in der letzten Dekade des Monats Mai [2003] von einem Polizeibeamten namens Xu etwas über die Behandlung eines plötzlichen Massen-Zwischenfalles in der Shanghaier Yimin Lebensmittelfabrik Nr. 1 durch die Behörden für Öffentliche Sicherheit der Stadt Shanghai. Nachdem er von diesem Geheimnis erfahren hatte, machte er sich Notizen, ordnete sie ... und schickte eine handschriftliche Darstellung des oben genannten Geheimnisses per Fax an Human Rights in China in New York.“ „Das Büro für Staatsgeheimnisse der Stadt Shanghai hat die oben genannten Geheimnisse als Staatsgeheimnisse der Geheimhaltungsstufe klassifiziert.“

Dazu haben wir folgende drei Fragen bzw. Behauptungen:

1. Die „handschriftliche Darstellung“, die von der Anklage zur Überführung [des Angeklagten] verwendet wird, wurde nicht als wichtiges Beweismittel dem Gericht vorgelegt. In der Verhandlung wurde eine Vorlage verweigert, da Staatsgeheimnisse betroffen sind, die „Darstellung“ wurde lediglich vor Gericht erläutert. Wir sind der Auffassung, dass das eine Benachteiligung der Anwälte darstellt und haben dagegen Einspruch erhoben, den das Gericht zurückgewiesen hat. Es ist darauf hinzuweisen, dass, weil dieser Fall ein Staatsgeheimnis betrifft, die Verhandlung nicht öffentlich ist. Der Inhalt der Verhandlung ist geheim, alle an der Verhandlung Beteiligten haben das Recht, ihre Meinung zu den in der Verhandlung genannten Geheimnissen zu äußern.

Sollte jemand die Gelegenheit zur Indiskretion nutzen wollen, gibt es selbstverständlich Gesetze zur Normierung des Verhaltens. Einschlägige Vorschriften finden sich in  Abschnitt 1.4 und Abschnitt 4.1. der „Gemeinsamen Mitteilung über einige konkrete Regelungen bezüglich der Teilnahme von Anwälten an Gerichtsverfahren“ des Obersten Volksgerichtes, der Obersten Volksstaatsanwaltschaft, des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit und des Ministeriums für Justiz. Niemand hat das Recht, diese zu verletzen. Auf welcher Grundlage würden Anwälte anderenfalls ihrer Verpflichtung zur Verteidigung nachkommen? Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft hat in gewissem Maße das Recht des Angeklagten und des Verteidigers auf Verteidigung eingeschränkt. Das muss korrigiert werden.

Wir wissen aus anderen Materialien zum Fall, dass die oben genannte, per Fax an Human Rights in China gesandte „handschriftliche Darstellung“ nicht mehr als folgende zwei Punkte enthält: 1., die Arbeiter der Yimin Lebensmittelfabrik Nr. 1 haben einen sogenannten „plötzlichen Zwischenfall“ veranstaltet; 2., die Behörden für Öffentliche Sicherheit haben als Reaktion auf den Zwischenfall die Ordnung vor Ort bewahrt. Punkt eins bedeutet, dass die Arbeiter und Angestellten einer kleinen Fabrik im Kampf um ihr Recht auf Arbeit diesen „Massen-Zwischenfall“ initiiert haben und zwar in Form einer „Demonstration“, was ein in der Verfassung garantiertes Grundrecht ist. Und Punkt zwei, dass die Polizei Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit ergriffen hat, um eine Eskalation der Situation zu verhindern.

Das ist weder eine Angelegenheit, die „die Sicherheit und Interessen des Staates betrifft“ wie es § 2 des „Gesetzes zum Schutz von Staatsgeheimnissen“ festlegt, noch ist es eines der sieben Beispiele für „geheime Angelegenheiten“, die § 8 V des Gesetzes aufführt. In § 8 V des Gesetzes heißt es: „In § 2 dieses Gesetzes nicht genannte Punkte gehören nicht zu den Staatsgeheimnissen.“ Die oben genannten, von Zheng Enchong per Fax an Human Rights in China gesandten Materialien, einschließlich der handschriftlichen und maschinengeschriebenen Version, sind eindeutig keine Staatsgeheimnisse. Diese Anschuldigung der Anklage hat keine rechtliche Grundlage.

