Mit diesen provokanten Thesen stieß Anthony Giddens am 6. November im Berliner Abgeordnetenhaus beim zahlreich erschienenen Publikum auf einigen Widerspruch. Die Heinrich-Böll-Stiftung hatte den renommierten britischen Soziologen, der in den 1990er Jahren durch sein Konzept des "Dritten Weges" über die Fachgrenzen hinaus bekannt wurde, zu einer Präsentation seines aktuellen Buches "The Politics of Climate Change" eingeladen.
Klima-Rhetorik ohne politisches Handeln
Wenn Politiker sich heute zu den drängenden Problemen der Menschheit äußern, kommt die Rede sehr schnell auf den Klimawandel. Die Realität der globalen Erderwärmung ist ohne Zweifel im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit verankert. Umso unverständlicher erscheint die Diskrepanz zwischen den zum Teil erschreckenden Zukunftsprognosen und einer umweltpolitischen Verzagtheit, die an Tatenlosigkeit grenzt.
Um diesen Widerspruch zu erklären, verwies Anthony Giddens zunächst auf die kontroversen Interpretationen des Klimawandels. Es gebe viele "Skeptiker", von denen einige den Klimawandel als völlig natürlich akzeptieren. Andere geständen zwar den menschlich bedingten Anteil an der Erderwärmung ein, beruhigten jedoch zugleich mit dem Verweis auf die Geringfügigkeit der erwarteten Umweltveränderungen. Unter Wissenschaftlern befinden sich die "Skeptiker" Giddens zufolge in einer klaren Minderheit. In der Öffentlichkeit gewännen sie dagegen immer mehr Anhänger, so auch in den USA. Eine aktuelle Meinungsumfrage kommt tatsächlich zu dem Schluss, dass nur noch 57 Prozent der Amerikaner handfeste Beweise für den globalen Temperaturanstieg erkennen (2008 waren es noch 71 Prozent).
Den "Skeptikern" tritt Anthony Giddens zufolge der wissenschaftlich fundierte "Mainstream" entgegen, der vor allem vom Weltklimarat (IPCC) der UNO repräsentiert wird. Die Mitglieder des Weltklimarats tragen internationale Umweltstudien zusammen und werten sie wissenschaftlich aus. Ihre Entwicklungsmodelle sollen als Handlungsgrundlage für die internationale Politik dienen. Ein gemeinsames Merkmal dieser Szenarien ist der relativ weite Zeithorizont, der es möglich erscheinen lässt, die folgenschwersten Auswirkungen durch rechtzeitiges klimapolitisches Gegensteuern zu verhindern.
In diesem letzten Punkt unterschieden sich die Vertreter des "Mainstreams" von einer "radikalen" Minderheit unter den Wissenschaftlern, so Giddens. Die "Radikalen" befürchten demnach, dass sich das Weltklima beim Überschreiten bestimmter unumkehrbarer "Tipping Points" nicht nur allmählich, sondern drastisch verändern könnte. Für eine grundlegende umweltpolitische Kurskorrektur könnte es in dieser Perspektive bereits zu spät sein.
"Giddens Paradox"
Anthony Giddens will keine der drei Positionen aus dem politischen Dialog ausschließen, und sei es nur, um den "Mainstream" vor einem Abgleiten in die "dogmatische" Erstarrung zu bewahren. Die widersprüchlichen Analysen des Klimawandels tragen allerdings zur Verschärfung eines anderen Problems bei. Da die potentiellen Gefahren der globalen Erwärmung oft abstrakt erscheinen und zum Teil in ferner Zukunft liegen, könnten sich Bürger und Politiker möglicherweise erst zu handfesten Gegenmaßnahmen durchringen, wenn es bereits zu spät ist. Die vorherrschende umweltpolitische Lethargie ist nach Ansicht von Giddens eine direkte Folge dieses Dilemmas, das von ihm als "Giddens Paradox" bezeichnet wird.
Auch umweltpolitische "Avantgarde"-Staaten wie Deutschland und Großbritannien seien betroffen, so Giddens. Die dort gefeierten Reduzierungen der CO²-Emissionen seien in der Regel Begleiterscheinungen ganz anderer Prozesse, die sich weder wiederholen noch kopieren ließen. Als Beispiel nannte Giddens den Kampf von Premierministerin Thatcher gegen die Bergarbeitergewerkschaft in den 1980er Jahren. Bei der nationalen Energieerzeugung habe Thatchers "Sieg" zu einem langfristig wirkenden Schwenk von der Kohle hin zum Erdgas geführt.
Nationale oder Multilaterale Umweltpolitik?
Die umweltpolitische Blockade wird nicht auf multilateralen Klima-Gipfeln durchbrochen werden, erwartet Anthony Giddens. Die Industriestaaten müssten vielmehr mit eigenen Initiativen vorangehen und in einer Art "Koalition der Willigen" kooperieren. Ein ambitionierter bilateraler Umwelt- und Energiepakt zwischen den USA und China wäre in dieser Perspektive sehr viel mehr wert als ein weiterer globaler Gipfel-Kompromiss auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner und ohne wirksame Sanktionsmechanismen.
