Wohltemperierte Architektur

Lesedauer: 7 Minuten
Philipp Oswalt, Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau

16. Juni 2009
Von Philipp Oswalt


Hoher Energieverbrauch ist eine der ersten Ursachen heutiger Umweltprobleme. Der Betrieb von Gebäuden verzehrt über 40 Prozent des Energiebedarfs der Bundesrepublik Deutschland. So benötigt ein gewöhnliches Bürogebäude 300 Kilowattstunden pro Quadratmeter im Jahr. Das mit großem Energieaufwand erzeugte Raumklima ist zudem ungesund: Nutzer klimatisierter Räume leiden unter gesundheitlichen Beschwerden, dem sogenannten Sick-Building-Syndrom. Zur Lösung dieser Probleme reicht eine Verbesserung herkömmlicher Bautechnik nicht aus: Eine neue Art Architektur zu denken ist notwendig. Ein Haus ist nicht mehr als ein mit technischen Apparaturen ausgestattetes Gehäuse zu begreifen. Das Haus selbst ist als Klimagerät zu entwickeln. Der Gegensatz zwischen diesen beiden Konzepten entspricht dem Unterschied zwischen einem Motorboot und einem Segelschiff. In den 60er-Jahren waren die Architekten von der Idee des Außenbordmotors begeistert, als Prototyp fortschrittlicher Technik: "Mit einem Außenbordmotor lässt sich praktisch jedes schwimmende Objekt in ein steuerbares Schiff verwandeln. Ein kleines, konzentriertes Maschinenpaket verwandelt ein undifferenziertes Gebilde in einen Gegenstand mit Funktion und Zweck." So Reyner Banham 1967. Ein Segelboot hingegen kommt ohne Motor aus, weil es selbst wie eine Maschine konstruiert ist. Der Rumpf hat einen minimalen Strömungswiderstand, das Segel nutzt den Wind optimal aus und kann unterschiedlichen Windverhältnissen angepasst werden. Die Passagiere sind Teil des Systems, mit ihrem Gewicht bringen Sie das Boot von der Schräglage ins Gleichgewicht. In gleicher Weise ist das Haus als Klimagerät zu entwickeln, als ein Perpetuum mobile, das sich durch die Ausnutzung der vorhandenen physikalischen Kräfte – und nicht durch einen künstlichen Antrieb – am Laufen hält.
Um dies zu erreichen ist es notwendig, das energetische Verhalten eines Gebäudes genau zu kennen. Bei der Analyse der Licht-, Wärme- und Luftströme in Gebäuden wurden die Dynamik und die Komplexität des Klimaverhaltens von Gebäuden offenbar. Das Raumklima ist kein statischer Zustand, sondern ein sich ständig änderndes Fließgleichgewicht. Das Haus steht im Austausch mit seiner Umwelt. Es reflektiert, filtert und absorbiert Energieströme, speichert und transformiert sie. Zahlreiche Faktoren wirken zusammen: So wird die Raumtemperatur unter anderem durch Sonneneinstrahlung, Außentemperatur, Gebäudematerialien, Raumform, Lüftung, Abwärme von Menschen und technischen Geräten beeinflusst.

Intelligente Planung

Das klimatische Verhalten eines Gebäudes ist zu komplex, um auf einfache Grundregeln reduziert werden zu können. Es wurden daher Verfahren entwickelt, mit denen das komplexe Verhalten simuliert und geplant werden kann. Klimasimulationen ermöglichen es zu untersuchen, wie sich Umwelt und Nutzung, Form, Materialien und Technik von Gebäuden auf das Raumklima auswirken. Nach jahrzehntelanger Grundlagenforschung verfügen wir heute erstmals über ein Basiswissen, das das Gebäudeklima kalkulierbar macht wie das Tragverhalten einer Konstruktion. Mit Hilfe von Computersimulationen sind wir in der Lage, Gebäude den natürlichen Energieflüssen optimal anzupassen. Neue Konzepte der passiven Temperierung können entwickelt werden. Durch den Einsatz neuer Techniken in der Planung kann auf Technik im Gebäude weitgehend verzichtet werden. Mit der intelligenten Planung wird das Gebäude selbst zum Klimagerät: Räume werden zu Lüftungskanälen, Fenster und Türen zu Ventilen, Decken zu Lampen und Fassaden zu Heizkörpern.
Eine solche Planung setzt voraus, dass das Gebäude von Architekt und Klimaingenieur gemeinsam entwickelt wird. Nur eine enge Zusammenarbeit von Anfang an führt zu Gebäuden, die ein Minimum an Energie verbrauchen und zugleich architektonischen Ansprüchen genügen. Die Zusammenarbeit mit dem Ingenieur engt den Architekten in seiner Entwurfsfreiheit nicht ein, im Gegenteil: Ihm werden keine festen Vorschriften auferlegt, sondern Vorschläge gemacht, wie er natürliche Energieströme zur Temperierung des Gebäudes nutzen kann. Ihm werden die Vor- und Nachteile verschiedener Entwurfsalternativen aufgezeigt, so dass er die Konsequenzen einer jeder Entwurfsentscheidung überschauen kann. Durch die Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur wird das Gebäude wieder in seiner Gesamtheit entworfen und die einzelnen Aspekte des Entwurfs in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit geplant. Das erlaubt nicht nur, Probleme frühzeitig zu erkennen, sondern eröffnet auch neue Möglichkeiten. Positive Wechselwirkungen, Synergien, zwischen einzelnen Aspekten können entdeckt und ausgenutzt werden. Das Zusammenspiel (Ineinandergreifen und Wechselwirkung) der einzelnen Faktoren wird gestaltet. Gestalt, Konstruktion und Klimakonzept werden in eine Gesamtlösung integriert, die aus den spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten der jeweiligen Bauaufgabe hervorgeht.
Diese ganzheitliche Betrachtung von Gebäuden führt zu integrierten Klimakonzepten, bei denen das Gebäudeklima durch das Zusammenspiel von Baukörper, Fassade und Haustechnik reguliert wird. In einem solchen integrierten Konzept erhält die Fassade eine völlig neue Funktion: Sie ist nicht mehr eine starre Grenze, sondern ein Vermittler zwischen innen und außen. Sie nutzt die natürlichen Energieströme zur Temperierung des Gebäudes.
Gebäude sind ständig wechselnden Umwelteinflüssen ausgesetzt. Die Sonneneinstrahlung ist im Winter ein Zehntel so stark wie im Sommer. Tiere wechseln ihr Fell, Pflanzen verlieren ihre Blätter, und wir Menschen tragen andere Kleider. Ein Gebäude, das energiesparend ist, muss sich verändern. Es wurden daher Bauteile entwickelt, die durch die Veränderung ihrer energetischen Eigenschaften Energieströme regulieren. Je nach Bedarf werden die zur Verfügung stehenden Energien reflektiert, absorbiert, transformiert, gespeichert und weitergeleitet. Die heutige Mikroelektronik ermöglicht, dass Gebäude Informationen sammeln, verarbeiten und auf wechselnde Situationen reagieren. Sensoren an der Fassade registrieren Sonneneinstrahlung, Temperatur und Wind. Die Gebäudehülle verändert ihre Durchlässigkeit für Wärme, Licht und Luft. Ebenso wie auf das wechselnde Wetter reagiert ein solches "intelligente Gebäude" auf Veränderungen in der Nutzung. Im Gebäude registrieren Sensoren die Anwesenheit von Menschen und ihre individuellen Anforderungen an das Raumklima. Energie wird nur dann eingesetzt, wenn sie tatsächlich gebraucht wird. Das Haus wird zu einem offenen System, das auf Veränderungen in der Umwelt und der Nutzung des Gebäudes dynamisch reagiert.