2. [...] Folgendes wird hinzugefügt, um unsere Ansichten noch deutlicher darzulegen und einige Punkte zu klären: Es gibt Angelegenheiten und Sachverhalte, die keine „Staatsgeheimnisse“ sind, aber von einigen aus dieser Branche oder von Befürwortern engstirniger regionaler Teilinteressen stur als „Geheimnisse“ eingestuft werden. Sie werden intern kontrolliert und im Nachhinein beurteilt. Die allgemeine Öffentlichkeit weiß meist nicht, was sie tun soll, wird aber immer in die Verantwortung genommen.

Nehmen wir z. B. die SARS-Epidemie im Winter des letzten und Frühjahr dieses Jahres, die von den Machthabern als „geheim“ betrachtet wurde, bis der ehrliche Dr. Jiang Yanyong den ausländischen Medien dieses „Geheimnis“ mitteilte. Die Epidemie wurde schließlich unter Kontrolle gebracht, wodurch wer weiß wie viele Leben gerettet wurden! Aber stellt Dr. Jiangs Handeln nicht gemäß der Logik der Anklageschrift eine Straftat, nämlich die der „illegalen Verbreitung von Staatsgeheimnissen“, dar? Das ist natürlich nicht akzeptabel. [...]

3. Unter Berufung auf die beiden oben genannten Punkte vertrete ich folgende Auffassung: Fraglos wurden Berichte und kritische Kommentare zur Frage der Umsiedlung, die die breite Öffentlichkeit interessiert, und zur Menschenrechtsfrage, die im Ausland aufmerksam verfolgt wird, verfasst. Im heutigen Informationszeitalter kann eine umfassende Verbreitung von Informationen nicht verhindert werden. Ob nun die Methoden richtig oder falsch sind, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen und es ist schwer, Einigkeit zu erzielen. Aber in Übereinstimmung mit dem Geist der Verfassung ist es keine Straftat und das muss eine unbestrittene Tatsache sein. [...]

II. Im zweiten Punkt der Anklageschrift/ Tatbestand, heißt es:

Zheng Enchong „hat eine Kopie des Artikels‚Vorgehen gegen Journalisten, die über Unruhen nach Zwangsumsiedlung berichteten’, veröffentlicht in ‚Ausgewählte interne Referenzmaterialien’ (2003 Ausgabe 17) der Xinhua Nachrichtenagentur an Human Rights in China in New York gefaxt. [...] Das Büro für Staatsgeheimnisse der Stadt Shanghai hat die oben genannten Geheimnisse als Staatsgeheimnisse der Geheimhaltungsstufe klassifiziert.“ Dazu möchte ich ergänzend drei Punkte zur Verteidigung anführen.

1. Der oben genannte Artikel‚Vorgehen gegen Journalisten, die über Unruhen nach Zwangsumsiedlung berichteten’ (im Folgenden kurz „Zwangsumsiedlung“)  ist eine Drahtnachricht der Xinhua Agentur mit der Überschrift „Nachrichtenüberwachung“. Immer und überall ist „Nachrichtenüberwachung“ öffentlich, transparent, zeitnah und akkurat. Aufsicht, Überwachung, Beobachtung und Abhören können zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort zu „Geheimnissen“ werden, aber Überwachung, vor allem „Nachrichtenüberwachung“ kann niemals zu einem Staatsgeheimnis werden. „Nachrichtenüberwachung“ der Xinhua-Agentur ist ein Sprachrohr für Partei und Volk, wie kann sie etwas vor dem Volk geheim halten?

Gerade weil die Nachrichtenüberwachung öffentlich und transparent ist, kann die Drahtnachricht „Zwangsumsiedlung“ nicht als „Geheimnis“ oder „Verschlusssache“ eingestuft werden. Die Staatsanwaltschaft hat dem Gericht „Beweismaterial“ der Xinhua-Agentur zur Begutachtung vorgelegt, dieses umfasst insgesamt 55 Schriftzeichen. Dieses Material bestätigt, dass „ein Journalist unserer Agentur den Artikel ‚Zwangsumsiedlung’ verfasst hat, der in der Ausgabe 17 von ‚Ausgewählte interne Referenzmaterialien’, herausgegeben von der Xinhua-Agentur, erschienen ist“. Es wird mit keinem Wort erwähnt, dass dabei „Staatsgeheimnisse“ oder „Geheimdokumente“ berührt werden. Aus diesem Grund kann die Anschuldigung, Zheng Enchong habe „illegal Staatsgeheimnisse verbreitet“, nicht aufrechterhalten werden. [...]

