Ins Offene, Freunde! Die Grünen auf dem Sprung in eine neue Dimension

Von Ralf Fücks
Von Ralf Fücks

Zwölf Prozent für die Grünen bei der Europawahl: Das ist nicht banal, auch wenn der grüne Höhenflug durch den Niedergang der SPD begünstigt und durch die miserable Wahlbeteiligung relativiert wird. Hinter der Zwölf stehen reihenweise Ergebnisse jenseits der 20 Prozent. In mittleren Universitätsstädten ist das schon länger der Fall. Dort sind selbst direkt gewählte grüne Bürgermeister keine Sensation mehr.

Diesmal war die Ökopartei auch in Berlin, Köln, Stuttgart und anderen Großstädten auf Augenhöhe mit SPD und Union. Wer konnte sich vor Jahren vorstellen, dass die Berliner Grünen bei einer bedeutenden Wahl deutlich vor der regierenden SPD und nur knapp hinter der CDU liegen? Gut, das wird sich bei der Bundestagswahl wieder zurecht ruckeln. Doch der Abstand zu den Großen schrumpft, vor allem zur SPD. Bei jüngeren Wählergruppen und Hochschulabsolventen spielen die Grünen in der ersten Liga; bei den Selbständigen lagen sie vor der SPD. Schon kursiert das Wort von der „neuen Volkspartei“.

Ein Fall von Größenwahn? Nicht ganz

Im deutschen Parteiensystem zeichnen sich Verschiebungen ab, die in einer veränderten Tektonik der Gesellschaft gründen. Zwei Begebenheiten der letzten Woche werfen ein Schlaglicht auf die Ausbreitung der grünen Grundströmung. Zum einen empfahl die Redaktion der Financial Times Deutschland, angelsächsischen Gepflogenheiten folgend, ihren Lesern allen Ernstes, es bei der Europawahl mit den Grünen zu versuchen. Zur Begründung hieß es, dass nur sie ein gehaltvolles europapolitisches Programm vorgelegt haben, dass sie in der Kernfrage eines EU-Beitritts der Türkei nicht wackeln und mit dem „Green New Deal“ eine Strategie vertreten, die wirtschaftliche Innovation mit klimapolitischen Zielen verknüpft.

WUMS! Im Adenauerhaus und bei der FDP müssen die Tassen im Schrank geklirrt haben: Ein Wirtschaftsblatt bescheinigt den Grünen Ernsthaftigkeit und Kompetenz in Sachen Wirtschaft und Europa. Einige verschreckte Linke hegten sogleich die Vermutung, dass die Partei gründlich auf dem Holzweg sein müsse, wenn ein Zentralorgan des Kapitalismus sie zur Wahl empfiehlt. Vielmehr ist es aber so, dass der Kapitalismus nur eine Zukunft hat, wenn er die ökologische Wende schafft. Nicht die Grünen biedern sich den Konzernen an, sondern immer mehr Unternehmen sehen in grünen Technologien den Weg aus der Doppelkrise von Wirtschaft und Umwelt.

Die Präferenzen von morgen sind „grün“

Am Tag vor der Europawahl strömte die junge Berliner Designszene zu einem Vortrag von Li Edelkoort, langjährige Präsidentin der Design Academy Eindhoven und Star der internationalen Trendforschung. Edelkoort filterte aus einer Vielzahl verstreuter Phänomene in Kunst, Kultur und Mode neue „Megatrends“, die den Lebensstil der globalen Mittelklassen prägen werden: die Wertschätzung der einfachen Dinge und Genüsse, die Verwendung natürlicher Materialien und regionaler Produkte, die Begrünung der Städte mit vertikalen Gewächshäusern und Dachgärten, eine Kultur des Selbermachens, die Renaissance des Handwerks, eine Vorliebe für Improvisation statt vorgefertigter Perfektion, Recycling statt Wegwerfkultur, die technische Simulation natürlicher Strukturen und Prozesse, das Leben in sozialen Netzwerken.

Es geht hier nicht darum, wie weit und für wen das alles zutrifft. Entscheidend ist, welches Lebensgefühl und welche Leitwerte Edelkoort hervorhebt: es sind „grüne“ Präferenzen. Die Grünen surfen auf einer langen kulturellen Welle, die sie selbst mit hervorgebracht haben. Um es mit Gramsci zu sagen: Sie sind dabei, die kulturelle Hegemonie in den Mittelschichten zu gewinnen.

Das ist kein spezielles deutsches Phänomen. In Skandinavien und den Benelux-Staaten bewegen sich die Grünen in ähnlichen Dimensionen. In Frankreich ist einer ökologischen Allianz bei der Europawahl mit 16 Prozent der große Durchbruch gelungen, hauchdünn hinter den Sozialisten, mit sensationellen 27 Prozent in Paris. Das Charisma eines Dany Cohn-Bendit hat dabei sicher eine Rolle gespielt. Aber der Witz dieses Unternehmens liegt in einer Koalition von Grünen, Bewegungslinken und Bürgerrechtsliberalen, die weit in die Gesellschaft ausgreifen konnte. Auch in den USA ist „grün“ die Farbe der Stunde. „Greening the economy“ ist erklärte Absicht der neuen Regierung, ein umweltbewusster Lebensstil gilt als chic, Spritfresser und besinnungslose Konsumorgien sind out.

Der Zeitgeist wird grün. Ob sie es mögen oder nicht: Die Grünen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ihre Ideen, Ziele, Leitwerte - nachhaltiges Wirtschaften, Selbstbestimmung, Chancengerechtigkeit - werden mehrheitsfähig, auch wenn sie selbst eine Minderheitspartei bleiben. Sie können zur Sozialdemokratie aufschließen und die Konservativen herausfordern. Worauf es jetzt ankommt, ist die Fähigkeit, gesellschaftliche und am Ende auch politische Allianzen über die traditionellen Lager hinweg zu bilden. Kommt ins Offene, Freunde!

Dossier

Europawahl: Demokratie in Zeiten der Krise

Am 7. Juni 2009 wählten Wahlberechtigte aus 27 Staaten das neue Europäische Parlament. Die Heinrich-Böll-Stiftung begleitet die Wahl mit Berichten aus anderen EU-Staaten und analysiert die Erwartungen an die EU.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.