Von Ralf Fücks
Ich möchte gern zu Beginn Adam Michnik zitieren, der bei einem Vortrag gestern Abend in Berlin 1989 als europäisches "annus mirabilis" bezeichnet hat, als ein Jahr der Wunder - er hat dazu auch eine wunderbare Anekdote erzählt, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte: In den Jahren, als die sowjetische Herrschaftssphäre in Mittel-Osteuropa noch fest gefügt schien, fragten sich die Polen, wie sie wohl jemals wieder ihre Unabhängigkeit und Freiheit gewinnen könnten. Zwei Lösungen kamen in Frage: Erstens - der Erzengel Gabriel würde vom Himmel herabfahren und die russischen Truppen vertreiben. Das war die naheliegende Lösung. Und dann gab es noch die Möglichkeit eines Wunders: dass nämlich die Polen selbst dafür sorgen.
Genau so ist es gekommen. Die friedliche Revolution von 1989 war ein Wunder, das von Menschen gemacht wurde. Kaum jemand - Ausnahmen werden wir heute Abend noch kennenlernen - hat vorausgesehen, dass eine grenzüberschreitende Volksbewegung binnen weniger Monate die realsozialistischen Regimes zum Einsturz bringen und die mächtige Sowjetunion zum Rückzug auf die inneren Grenzen Russlands bewegen würde - schon gar kein westlicher Staatsmann, wenn man einmal von Ronald Reagans legendärem Aufruf vom Juni 1987 an der Berliner Mauer absieht: "Mr.Gorbatchev, tear down this wall!". Aber weder die US-Diplomatie noch die europäischen Regierungen haben daran ernstlich geglaubt, und manche haben es sich auch gar nicht gewünscht. Ihnen waren zwei Deutschländer lieber als eins.
Dieses Wunder der Freiheit fiel nicht vom Himmel - es hat eine lange Vorgeschichte; die Charta 77 gehört unbedingt dazu wie die Solidarnosc in Polen; man kann noch weiter zurückgehen bis zum Prager Frühling von 1968 und zu den sowjetischen Dissidenten um André Sacharov, oder noch weiter bis zum Ungarn-Aufstand von 1956 und dem 17. Juni 1953 in der DDR, der ersten Massenerhebung im sowjetischen Machtbereich nach dem Krieg.
Dass 1989 im Unterschied zu früheren Erhebungen so erfolgreich war, hat auch damit zu tun, dass es eine friedliche Revolution war. Die Panzer von Ostberlin, Budapest und Prag standen noch allen vor Augen, und niemand konnte sicher sein, dass sich diese Tragödien nicht wiederholen würden. Aus diesem Trauma war ein ganz neues Konzept des Widerstands entstanden, das auf Gewaltfreiheit und Dialog mit der Macht gründete und auf friedliche Transformation zielte.
Dass dieses unwahrscheinliche Ereignis tatsächlich geschah, beruhte nicht nur auf der Klugheit und Umsicht der Oppositionellen. Ohne den politischen Frühling in Moskau, ohne Gorbatschows Bereitschaft, die russischen Truppen in den Kasernen zu belassen und die Reformbewegung in den "Bruderländern" gewähren zu lassen, wäre die Geschichte von 1989 in sehr viel dunkleren Farben gezeichnet worden. Das bleibt Gorbatschows historischer Verdienst, auch wenn er auf einem Irrtum beruhte: nämlich der Vorstellung, man könnte das sozialistische System durch Reformen stärken, die tatsächlich seinen Untergang besiegelten.
Wir wollen mit dieser Konferenz nicht nur einen freudigen Rückblick auf jene euphorischen Tage werfen, in denen die Völker Mittel-Osteuropas die Spaltung Europas beendet haben. Wie es unsere Art ist, wollen wir auch eine nüchterne Bilanz der Entwicklungen von damals bis heute ziehen: Was ist aus dem demokratischen Aufbruch von 1989 geworden? Wieweit haben sich die Hoffnungen von damals erfüllt und wo sind sie in Enttäuschung umgeschlagen?
Den Geist der Zeit hat der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in seinem berühmt gewordenen Buch vom "Ende der Geschichte" eingefangen, das 1992 erschien – auch daran hat Adam Michnik gestern erinnert. Fukuyamas Kernthese lautete, dass es mit dem Untergang des realen Sozialismus keinen ernsthaften Gegenentwurf zum Liberalismus mehr gebe, dass also die ganze Welt sich jetzt jener Kombination von Demokratie und Kapitalismus verschreiben werde, die sich in der Systemkonkurrenz als so erfolgreich erwiesen hat. Eine Kernfrage unserer Konferenz lautet: Ist diese Beschreibung noch aktuell? Oder erleben wir nicht vielmehr in zahlreichen Transformationsländern eine Erosion der frisch gewonnenen Demokratie, während zugleich die aktuelle Krise der Weltwirtschaft die Legitimität des Kapitalismus in Frage stellt? Allerdings bedeutet die empirische Krise von Demokratie und Marktwirtschaft noch lange nicht, dass sich Alternativen zu beiden herausbilden, die eine ähnliche Wucht wie die kommunistischen und faschistischen Gegenbewegungen der 30er Jahre entwickeln könnten. Aber das gehört schon zu den offenen Fragen, auf die wir heute und morgen Antworten suchen.
Der Wellenschlag der Freiheit von 1989 reichte weit über Europa hinaus. Auch die chinesische Demokratiebewegung gehört dazu, die auf dem Tiananmen-Platz nach dem alten Muster niedergewalzt wurde. Aber sein Epizentrum hatte er doch in Europa, Russland mit eingeschlossen. Zu seinen wichtigsten Errungenschaften gehörte die politische Wiedervereinigung Europas auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Diese historische Mission, ein freies und vereinigtes Europa zu schaffen, ist noch nicht abgeschlossen. Ich hoffe, wir werden nicht den Fehler begehen, neue, dauerhafte Trennungslinien in Europa zu errichten oder zu akzeptieren, weder gegenüber den Nationen des ehemaligen Jugoslawien noch gegenüber der Türkei, der Ukraine oder Georgien. Gegenwärtig bedrohen die Auswirkungen der ökonomischen Krise selbst den bereits erreichten Stand der europäischen Integration. Wir erleben einen gefährlichen Mangel an europäischer Solidarität und Handlungsfähigkeit in einer Phase, in der wir mehr statt weniger Europa brauchen, um der Krise Herr zu werden. Auch davon wird auf dieser Tagung die Rede sein.
Schließlich wollen wir einen Blick nach vorn werfen: Wo sehen wir Europa in 20 Jahren? Welche Werte und Ziele sollen Europas Zukunft prägen? Denn eins ist klar: so sehr die europäische Einigung starke gemeinsame Institutionen braucht, so wenig kann sie allein von den Institutionen getragen werden. Ohne gemeinsame Werte und Ideale, ohne europäische Öffentlichkeit und eine Verständigung darüber, wie wir in Zukunft unsere Gesellschaft gestalten wollen, fehlt der europäischen Einigung der Schwung, den sie braucht, wenn sie vorankommen soll.
Ich hoffe, dass wir mit dieser Tagung ein wenig zu diesem Schwung beitragen können.