Im iranischen Gottesstaat hat sich das Internet als Instrument zur Verflüssigung zementierter Verhältnisse erwiesen, als basisdemokratische Waffe zur Erschütterung von versteinerter Macht ohne Zukunftsversprechen. So wird es als das Wasser gefeiert, das den Stein aushöhlt und schmutzige Diktatoren und steinalte Mullahs in die Defensive drängt. Das Twittern, Simsen, Jingeln und Messaging drängelt sich, so scheint es, an allen Verboten vorbei, umkurvt die Zensur, verbreitet unterdrückte Nachrichten und setzt Menschen sekundenschnell in Bewegung.
Dem Gezwitscher und Geblinke entspricht in Iran das Zusammenspiel der Zivilgesellschaft: schnell, spontan, antihierarchisch, offen, grenzenlos – das Stichwort ist Vernetzung. Die ausschwärmende iranische Frauenbewegung mit ihrer Kampagne „Eine Million Unterschriften für die Gleichheit von Frauen und Männern vor dem Gesetz“ hat es vorgemacht: Sie wollte eine Bewegung sein, in der alle, die daran teilnehmen, ob säkular oder islamistisch, in der Großstadt oder der Provinz, sich an ihrem jeweiligen Ort zusammentun und eigene Vorgehensweisen und Aktionsformen wählen. Ein Ziel, beliebig viele Wege. Eine informelle Koalition. Dann begann eine nervös gewordene Regierung die Frauen zu bedrohen und zu malträtieren, viele zogen sich zurück. Und trotz des unermüdlichen Einsatzes einiger prominenter Aktivistinnen begann die Bewegung zu stagnieren, auch die eine Million Unterschriften sind noch nicht zusammen.
Die informelle Koalition
Eine informelle Koalition ist auch die Bewegung gegen den Stimmendiebstahl, die jetzt täglich ihre Forderung nach Neuwahlen auf die Straßen trägt. Wie erhält sie ihren Elan, da sie doch von keiner Organisation getragen wird? Wie will sie der möglichen Stagnation und Resignation entgehen, wenn ein Sieg auf sich warten lässt? Beim langwierigen Kampf gegen die Schah-Diktatur kam der damaligen Bewegung eine islamische Tradition entgegen. Vierzig Tage nach der Beerdigung eines Toten kommen in Iran Familie und Freunde zusammen und gedenken seiner. Jeweils vierzig Tage nach der Beerdigung ihrer Toten formierte sich auch die Anti-Schah-Bewegung immer erneut zum Trauerzug. Immer mehr Menschen schlossen sich diesen unbewaffneten Demonstrationen weinender, schwarz gekleideter Massen an, bis, so schien es, das ganze Land auf den Beinen war. Und der Schah das Land verließ, um es nie wieder zu betreten.
Der Trauerumzug am Donnerstag, dem 18.6., nahm diese Tradition wieder auf und gedachte der Toten aus Teheran, Shiraz, Isfahan und vielleicht noch aus weiteren Städten. Auch andere Traditionen von 1979 leben plötzlich auf. Die Alahu-Akbar-Rufe (Gott ist groß), die von den Dächern schallen – ein Zeichen eines Protests, das im Gottesstaat schlichtweg nicht verboten werden kann. „Es erinnert mich alles so sehr an damals“, erzählt R., eine iranische Frauenaktivistin, die zurzeit in Berlin ist. „Genauso ist die Stimmung gewesen, als wir mit der Parole ‚Der Schah muss weg!’ durch Teherans Straßen zogen“.
Bei der Revolution von 1979 kamen drei Strömungen zusammen, die sich in Organisationen gefestigt hatten: die Bürgerlichen der Nationalen Front, die Kommunisten der Tudeh-Partei und die Islamisten, deren institutionelles Rückgrat das Netzwerk der Freitagsprediger war. Und weil in jedem Ort eine Moschee steht, in der gepredigt wurde, erwies sich das Netzwerk der Freitagsprediger als stärker als die als Religionsfeinde bekämpften Kommunisten, deren Basis nur in den Städten lag. Stärker auch als die Bürgerlichen, deren Nationale Front nicht über den losen Wahlverein des charismatischen, ersten demokratisch gewählten Premierministers Mohammed Mossadegh hinaus gewachsen war.
Parteien in der Islamischen Republik Iran
Auch in der Verfassung der Islamischen Republik Iran sind Parteien vorgesehen. Artikel 10 erklärt eine Kommission im Innenministerium zuständig für die Gründung von Parteien und vorsichtshalber auch gleich für ihr Verbot. Doch im Großen und Ganzen sind die 220 iranischen Parteien und politische Gruppen nicht mehr als Zusammenschlüsse gleichgesinnter Menschen, die sich ab und zu treffen, um über wichtige Themen zu diskutieren und öffentlich ein Statement abzugeben – wie Muhammad Sahimi in seiner Recherche „Iran’s Presidential Election“ darlegt, die er am 7. März 2009 auf dem Blog „Tehran Bureau“ veröffentlichte.
