Die gegenwärtige russische Führung betrachtet ihr Land als unabhängiges Machtzentrum inmitten einer multipolaren Welt. Die Integration in den Westen, die Boris Jelzin während der 1990er Jahre vorangetrieben hatte, hat Moskau endgültig aufgegeben. Auch die frühen Versuche Wladimir Putins, sich dem Westen anzunähern – den Vereinigten Staaten mittels einer De-facto-Allianz nach den Terroranschlägen vom 11. September, Europa mittels einer gegenseitigen Verständigung, die durch kräftige Kapitalströme unterstützt werden sollte – sind gescheitert.
Weil Russland sich dem Westen nicht zu dessen Bedingungen anschließen wollte und weil es nicht in der Lage war, dem Westen die russischen Bedingungen zu diktieren, hat es sich für eine Position entschieden, die es eigentlich schon immer innehatte: Es will einen Block postsowjetischer Staaten unter der Führung des Kremls schaffen. Im Streben nach Macht und Anerkennung sieht Moskau überall Rivalen, doch Hauptkonkurrent bleiben die Vereinigten Staaten. In seiner Münchner Rede 2007 nannte Putin die Bedingungen für einen Dialog zwischen Russland und den USA: er verlangte, Washington solle Russland akzeptieren, wie es ist, es als gleichberechtigten Partner behandeln und Geschäfte nur auf der Grundlage gemeinsamer Interessen machen.
Aus Sicht des Kremls wurden diese Forderungen weitgehend ignoriert. Die USA warben für einen Membership Action Plan für Georgien und die Ukraine, der langfristig zu ihrer NATO-Mitgliedschaft führen sollte. Sie rüsteten Tiflis auf, konnten den georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili dann aber nicht unter Kontrolle halten und vereinbarten mit Polen und Tschechien die Stationierung eines Raketenabwehrsystems. Für den Kreml bedeutet die amerikanische Politik gegenüber Georgien und der Ukraine vor allem, Russlands Streben nach einer selbständigen Position in der Welt zu untergraben. Den Vorschlag einer NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine deutet Moskau als feindselige Zurückweisung eigener Ambitionen. Den georgischen Militäreinsatz gegen die Bewohner Südossetiens und gegen die russischen Friedenstruppen betrachtete man als Versuch der USA, das Führungsvermögen von Putin und Medwedjew zu erproben. Als der Westen während des Georgienkrieges darüber nachdachte, wo Russland wohl als Nächstes zuschlagen würde, fürchtete die russische Regierung, von den USA in einen weiteren Stellvertreterkonflikt hineingezogen zu werden.
Moskau weiß, dass es nur auf sich selbst zählen kann. Der Umstand, dass kein einziger der russischen Alliierten in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und nicht einmal Weißrussland die russische Anerkennung Abchasiens und Südossetiens unterstützten, lastet sehr auf den Gemütern im Kreml. Dass auch China sich zurückhielt, machte die Belastung nur größer. Die Maxime Alexanders III., dass „Russland nur zwei wahre Freunde in der Welt hat: seine Armee und seine Flotte“, scheint mehr als ein Jahrhundert später nachdrücklich bestätigt. Russland ist heute kein Machtzentrum, es ist eine einsame Macht.
Kein Wunder, dass Russland immer stärker auf nukleare Abschreckung setzte, als sich die Beziehungen zu den USA verschlechterten. Russlands konventionelle Streitkräfte, seit sowjetischen Zeiten extrem vernachlässigt, sind derzeit allenfalls in der Lage, mit Aufständen wie in Tschetschenien und mit Kleinkonflikten wie in Südossetien umzugehen. Nach einer langen Pause hat die Luftwaffe immerhin wieder begonnen, über dem Atlantik und dem Pazifik zu patrouillieren. Und die Marine peilt eine ständige Präsenz im Mittelmeer und im Indischen Ozean an. Aber beide Vorhaben sind ein Schatten früherer sowjetischer Ambitionen. Zur Aufrüstung seiner Armee stellte Russland unlängst fast 100 Milliarden Dollar bereit – das größte Rüstungspaket der vergangenen 20 Jahre. Auch ein Plan zur Armeereform wurde im vergangenen Jahr gebilligt. Es werden allerdings Jahre vergehen, ehe die Ergebnisse dieser Bemühungen spürbar werden.
