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Laudatio von Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Lesedauer: 5 Minuten

Rede zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises 2003 an Michael Ignatieff

26. November 2008
Von Ralf Fücks

Als ich von der Entscheidung der Jury über die Vergabe des Hannah Arendt Preises 2003 erfuhr, erschien sie mir fast selbstverständlich. Selten habe ich eine so große Übereinstimmung von Preis und Preisträger empfunden wie in diesem Fall.

Michael Ignatieff ist einer der hervorragenden politischen Denker unserer Zeit – ein politischer Intellektueller, der ganz im Sinne der Maxime Heinrich Bölls – Einmischung erwünscht! – handelt, der sich nicht in den akademischen Elfenbeinturm geflüchtet hat, sondern sich mitten im Handgemenge bewegt.

Sein Repertoire umfasst den Essay wie die Reportage, er hat Fernsehfilme gedreht und Radioprogramme geleitet, und er hat literarische Anerkennung mit seinen Romanen und mit seiner Familiensaga gefunden – der Geschichte einer russischen Emigrantenfamilie, die es nach Frankreich und Kanada verschlägt. Auch diese stilistische Vielseitigkeit hat er mit Hannah Arendt gemeinsam – die lebendige Kommunikation mit politischen Öffentlichkeit, die sich über die Grenzen von Wissenschaft und Journalismus hinwegsetzt.

Ignatieff ist eine Person des öffentlichen Lebens. Es geht ihm nicht allein um akademische Reputation, sondern um politische Intervention durch Aufklärung: durch das Verstehen dessen, was in der Welt geschieht und was wir tun können, um sie menschlicher zu machen – oder zumindest, um zu verhindern, dass die Barbarei Raum gewinnt.

Er ist in die Brennpunkte der neuen ethno-nationalistischen Kriege gegangen, nach Bosnien, Serbien und Kroatien; er ist in Ruanda gewesen, einem Ort des Versagens des Westens angesichts eines vorhersehbaren Völkermords; er hat sich selbst ein Bild von der Konfliktlage in Afghanistan gemacht, wo sich wie in einem Brennglas die Schwierigkeiten des „nation building“ in einer tribalistischen und islamisch-konservativen Gesellschaft zeigen.

In Afghanistan konnte man bereits studieren, was sich im Irak unter anderen Umständen wiederholt: Für eine Macht wie die USA ist es vergleichsweise einfach, autoritäre Regimes militärisch aus dem Sattel zu werfen – die eigentlichen Schwierigkeiten kommen erst danach , wenn es darum geht, eine zivile Gesellschaft und einen halbwegs demokratischen Staat aufzubauen, wo weder das eine noch das andere in der Tradition des Landes verankert ist.

Ignatieff hat sich intensiv mit der Frage der moralischen Legitimation und des politischen Sinns von militärischen Interventionen auseinandergesetzt – jenseits eines Pazifismus, der allzu oft nicht von Appeasement-Politik und einer unpolitischen „ohne mich“- Haltung zu unterscheiden ist; zugleich in kritischer Distanz zu Gewaltpolitik und naivem Aktionismus. Dabei wirft er sowohl einen kritischen Blick auf die Gefahren politischer und moralischer Überheblichkeit des Westens wie auf die Herausforderungen, die der Demokratie durch das Aufkommen neuer totalitärer Bewegungen drohen: den militanten Ethno-Nationalismus, wie er sich auf dem Balkan ausgetobt hat, und den religiös aufgeladenen Fundamentalismus, dessen Terror sich unterschiedslos gegen die westliche Zivilisation und ihre Verbündeten richtet. Unsere Gesellschaft, zumal ihr links-liberaler Teil, neigt dazu, diese Gefahren zu verdrängen, weil wir die unangenehmen Konsequenzen aus dieser Einsicht scheuen – aber es wäre fatal, die Anschläge des 11.09.2001 oder die jüngsten Massaker in Istanbul nicht als das zu lesen, was sie sind: als eine Kriegserklärung gegen die westliche Zivilisation, der wir entschlossen und klug begegnen müssen.

Ignatieff greift Fragen wieder auf, die das Werk von Hannah Arendt durchziehen: nach den Ursprüngen totalitärer Bewegungen, dem Verhältnis von Moral und Politik und nach der Reichweite unserer Verantwortung gegenüber Dritten. Auch insofern passt der Hannah-Arendt-Preis bestens zu ihm und er zu dem Preis. Er gehört zur Kategorie der liberalen Internationalisten, von denen es bei uns zu wenige gibt und die hierzulande allzu leicht in die Schublade des Neo-Imperialismus gesteckt werden, weil sie eine pro-aktive Politik zugunsten der Menschenrechte vertreten.

Es ist eine wichtige Funktion des Hannah-Arendt-Preises, politischen Vordenkern wie Michael Ignatieff ein Forum zu geben und zugleich an ihrer Person und ihrem Werk eine öffentliche Reflexion über die res publica zu inszenieren. Wir brauchen solche Orte einer republikanischen Selbstvergewisserung über unsere Haltung zu den großen Konfliktfragen der Welt und in unserer Gesellschaft gerade in Zeiten, in denen die Konfliktpotentiale zunehmen. Wir brauchen sie gerade in Deutschland, wo wir uns mitten in einem geistigen und politischen Umbruch befinden. Die Verwerfungen in der internationalen Politik machen die Frage nach der internationalen Rolle Deutschlands, der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU und der Zukunft der transatlantischen Allianz unausweichlich: gibt es den Westen als Werte- und Handlungsgemeinschaft noch und soll es ihn noch geben? Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs so selbstverständlich, wie sie es noch vor wenigen Jahren war.

Die Debatte um die internationale Orientierung der Bundesrepublik mischt sich auf brisante Weise mit einer Neubestimmung unserer nationalen Identität, die sich quasi hinter unserem Rücken entwickelt hat. Katalysatoren für diese Neuorientierung mit ungewissem Ausgang waren die neue deutsche Opferdebatte, die sich am Bombenkrieg der Alliierten und an der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten manifestierte, aber auch die Walser-Rede in der Frankfurter Paulskirche. Es geht offenbar darum, endlich aus dem Schatten des Holocaust und des Vernichtungskriegs im Osten herauszutreten und das kollektive schlechte Gewissen abzuschütteln – ein Motiv, das aus jede Zeile der Fuldaer Rede des inzwischen fraktionslosen Abgeordneten Hohmann hervorlugt. Gerade angesichts dieser Irrungen und Wirrungen in der geistigen Verfassung der Republik brauchen wir Orte und Institutionen eines wachen und kritischen Bewusstseins wie den Hannah Arendt Preis.

Ich beglückwünsche deshalb nicht nur den Preisträger, sondern auch diejenigen, die dieses Projekt mit zähem Engagement über die Jahre hinweg lebendig gehalten haben.

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