Von Simone Schmollack
Die Schlange vor dem Deutschen Theater an diesem Sonnabend ist lang. An der Kasse werden Karten verkauft für den morgigen Vormittag, für eine Szenische Lesung des Stücks „Gäste kommen und gehen oder Der Verkauf der Landeskinder“. Der Schriftsteller Jürgen Fuchs hat es vor 20 Jahren geschrieben, es handelt von einem ehemaligen Stasi-Häftling, der von der DDR verkauft wird und in Westberlin ankommt. Dort sitzt er in einem Café, schaut sich um, wartet und erinnert sich, trifft Freunde und Zeitgenossen.
Zur gleichen Zeit wird gegenüber, im Haus der Heinrich-Böll-Stiftung, ein Film über den Bürgerrechtler und Oppositionellen Jürgen Fuchs gezeigt. Es ist einige Jahre nach der Wende, Jürgen Fuchs läuft in einem Verhörraum der Stasi-Hochschule in Potsdam auf und ab und erzählt der Kamera von seinen Vernehmungen: Wie die Stasi-Leute ihn befragten, dass er nicht auf die Toilette gehen durfte, wie Telefongespräche simuliert wurden, mit welchen Worten ihm gedroht wurde. Die Schlange draußen auf dem Theatervorplatz reißt nicht ab.
Das Interesse für Jürgen Fuchs an diesem Wochenende ist groß. Genau vor zehn Jahren, am 9. Mai 1999, starb der Schriftsteller und Bürgerrechtler Jürgen Fuchs. Die Heinrich-Böll-Stiftung (in Kooperation mit der Birthler-Behörde, der Stiftung Berliner Mauer und der Robert Havemann Gesellschaft) und das Deutsche Theater erinnern daran.
„Mit seinem Tod ist ein Freund gegangen, wie es in meinem langen Leben keinen zweiten gab“, sagt der Schriftsteller Ralph Giordano. Der Satz wird zum „öffentlichen Geständnis“: Nicht Giordano, der um Jahre älter war, sei der Senior gewesen, sondern der jüngere von ihnen beiden, Jürgen Fuchs. Warum? „Er versetzte mich innerlich in eine bestimmte Position“, sagt Giordano: „Weil er ehrlich war, transparent, durchscheinend. Was er tat, tat er nicht für sich allein, sondern für andere und immer gegen die Freiheitsbeschränker.“
Jürgen Fuchs hatte viele Freunde und zahlreiche Weg- und Leidensgefährten, einige von ihnen treten an diesem warmen, sonnigen Frühlingstag auf, sie erinnern sich öffentlich für ein großes Publikum. Da ist zum Beispiel Thomas Auerbach, ehemaliger Mitarbeiter der Birthler-Behörde. Er lernte Fuchs 1975 kennen, wenige Monate später, im November 1976, wurden er, Fuchs und andere wegen des Protests gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann verhaftet. Auerbach war immer „beeindruckt von seiner Sensibilität“ und von Fuchs‘ „Blick für das Wesentliche“. Dem Bürgerrechtler Wolfgang Templin half Fuchs „beim Aufwachen“, für die Autorin Esther Dischereit hatte er „etwas Hellseherisches“ und der Autor Marko Martin sah in ihm „nicht nur den Ostdeutschen, sondern auch einen europäischen Intellektuellen“.
Roland Jahn, heute Fernsehjournalist, hatte während seiner eigenen Stasi-Vernehmungen immer „Jürgen im Kopf und Jürgen im Herzen“. Bevor Roland Jahn den Menschen Fuchs kennen lernte, schloss er Bekanntschaft mit dem Autor Fuchs, durch dessen „Vernehmungsprotokolle“. Das Buch kam 1978 und damit ein Jahr nach Fuchs‘ Ausweisung aus der DDR heraus, im Osten kursierten in Oppositionellenkreisen ein paar Kopien. Den „Vernehmungsprotokollen“ entnahm Jahn einen wichtigen Rat: Wenn du verhörst wird, schweige. Schweigen produziert Stärke.
Udo Scheer, Publizist und Fuchs-Biograf („Jürgen Fuchs. Ein literarischer Weg in die Opposition“), beeindruckte vor allem Fuchs’ rhetorische Stärke: „Er sagte: Reden wir Klartext.“ Und für Stefan Trobisch-Lütge, Psychoanalytiker und Kollegen in einer psychotherapeutischen Praxis, war Fuchs ein „verschreckender Mensch“: „Er hat nie viel über seine Zeit im Stasi-Knast geredet, ich bekam kaum Zutritt zu seiner Seele. Das war bewundernswert und anstrengend zugleich.“
Jürgen Fuchs, 1950 geboren, kommt schon früh mit der DDR-Obrigkeit in Konflikt. 1968, er macht gerade sein Abitur, sieht er in seinem Heimatort Reichenbach im Vogtland Panzer in Richtung Prag fahren. Es ist wie eine Initialzündung, seitdem soll sein politischer Geist nie mehr Ruhe haben. Nach einem anfänglichen Studienverbot fängt er bei der Deutschen Reichsbahn an und studiert ab 1971 in Jena Sozialpsychologie. Er wird Mitglied der SED, beginnt zu schreiben, lernt den Schriftsteller Lutz Rathenow und die Musiker Bettina Wegner, Gerulf Pannach und Christian Kunert kennen. Nach einem gemeinsamen Auftritt wird Fuchs aus der SED ausgeschlossen und kurz vor dem Diplom exmatrikuliert.