Die russische Sicherheitsstrategie ist komplex. Auf der einen Ebene versucht Moskau, Washington von „unfreundlichen Aktionen“ abzuhalten, indem es auf den hohen Preis hinweist, den eine Auseinandersetzung mit Russland hätte. Von Barack Obama verspricht sich der Kreml eine Wiederaufnahme der Abrüstungsverhandlungen. Zudem wird Moskau auszuloten versuchen, ob sich in den für Russland drängendsten Fragen ein Ausgleich erreichen lässt: die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO, die Aufrüstung Georgiens durch den Westen und das Raketenabwehrsystem in Europa. Im Gegenzug könnte Russland dem Westen eine engere Zusammenarbeit im Umgang mit Afghanistan und Iran anbieten.
Auf einer anderen Ebene baut Russland auf sein Verhältnis zu den großen europäischen Ländern, vor allem Deutschland und Frankreich, um einem Beitritt der Ukraine und Georgiens in die NATO zu verhindern. In einem Europa, das von dem Duo NATO/EU dominiert wird, fühlt sich Russland ins Abseits geschoben. Seit seinem Amtsantritt 2008 setzt sich Präsident Medwedjew daher für die Idee eines Sicherheitsdialogs in Europa ein, der idealerweise zu einer neuen transatlantischen Sicherheitsarchitektur führen soll, die um drei Pole herum gebaut wäre: die Vereinigten Staaten, Europa und Russland.
Auf einer dritten Ebene arbeitet Russland schließlich daran, den Zusammenhalt und die Effektivität der OVKS zu stärken – einerseits mit Blick auf den beginnenden Sicherheitsdialog mit dem Westen, andererseits mit Rücksicht auf die Herausforderungen einer wachsenden islamistischen Militanz, vornehmlich in Zentralasien. Auf ähnliche Weise kooperiert Moskau bereits mit Peking im Rahmen der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit. Ziel ist es, das eigene Gewicht gegenüber dem Westen zu erhöhen und dabei das Gleichgewicht im Zentrum des asiatischen Kontinents aufrechtzuerhalten.
Der fundamentale Fehler der bisherigen russischen Sicherheitspolitik besteht in ihrer Fixierung auf die USA. Amerika als Hauptfeind – diese Perspektive verwirrt Moskaus strategische Weltanschauung. Sie führt dazu, dass Ressourcen verschwendet werden, und sie produziert Enttäuschung über das immense Ungleichgewicht zwischen den ehemaligen Rivalen des Kalten Krieges. Letztlich wird sich die russische Führung mit Schadenfreude begnügen müssen und jedes Mal jubeln, wenn Amerika Rückschläge einsteckt. Das ist erbärmlich für Russland.
Man kann nicht erwarten, dass sich dies von heute auf morgen ändern könnte. Man muss mit dieser Situation so gut wie möglich umgehen: einen neuen Vertrag zur Reduktion strategischer Waffen aushandeln; sich über das Raketenabwehrsystem verständigen; der Ukraine eine langfristige europäische Perspektive bieten, ihr aber einen NATO-Beitritt verwehren (den die Mehrheit der Ukrainer ablehnt); Rahmenbedingungen für eine multilaterale Konfliktlösung im Kaukasus schaffen; eine Formel für die transatlantische Sicherheit finden, die Russland sowie die Ukraine, Georgien und die Mitglieder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten einschließt; und man muss die Sicherheitsprobleme in Afghanistan und im Iran in einer russisch-westlichen Zusammenarbeit angehen.
Dmitri Trenin ist Direktor des Carnegie Center in Moskau. Sein Beitrag ist mit freundlicher Genehmigung der Security Times entnommen, einer Sonderbeilage der Atlantic Times zur Münchner Sicherheitskonferenz 2009.