Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Afghanistan: Muss mit den Taliban verhandelt werden?

Ahmed Rashid ist Buchautor und Korrespondent für Pakistan, Afghanistan und Zentralasien

18. Januar 2010
Von Ahmed Rashid
Neun Jahre nach dem 11. September 2001, nach all dem Blut, nach all dem Geld, das geflossen ist, sagte US-Präsident Barack Obama am 11. Januar 2010 der Zeitschrift People: „Die Grenzregion zwischen Afghanistan und Pakistan ist weiterhin ein Zentrum der Al Kaida, ihrer Führer und ihrer extremistischen Verbündeten.“ Al Kaida hat sich von Afghanistan ausgebreitet nach dem Jemen, nach Somalia und Nordafrika und verfügt inzwischen auch über zahlreiche Zellen in Europa.
 
Präsident Obamas umstrittener und riskanter Plan, die US-Truppen in Afghanistan zu verstärken und 18 Monaten später mit dem Abzug zu beginnen, hat Regierungen und die Taliban davon überzeugt, dass sich USA und NATO in eineinhalb Jahren verabschieden werden. Dies könnte in Afghanistan zu weiteren Kämpfen führen. Schon jetzt bereiten sich Regierungen in der Region darauf vor, für die Zeit nach dem Abzug ihre Stellvertreter in Afghanistan in Stellung zu bringen.
 
Zu Beginn der Konferenz in London (am 28. Januar 2010), wird weiterhin unklar sein, ob die afghanische Regierung ein erfolgreicher Partner der NATO sein kann. Die Wahlfälschungen im vergangenen Jahr, die Tatsache, dass Millionen Afghanen von Demokratie und Entwicklung enttäuscht sind, der anhaltende Streit über die Besetzung des neuen Kabinetts und die offene Frage, ob die Regierung wirklich dazu bereit ist, gegen Korruption und Drogen vorzugehen, hat in Afghanistan zu einer innenpolitischen Krise geführt, gegen die ausländische Kräfte nur wenig ausrichten können. Gleichmaßen unklar ist, ob die afghanischen Sicherheitskräfte innerhalb der nächsten 18 Monaten soweit aufgebaut werden können, dass sie, wie in Obamas Plan vorgesehen, in der Lage sein werden, Teile des Landes eigenständig zu kontrollieren.
 
Die Taliban haben im vergangenen Jahr ihre Angriffe auf den vormals ruhigen Westen und Norden Afghanistans ausgedehnt; mit ihnen ist nun landesweit zu rechnen. Ihre Anführer sitzen an sicheren Orten in Pakistan. Die Verluste sind auf allen Seiten erheblich angestiegen. Die UNO zählte 2009 1.200 sicherheitsrelevante Zwischenfälle pro Monat – verglichen mit 2008 ein Anstieg um 65 Prozent. Die Taliban haben Teile der afghanischen Armee und Polizei infiltriert – und sind somit in Institutionen präsent, an die die USA ab Juli 2011 die Verantwortung abgeben wollen. In weiten Teilen des Landes sind Entwicklungsprojekte eingestellt worden. Die Hälfte der UNO-Mitarbeiter hat das Land verlassen – es ist zu gefährlich.

Einem Bericht von Generalmajor Michael Flynn, dem Chef der militärischen Aufklärung der NATO, vom Dezember 2009 ist zu entnehmen, dass die Taliban inzwischen in 33 der 34 Provinzen Schattengouverneure stellen, und dass die Bewegung „auf absehbare Zeit stabil bleiben wird.“

Die Taliban haben ihre brutale Kampagne der Einschüchterung weiter ausgedehnt. Mit dem Leben bedroht werden alle, die für die Regierung arbeiten, für Hilfsorganisationen, Frauengruppen oder die UNO. „Wir befinden uns an einem Kreuzweg ... bei der aktuellen Situation darf es nicht bleiben, wollen wir in Afghanistan Erfolg haben“, sagte UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon in einem Bericht an den Sicherheitsrat vom 4. Januar 2010. Und er fügte hinzu: „Es besteht das Risiko, dass die sich die Lage unumkehrbar verschlechtert.“

In den vergangenen Monaten haben sich die Spannungen zwischen den USA und Pakistan erhöht. Washington verlangt vom pakistanischen Militär, dass es die Führer der afghanischen Taliban, die in Quetta und Karachi leben, „gefangen nimmt oder tötet“ und ebenso ihre Verbündeten wie Jalaluddin Haqqani und Gulbuddin Hekmatyar, die sich in Nord-Wasiristan aufhalten. Pakistan entgegnet, es sei zu sehr damit beschäftigt, seine eigenen Probleme mit Taliban und Terroristen zu lösen, seine Sicherheitskräfte seien überlastet.