Die Hindernisse für die Umsetzung einer langfristigen und effektiven Energie- und Klimapolitik bestehen jedoch nicht nur auf internationaler Ebene. Giddens nannte in seinem Vortrag vier wesentliche Problembereiche, in denen ein grundsätzliches Umdenken nötig sei:
1. Planung
Die globale Wirtschaftskrise hat das Scheitern deregulierter Marktmechanismen nachdrücklich demonstriert. Das Unvermögen freier Märkte, die langfristigen Dimensionen ihrer Geschäftsmodelle und Technologien einzukalkulieren, macht nach Meinung von Giddens umweltpolitische Vorgaben durch den Staat unumgänglich. Umweltpolitik dürfe nicht mehr als Aufgabe eines Ressorts isoliert werden, sondern müsse in allen Regierungszweigen präsent sein. Eine Regulierung dürfe allerdings nicht das Innovationspotential, die Flexibilität und die überlegenen finanziellen Möglichkeiten der Märkte abwürgen. Als aktiver Marktteilnehmer sollte der Staat deshalb höchstens in "Public Private Partnerships" (PDF-Datei von bundestag.de) auftreten.
2. Entpolitisierung
Dem ökologischen Versagen der freien Märkte steht das Problem der modernen Politik gegenüber, langfristige umweltpolitische Entscheidungen zu treffen, die einen Regierungswechsel überstehen. Anthony Giddens macht die Politisierung der Umweltpolitik, die im parteipolitischen Lagerdenken gefangen sei, für dieses Dilemma verantwortlich. Am deutlichsten sei dies heute in den USA zu beobachten, wo sich die umwelt- und die parteipolitischen Frontlinien nahezu hundertprozentig deckten. Die grüne Bewegung trage keine geringe Schuld an dieser Entwicklung, da sie Klima- und Energiepolitik als "linkes" Thema beansprucht habe. Ohne einen parteienübergreifenden Pakt werde es auch künftig keinen Rahmen geben, der es Politikern ermöglicht, langfristige umweltpolitische Entscheidungen zu treffen. Leider fand Giddens während seiner Präsentation und der anschließenden Debatte keine Gelegenheit, den politischen Prozess näher zu erläutern, der zu der gewünschten "Entpolitisierung" der Umweltpolitik führen soll.
3. Positiv-Kampagnen
Der Widerspruch zwischen umweltpolitischem Bewusstsein und ausbleibenden Taten spiegelt sich auch in der Bevölkerung wider. Ein ökologischer Konsens auf parteipolitischer Ebene wird im Sand verlaufen, wenn er nicht von einer breiten öffentlichen Zustimmung getragen wird. Die notwendigen Veränderungen unserer Lebensweise seien allerdings nicht durch das Ausmalen immer neuer Katastrophenszenarien zu erzwingen, so Giddens. Neben der Schaffung neuer (z.B. finanzieller) Anreize zur Umstellung liebgewonnener Gewohnheiten sollten Umweltkampagnen vielmehr optimistische Botschaften vermitteln. Der amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. habe seine berühmte Rede vom 28. August 1963 schließlich nicht mit dem Ausruf "I have a nightmare!" gekrönt, wie Giddens unter allgemeiner Erheiterung feststellte.
4. Gerechtigkeit
Wenn die kommenden Lasten des Klimawandels gerecht verteilt werden sollen, müssen die Verursacher der CO²-Emissionen klar benannt werden. Die gegenwärtig übliche Berechnung der internationalen CO²-Bilanzen berücksichtigt die Standorte der CO²-intensiven Produktion und ignoriert den Verbrauch der so produzierten Güter. Industriestaaten wie Großbritannien, die ihre Produktionsstätten auslagern, rechnen sich Anthony Giddens zufolge deshalb zugleich ihre Emissions-Bilanz schön. Auf der anderen Seite steigt der CO²-Ausstoß von Entwicklungsländern, die als "verlängerte Werkbank" der OECD-Länder fungieren. Chinas Emissions-Bilanz fiele Giddens zufolge um einiges günstiger aus, wenn dieser Zusammenhang berücksichtigt würde.
Vom "American Way of Life" zum "Utopischen Realismus"
Der westliche Lebensstil, der zu gutem Teil auf dem Konsum CO²-intensiver Güter beruht und in der Form des "American Way of Life" zum globalen Entwicklungsmodell wurde, kann in seiner jetzigen Form nicht mehr lange aufrecht erhalten werden. Um ein neues Zivilisationsmodell zu entwickeln, wird nach Ansicht von Anthony Giddens ein "utopischer Realismus" vonnöten sein. Mutige und vorausschauende Politiker müssten ambitionierte Handlungsszenarien, die von wirklichkeitsnahen Voraussetzungen ausgingen, auf die politische Tagesordnung setzen. Als konkrete Beispiele nannte Giddens einen Ausbau des europäischen Schnellzug-Netzwerks und die einfache wie radikale Vorgabe, keine Kohlekraftwerke mehr zu bauen.
Dass Giddens für eine zügige Reduzierung von CO²-Emissionen auch den Einsatz von Atomkraftwerken befürwortete, stieß im Publikum auf die deutlichsten Vorbehalte des Abends. Ralf Fücks, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung, stellte zum Beispiel fest, dass Giddens nationalstaatliche Perspektive ungeeignet sei, um das Entwicklungspotential erneuerbarer Energien gerade in Europa richtig einzuschätzen. So ließe sich eine effektive Energieerzeugung und -verteilung z.B. mit der Errichtung eines neuen europäischen Energienetzwerks ("Smart-Grids") auch ohne Atomkraft erreichen.