Daraufhin zieht er mit seiner Frau und seiner Tochter ins Gartenhaus von Katja und Robert Havemann nach Grünheide bei Berlin und arbeitet in einer kirchlichen Sozialeinrichtung. Nach den Biermann-Protesten 1976 wird er verhaftet und sitzt neun Monate in Berlin-Hohenschönhausen im Stasi-Gefängnis. 1977 schließlich wird er aus der DDR ausgewiesen.
Als Ralph Giordano Jürgen Fuchs zum ersten Mal trifft, kurz nach dessen Ausbürgerung nach Westberlin, stellt ihm ein Fernsehteam des Bayrischen Rundfunks Fragen. Fragen, die schon andeuten, dass die damalige Bundesrepublik mit DDR-Leuten wie Jürgen Fuchs nicht viel anzufangen weiß. Jürgen Fuchs verweigert sich dem Gespräch und ein Journalist sagt: „Können Sie sich das finanziell überhaupt leisten?“ In diesem Moment fragt sich Ralph Giordiano, wie Jürgen Fuchs „dieses Deutschland“ überhaupt aushalten soll.
Jürgen Fuchs krankt an „diesem Deutschland“. In Westberlin fühlte er sich nie heimisch. „Westberlin war für ihn wie im Exil sein“, sagt der Grünen-Politiker Lukas Beckmann, der Fuchs 1982 im Umfeld einer Friedensdemo kennen lernt. Ostdeutsche Dissidenten im Westen werden lange belächelt und immer wieder gefragt: „Wollt ihr nicht mal endlich ankommen hier?“ Aber Jürgen Fuchs sieht, wie andere Dissidenten auch, seinen Hauptaktionsradius nicht im Westen, sondern noch immer in der DDR. Sie glauben, „noch etwas zu tun zu haben dort“, wie Roland Jahn sagt.
„Das sozialistische Deutschland warf ihn ins Gefängnis. Das westliche Deutschland tat sich schwer mit ihm. Und das vereinigte Deutschland scheint ihn überhören zu wollen“, sagt Marianne Birthler. Sie trat ihre Stelle als Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen erst nach dem Tod von Jürgen Fuchs an und fragt sich, was geschehen wäre, wenn sie zu seinen Lebzeiten miteinander gesprochen hätten. Hätten sie gestritten? „Sicher“, sagt Marianne Birthler. Hätten sie sich darüber entzweit? „Wohl nicht.“
Ähnlich wie dem Dissidenten geht es dem Schriftsteller Fuchs: Die Kritik tut sich schwer mit ihm. Besonders deutlich wird das an „Magdalena“, jenem Buch, das Fuchs beginnt mit den Worten: „Dies ist ein Bericht, es geht um Akten, ein Ministerium, eine Behörde und allerlei Menschen, ihr Tun und Lassen, ihr Zögern und Zappeln, das Wort Ja kommt vor und das Wort Nein.“ Das Thema wird klar umrissen und schon mit den ersten Sätzen wird deutlich: Es geht um den Autor selbst, um Jürgen Fuchs, der in der Ich-Form seine Erlebnisse in der Diktatur und mit der Stasi schildert und dennoch Allgemeingültigkeit herzustellen versucht. Dabei gibt es ein Problem: Zwischen dem dokumentarischen und dem literarischen Ich liegt kein Abstand. Das gefällt dem Feuilleton nicht und es fällt über Fuchs her, es nennt „Magdalena“ einen Nicht-Roman. Lange Zeit wird Fuchs als „Betroffenheitsautor“ geschmäht. Darin aber, sagt Esther Dischereit, lag vor allem eine „Denunziation politischen Schreibens“.
Wie politisch und gleichzeitig wie persönlich jede Zeile von Jürgen Fuchs ist, ist dann noch einmal zu hören. Die Dichterin Herta Müller und die Ehefrau Lilo Fuchs lesen verschiedene Texte. Wolf Biermann und die tschechische MCH-Band erweisen ihm musikalisch die Ehre. Und die Karten fürs Deutsche Theater sind inzwischen restlos ausverkauft.