In der Tat ist es unwahrscheinlich, dass Pakistan gegen die Führer der afghanischen Taliban in die Offensive geht. Schließlich sieht man in ihnen potenzielle Verbündete in einem Afghanistan nach Abzug der USA. Jedoch fürchten die pakistanischen Militärs diesen Abzug auch. Er könnte Bürgerkrieg und Chaos auslösen und, so sieht man es in Pakistan, Indiens Einfluss in Afghanistan weiter wachsen lassen.

Die internationale Gemeinschaft scheint aus den Erfahrungen der letzten Jahre wenig gelernt zu haben. Zwar haben die USA und die NATO konstruktivere Wege der Aufstandsbekämpfung eingeschlagen – sie schützen dicht besiedelte Gebiete, Verbindungsstraßen und pumpen mehr Entwicklungshilfe in solche Enklaven. Aber viele NATO-Staaten weigern sich weiterhin, gegen die Taliban in die Offensive zu gehen, entweder weil die Regierungen Vorbehalte haben, oder weil ihr Einsatzbefehl defensiv ausgerichtet ist.
 
Militärische Einheiten aus mächtigen Staaten wie Deutschland, Spanien und Italien benötigen, sobald es brenzlig wird, den Schutz der USA. Es überrascht nicht, dass die Taliban versuchen, schwerpunktmäßig die Streitkräfte derjenigen Staaten anzugreifen, die sie für schwach und halbherzig halten.
 
Die Europäer sind weder in der Lage gewesen, die afghanische Polizei effektiv auszubilden, noch haben sie genügend Ausbilder und Mittel für den Aufbau der afghanischen Armee bereitgestellt. Die so genannten friedensstiftenden und staatenbildenden Maßnahmen, die sich einige dieser Länder auf die Fahnen geschrieben haben, lassen sich unmöglich umsetzen, solange der Aufstand der Taliban sie allesamt in Frage stellt.
 
Sowohl General Stanley McChrystal, der Chef der NATO-Truppen in Afghanistan, als auch David Petraeus, Kommandeur des US Central Commands, haben erklärt, dass ein Erfolg in Afghanistan nicht mit bloßer Waffengewalt erreicht werden kann. Obama hat klar gemacht, dass er Al Kaida vernichten will, aber bereit sein könnte, mit den Taliban zu verhandeln. In seiner Rede im Dezember 2009 in der US-Militärakademie West Point sagte Obama, er unterstütze der Versuch Kabuls, „mit denjenigen Taliban, die der Gewalt abschwören und die Rechte anderer achten, Abmachungen zu treffen.“
 
Die momentane Militärstrategie der USA zielt darauf ab, Taliban-Kommandeure und -Kämpfer zur Aufgabe zu bewegen und sie umzusiedeln, ohne dabei jedoch irgendwelche politischen Kompromisse einzugehen oder Änderungen an der afghanischen Verfassung zuzulassen. Was Gespräche mit der Führung der Taliban angeht, gibt es zwischen Washington und anderen Staaten große Differenzen. Auch im US-Außen- und Verteidigungsministerium, im Weißen Haus und in der CIA scheiden sich diesem Punkt die Geister, und die USA und ihre Verbündeten sind nicht einer Meinung. Russland, die zentralasiatischen Staaten und Indien lehnen Gespräche mit den Taliban kategorisch ab. Sie fürchten, Pakistan würde dadurch gestärkt.

Nach Geheimverhandlungen, die im Frühjahr 2009 in Saudi-Arabien stattfanden, zeigten sich die Taliban flexibel. In drei Erklärungen der letzten Zeit, darunter eine von Mullah Mohammed Omar vom November 2009, war die Rede von Friedensgarantien und der Nicht-Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten. Daraus könnte man schließen, dass Al Kaida außen vor bliebe, sollten die Taliban zurück an die Macht kommen. In der Antwort der Taliban auf Obamas Rede in West Point, wurden Dschihad und die Verhängung Islamischen Rechts mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen war die Rede von einem nationalen, vaterländischen Kampf. Die Taliban versicherten zudem, sie seien bereit, „rechtliche Garantien zu geben, sollten sich die ausländischen Truppen aus Afghanistan zurückziehen.“