Zumeist gruppieren sich solche Parteien um eine charismatische Person und leben nur auf, wenn es gilt, einen Wahlsieg zu erringen. Programme oder langfristige Planung gibt es kaum. So umgibt die „Assoziation kämpfender Geistlicher“ Ex-Präsident Mohammad Khatami. Die „National Trust Party“ wurde 2005 von Mehdi Karroubi, dem zweiten Präsidentschaftskandidaten der Reformer, gegründet. Nur die „Islamic Iran Participation Front“ (IIPF) kann am ehesten als Partei mit Programm, Mitgliedern und Büros in fast allen Städten der Republik gelten. Sie repräsentiert überwiegend die reformorientierte, gebildete Mittelklasse und das ist vielleicht auch ihre größte Schwäche, denn der Großteil der iranischen Bevölkerung ist arm und ungebildet
Ahmadinedjad hingegen genießt die Unterstützung der „Hojjatiyeh“, eines ultra-reaktionären klerikalen Zusammenschlusses, der alle fünf Geheimdienstminister der Islamischen Republik gestellt hat. Auch die Gruppierung „The Sweet Sent of Service (of the people)“ unterstützt Ahmadinedjad. Ihr Generalsekretär, Mohammad Ali Ramin, hat einige Zeit in Deutschland gelebt. Er soll Kontakte mit Neo-Nazis gehabt haben und 2006 Initiator der Holocaust Konferenz gewesen sein. Zu Ahmadinedjads Umfeld gehört auch die „Society of Islamic Revolution Devotees“, die hauptsächlich aus den islamistischen Milizen (Basidji) besteht. Die Unterstützung der „Islamic Coalition Party“ (ICP), 1964 als eine Anti-Schah Partei gegründet, hat Ahmadinedjad verloren, da er keinen aus dieser Partei in sein Kabinett aufnahm, mehr noch: als deutlich wurde, dass es sein Ziel ist, die Geistlichen aus den politischen Machtpositionen zu verdrängen. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die ICP als Zusammenschluss reicher und mächtiger Basaris und einflussreicher Ayatollahs in den 1980er Jahren in erbitterter Opposition zum damaligen Ministerpräsidenten Mir-Hussein Mousavi stand, dem jetzigen Herausforderer von Ahmadinedjad. Warum? Mousavi war linksorientiert.
Keiner wagt sich an Wächterrat und Obersten Geistigen Führer heran
Bislang hat sich noch kein Reformer, nicht Ex-Präsident Khatami und auch nicht der jetzige Anführer der Demokratiebewegung, Mir-Hussein Mousavi, an die Institutionen Wächterrat und Oberster Geistiger Führer herangewagt (1). Doch diese beiden Institutionen sind es, die einer echten Demokratie entgegenstehen, weil sie bei allen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen das letzte Wort haben. Keine Vorlage wird ohne ihr Plazet Gesetz, selbst wenn sie das Parlament passiert hat. Niemand kann für ein politisches Amt kandidieren ohne ihre Zustimmung. Iran, so Michael McFaul vom Hoover Institute in einer „Komparativen Analyse des Demokratisierungsprozesses im Iran“ tut sich mit der Durchsetzung demokratischer Forderungen deshalb so schwer, weil in der Islamischen Republik „ein demokratischer Wechsel sich per definitionem außerhalb der Verfassung durchsetzen muss“. Zumindest ist es in den letzten Tagen vorstellbar geworden, dass genau dies eines wahrscheinlich noch fernen Tages passieren könnte, denn Ali Khamenei, der Oberste Geistige Führer, hat sich in eine Falle manövriert: Noch bevor die Stimmen ausgezählt waren, hat er Ahmadinedjad zum Sieger erklärt. Damit aber fallen alle Wahlfälschungen auf ihn zurück, sein Nimbus ist dahin.
Doch noch scheint ein Schachmatt für Khamenei nicht unausweichlich zu sein, noch lastet der Geistige Führer wie ein schwerer Koloss auf der fluiden, grün geschmückten Demokratiebewegung. Nur wenn diese es erreicht, über die Repräsentation der Wohlhabenden und Gebildeten hinaus auch für die Ärmeren und „Barfüßigen“ glaubwürdig zu werden, könnte eine Bewegung des NEIN zu einem neuen, starken Projekt zur Gestaltung von Zukunft werden.
Die moderne Soziologie bezeichnet die Welt bindender Parteien, Vereine, Gewerkschaften als eine Welt von gestern. In modernen individualisierten Gesellschaften würden nicht die starken Bindungen (strong ties) vorherrschen, sondern die schwachen und flexiblen Verbindungen. Im Iran werden die strong ties eines verkarsteten Machtsystems zurzeit gerade von den weak ties einer Bewegung, die aus vielfältigen Gründen mit der jetzigen Regierung unzufrieden ist, herausgefordert. Die Frage stellt sich, ob ohne starke, mit Organisationen und Institutionen verflochtene Bindungen eine Bewegung langfristig den Atem hat, sich gegen die bewaffnete Reaktion durchzusetzen?
Fußnote
(1) Während die heutigen Reformer sich als Veränderer innerhalb des islamischen Systems verstehen, fordert der 87jährige Ayatollah Montazeri, der seit 1997 in Ghom unter Hausarrest steht, auf seinem Blog längst die Abschaffung des Velayat-e faqih, der Herrschaft der Geistlichkeit. Dabei war es der in den 80er-Jahren zum Nachfolger des Revolutionsführers Iman Khomeini gewählte Montazeri, der die Institution des Wächterrats in die Verfassung eingeführt hat. Ein für allemal wollte der glühende Revolutionär die Islamische Republik Iran gegen all ihre Feinde, von den Kommunisten bis zu den westlichen Kapitalisten, wetterfest machen. Dass der Feind einer demokratischen islamischen Republik eines Tages von innen kommen würde, hatte er nicht vorausgesehen.