Interaktive Temperierung

Nach der passiven Temperierung des traditionellen Bauens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und der aktiven Temperierung bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts zeichnet sich heute das Konzept einer interaktiven Temperierung ab. Während die passive Temperierung vorwiegend auf der Abwehr unerwünschter Einflüsse des Außenklimas beruhte, die aktive Temperierung durch technisch erzeugte Energieströme ein künstliches Innenklima erzeugte, basiert die interaktive Temperierung auf der Verknüpfung von Innen- und Außenklima: Das Gebäude wird durch natürliche Umweltenergien temperiert, die Energieströme werden durch intelligente Steuerung und die in ihrer Durchlässigkeit regelbare Gebäudehülle reguliert.
Grundlegend für dieses neue Klimakonzept ist die Informationstechnologie. Durch die intelligente Planung und Steuerung wird das Haus zu einem technischen Ökosystem, das in einem engen Austausch mit seiner Umwelt steht. Ökologie und Technik sind kein Widerspruch mehr, im Gegenteil: Erst die neuen, sanften Techniken ermöglichen eine ökologische Gestaltung von Gebäuden, eine wohltemperierte Architektur, die abgestimmt ist auf die wechselnde Nutzung und die sich ändernde Umgebung. Johann Sebastian Bachs "Wohltemperiertes Klavier" sind Klavierstücke für ein gut gestimmtes Klavier, das in 24 Tonarten gespielt werden kann. Ein Klavier also, das verschiedene Stimmungen annehmen kann. Die Funktionalität wohltemperierter Gebäude hat ihren eigenen ästhetischen Reiz: Sie spielt mit dem Licht, mit Klang und Wärme. Es ist eine Architektur wechselnder Stimmungen.
Es ist möglich, den Energieverbrauch von Gebäuden auf einen Bruchteil des heute üblichen zu senken. Dass diese Möglichkeit genutzt wird, erfordert nicht nur die Bereitschaft der Architekten, neue Planungsmethoden und neue Technologien anzuwenden. Sie erfordert auch eine andere Bauherrenschaft. Heutige Bauherren, oft Investoren, die die Gebäude vermieten und nicht selber nutzen wollen, sind vor allem an einer schnellen Amortisation und kurzfristiger Rendite interessiert. Niedrige Baukosten sind wichtiger als die Senkung der Betriebskosten, da letztere vom zukünftigen Mieter getragen werden. Diese kurzfristigen Interessen der Bauherren stehen im Widerspruch zu den langfristigen Interessen der Gesellschaft nach Senkung des Energieverbrauchs. In gewisser Weise ist der Architekt Anwalt des Gemeinwohls, der die privaten Interessen der Bauherren in den gesellschaftlichen Kontext integrieren soll. Er muss sich Gedanken darüber machen, wie er seine Ideen durchsetzen kann. Auch die Siedlungen des Neuen Bauens der 1920er-Jahre wären nicht entstanden, wenn die klassische Moderne nicht zugleich ein politisches und soziales Programm formuliert hätte. Erst die neuen Bauherren – Genossenschaften und sozialdemokratisch regierte Kommunen – realisierten den großen Teil der Bauten der klassischen Moderne. Wenn es heute um die Verwirklichung einer ökologischen Architektur geht, muss in gleicher Weise ein Instrumentarium entwickelt werden, mit der diese in einem marktwirtschaftlich organisierten Bauwesen durchgesetzt werden kann. Den langfristigen, gesellschaftlichen Interessen muss durch höhere Energiepreise und strengere gesetzliche Anforderungen Geltung verschafft werden. Erst damit kann das Konzept der Wohltemperierten Architektur in die allgemeine Baupraxis umgesetzt werden.

 

Philipp Oswalt ist Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau.

Dossier

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