3. Es muss klargestellt werden: Zhao Hanxiang, unbeteiligt in diesem Fall, hat am 28. Mai eine Kopie des Artikels „Zwangsumsiedlung“ auf der Strasse als Handzettel erhalten. Da zwischen ihm und Zheng Enchong in einem anderen Verfahren ein Klienten-Vertreter-Verhältnis bestand, gab er den Handzettel an Zheng Enchong weiter. Am selben Abend erhielt Zheng Enchong dieselbe Information noch einmal aus Hongkong.

Wie kann jemand davon überzeugt werden, dass ein Handzettel oder eine Nachricht aus dem Ausland ein „Staatsgeheimnis“ ist? Alle, die die Handzettel verteilten oder „illegal in deren Besitz kamen“, wurden von der Polizei aufgespürt, aber keiner wurde (strafrechtlich) verfolgt. Infolgedessen wird deutlich, dass das Dokument kein „Geheimnis“ ist, warum ist man sonst so vorgegangen? Es darf nicht übersehen werden, dass dies mit dem Fall von Zheng Enchong zu tun hat. [...]

Vorsitzender Richter, nach der heutigen Verhandlung, unter Berücksichtigung des gesamten Verfahrens und der Würdigung der Beweise sind wir von der Objektivität der Richter und hocheffizienten Art und Weise der Rechtsprechung beeindruckt. Bei der Betrachtung des gesamten Falles spüren wir deutlich die Komplexität äußerer Faktoren. Die tiefgehenden gesellschaftlichen Hintergründe des Falles von Zheng Enchong erschweren es dem Kollegialgericht, unbeeinflusst und neutral zu bleiben. Als Anwalt beunruhigt mich das.

Ich möchte mich vor diesem Gericht nicht zu Zheng Enchongs offenkundiger anwaltlicher Qualifikation äußern, aber ich möchte sagen, dass Zheng Enchong in seiner Arbeit als juristischer Beistand für unzählige Opfer der Umsiedlung Jahr für Jahr fleißig, engagiert, aufrichtig und ehrlich war, sich viele Verdienste und den Respekt der breiten Öffentlichkeit erworben hat. Wegen seiner Sturheit und des Mangels an „Selbstschutzbewusstsein“ haben ihn einige von Gier Geblendete ausgenutzt und ihm Schaden zugefügt.

Die Polizei war voreingenommen und handelte willkürlich; die Staatsanwaltschaft verletzte ihre Aufsichtspflicht und stellte falsche Anschuldigungen auf. Aus diesem Grund bitte ich das Gericht, das tatsächliche Verhalten von Zheng Enchong und den gesamten Entwicklungsgang zu berücksichtigen. Bedenken Sie, dass sein Verhalten keinen gesellschaftlichen Schaden hervorgerufen hat und er selbst keine subjektive Gefahr darstellt. Befinden Sie ihn auf dieser Grundlage für nicht schuldig, stellen Sie seinen Ruf wieder her, so dass er noch besser den Interessen des Volkes dienen kann.

Sehr geehrte Richter, es ist schwierig, den Beruf des Anwalts auszuüben.

Die Anwälte, die  ihren  beruflichen Pflichten selbstlos und furchtlos nachgehen, stoßen häufig auf Schwierigkeiten. Es ist erschütternd und zugleich Grund zum Nachdenken, dass Hunderte Anwälte in Ausübung ihres Berufes ins Gefängnis kommen. Ich möchte an alle betreffenden Abteilungen die Bitte richten, ihre juristischen Empfehlungen vorzubringen und praktische Maßnahmen zu ergreifen, um das berufliche Umfeld für Anwälte zu verbessern, damit wir Anwälte wirklich zu einer Stütze im Rechtssystem werden und unser Möglichstes auf dem Weg zu einem demokratischen Rechtsstaat tun können: Zum Nutzen des Staates, zum Nutzen des Volkes, für die Zukunft!

Wir haben großes Vertrauen in die Rechtsprechung der Richter. Wir zählen auf die Gerechtigkeit des Kollegialgerichtes.

[Vorsitzender Richter: "Vorschläge können außerhalb des Gerichtssaales gemacht werden."]

Ich werde die Entscheidung des Vorsitzenden Richters respektieren. Damit sind meine Ausführungen beendet."