Die Gespräche in Saudi-Arabien fanden statt zwischen ehemaligen Taliban, ehemaligen Mitgliedern von Al Kaida und Vertretern von Hamid Karzai. Bei den Gesprächen wurde kein Durchbruch erzielt. In der Folge besuchten jedoch eine Reihe wichtiger, aktiver Talibanführer Saudi-Arabien. Sie wurden von USA, Briten und Saudis dazu ermuntert, sich von Al Kaida loszusagen und ihre Bedingungen für Verhandlungen zu nennen. Hauptforderung der Taliban ist, dass die ausländischen Truppen einen Zeitplan für ihren Abzug vorlegen. Da alle Talibanführer in Pakistan leben, wird der weitere Verlauf der Gespräche wesentlich davon abhängen, ob der pakistanische Geheimdienst mitspielt.

Für Gespräche mit den Taliban braucht es mehr als die verdeckte Mitarbeit der Geheimdienste. Dringend benötigt wird eine öffentliche, politische und humanitäre Strategie, die für die Taliban attraktiv ist, die die Gewalt zurückdrängen kann und den Ärger derjenigen Afghanen beschwichtigt, die alle Kompromisse ablehnen. Die USA und die NATO haben im vergangenen Jahr viel über die Notwendigkeit einer derartigen Strategie gesprochen – und wenig erreicht. Einer Versöhnung mit den Taliban und deren Wiedereingliederung in die afghanische Gesellschaft müssen mehrere Dinge vorangehen. Dazu gehören:

  • Afghanistans Nachbarn und weitere Länder der Region müssen überzeugt werden, auf Versöhnung mit den Taliban, unter Führung der afghanischen Regierung, zu setzen.
  • Afghanistan soll erlaubt werden, dem UN-Sicherheitsrat eine Liste mit Namen zu übergeben, damit Sanktionen gegen Führer der Taliban aufgehoben und ihre Namen von den Listen der Terrorverdächtigen gestrichen werden können. Dies gilt nur, wenn sie sich von der Gewalt und von Al Kaida lossagen. Russland und Indien haben bislang solche Anfragen blockiert.
  • Der UN-Sicherheitsrat muss per Resolution der afghanischen Regierung ein Mandat dafür geben, mit den Taliban zu verhandeln. Die USA, die NATO und die UNO müssen einen solchen Prozess unterstützen.
  • NATO und afghanische Sicherheitskräfte werden für die Sicherheit rückkehrender Taliban und deren Angehörigen verantwortlich sein. Dazu müssen internationale humanitäre Organisationen treten, beispielsweise das UN-Flüchtlingskommissariat und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Sie müssen zusammen mit der afghanischen Regierung, die Rückkehr der Taliban überwachen, Ausgleichszahlungen in die Wege leiten, sich um Wohnraum, Ausbildung und andere Aspekte der Wiederansiedlung kümmern.
  • Einem Versöhnungskomitee unter Führung der afghanischen Regierung müssen ausreichend Mittel, Ausbildung und Personal zugeteilt werden. Das Komitee wird mit westlichen Kräften und humanitären Organisationen zusammenarbeiten und sich transparent wie umfassend um Sicherheit und Auskommen der rückkehrenden Taliban kümmern.
  • Das pakistanische Militär muss dazu gebracht werden, den Rückkehrern Sicherheit und humanitäre Unterstützung zuzusichern. Pakistan und Saudi-Arabien müssen die Taliban dabei unterstützen, eine legale politische Partei zu gründen (wie andere afghanische Kämpfer vor ihnen). Sie sollen zudem einen neutralen Ort bieten, an dem Gespräche mit Führern der Taliban stattfinden können. Die USA sollen alle verbliebenen Gefangenen aus Guantanamo entlassen.

Sollte dergleichen nicht rasch und öffentlich umgesetzt werden, könnten die Taliban zu dem Schluss kommen, es sei sicherer und besser für sie, die nächsten 18 Monate auszusitzen, auf den Abzug der Amerikaner zu warten, und dann zu versuchen, Kabul erneut zu erobern. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre ein neuer Bürgerkrieg die Folge, einer, den die NATO-Truppen nicht in den Griff bekommen könnten.

Die Lage ist kritisch. Eine Antwort muss grundlegender und umfassender ausfallen, als alles, was bisher geschehen ist.

Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.

Zuerst erschienen auf Spiegel-Online am 25.01.2010