Niederlage nach Kopf-an-Kopf-Rennen
Die Staatsanwältin Martha Coakley wäre die erste Frau gewesen, die den Ostküstenstaat im Senat vertreten hätte. Schon bald nach der Nominierung führte Martha Coakley eindeutig in den Umfragen, wenig verwunderlich in einem Staat, der seit Jahrzehnten mit komfortablen Mehrheiten von den Demokraten dominiert wird. Weit abgeschlagen war der republikanische Kandidat, Scott Brown, ein unbekannter Senator in Massachussetts.
Doch dann kam alles anders: Bereits Ende Dezember sackten die Zustimmungsraten für die Demokraten dramatisch ab und ein spannendes Kopf- an Kopfrennen begann. Das Ende ist bekannt: Scott Brown gewann am 19. Januar klar mit 52% zu 47%.
Demokraten verunsichert
Das Ergebnis hat die Demokraten tief verunsichert. Vorwürfe, die demokratische Bewerberin hätte den Wahlkampf, in den am Ende sogar Obama selbst eingegriffen hat, zu lasch geführt, treffen nicht den Kern des weit tiefer liegenden Problems. Konnten Wahlniederlagen in anderen Gegenden, wie etwa bei den Gouverneurswahlen in Virginia, einen Staat den Obama 2008 noch gewonnen hatte, mit der dort vorherrschenden konservativen Haltung der Bevölkerung erklärt werden, so trifft die Wahl in Massachussetts die Demokraten in ihrem Selbstverständnis. Umfragen belegen, dass der moderat auftretende Scott Brown weit in das Lager der Unabhängigen einbrechen konnte, die an der Ostküste eine wichtige Rolle spielen. Neben vielen lokalen spielten vor allem bundespolitische Gründe eine wichtige Rolle.
Der erhebliche Zorn der amerikanischen Bevölkerung ist von der Regierung zu lange unterschätzt worden. Zwar hat die Regierung ambitionierte Reformprojekte erfolgreich auf den Weg gebracht und vor allem durch mutige Interventionen einen Absturz der Wirtschaft, nicht nur der amerikanischen, verhindert. Was jedoch zählt ist, dass die Arbeitslosigkeit noch immer bei für Amerika seit Jahrzehnten nicht mehr gekannten 10% liegt. Außerdem haben hunderttausende infolge des Crashs ihre Häuser verloren. Der Verlust des Arbeitsplatzes führt bei vielen Amerikanern auch zum Verlust der Sozialversicherung, die über die Betriebe bereitgestellt wird. Ein Absturz, der auch die Mittelschicht bedroht.
Wut auf „die in Washington“
Zur gleichen Zeit lesen die Amerikaner täglich, dass diejenigen, die die Krise mit zu verantworten haben, wieder oben auf sind: Die Bonus-Zahlungen an der Wallstreet übertrafen im Krisenjahr 2009 noch die der vorherigen Jahre. Dies ist eine Mischung, die geeignet ist, den Zorn, gegen „die in Washington“ zu mobilisieren. Die Republikaner organisieren seit geraumer Zeit erfolgreich so genannte Teaparties, Protestveranstaltungen, die an die historische Bostoner Teaparty erinnern, mit der die Rebellion gegen die britische Herrschaft begann.
Die Demokraten sind in ihrer Strategie einem folgenschweren Irrtum aufgesessen: Die Auswertung der Wahlen von 2008 legte einen strukturellen Wandel in der amerikanischen Gesellschaft nahe. Die Republikaner wurden in die ländlichen Gebiete zurückgedrängt, konnten nur noch im Süden Erfolge verzeichnen. Sie bekannten sich selbst als College-Party, die den Demokraten die Bessergebildeten überlassen musste. So richtig diese Analyse war, so hat sie doch eines überdeckt: Die Wahl Barack Obamas war nicht das Ergebnis eines Erdrutschsieges, ungeachtet der Euphorie, die diese Wahl vielerorts ausgelöst hat. Die Wahl hat Nichtwähler mobilisiert, wie es zuletzt Anfang der sechziger gelungen ist. Der Abstand zum Gegenkandidaten der Republikaner, McCain, betrug aber nur 6,4%, und war damit nur 1% größer der Abstand zwischen Bill Clinton und H.W. Bush bei den Wahlen 1992. Das bedeutete einen klaren Sieg aber eben keine tektonische Verschiebung des Elektorats. Amerika ist nach wie vor eine weitgehend konservative Gesellschaft.
Filibuster-Mehrheit verloren
Die Wahl von 2008 hat den Demokraten eine Supermehrheit von 60 der 100 Sitze im Senat beschert. Dies ist eine so genannte Filibuster-sichere Mehrheit. Um eine Dauerrede der Opposition (Filibuster) zu stoppen und eine Abstimmung zu erzwingen, muss die stärkere Fraktion 60 Stimmen aufbringen. Diese Mehrheit ist nun durch den Wahlsieg der Republikaner in Massachussetts dahin.
Die Verärgerung trifft Obama, der Zorn der Amerikaner ist aber grundsätzlicher. Zwar nehmen die Zustimmungsraten für den Präsidenten und seine Regierungsführung ab, doch unterstützen noch gut die Hälfte der Amerikaner die Regierung. Weit unbeliebter ist der Kongress, dessen Arbeit wenig geschätzt wird. Am unteren Ende der Beliebtheitsskala rangiert die Fraktion der Republikaner. Um so erstaunlicher ist es, dass die Republikaner mit ihrer Blockadepolitik gegenüber den zentralen Gesetzesvorhaben erfolgreich zu sein scheinen.
Kuhhandel im Gesetzgebungsverfahren
Dies hat viel mit dem Gesetzgebungsverfahren in Washington zu tun. Gesetzesentwürfe sind verfassungsgemäß einem intensiven Aushandlungsprozess unterworfen. Da die Abgeordneten weit mehr der eigenen Wahlbevölkerung als der Partei oder Fraktion verantwortlich sind, artete dieser Prozess häufig zu einem regelrechten Kuhhandel aus. Das lässt sich am Beispiel der Gesundheitsreform gut illustrieren: Obama hat die Formulierung des Gesetzes weitgehend dem Kongress überlassen, nachdem Anfang der neunziger Jahre Bill Clinton mit einer im Weißen Haus gefertigten Fassung komplett aufgelaufen ist. Bald wurde aber deutlich, dass die Demokraten sich überwiegend selbst blockieren.
Wollten die Liberalen unbedingt eine öffentliche Krankenversicherung (public option), um den Wettbewerb zu beleben und die Kosten zu begrenzen, hielten konservative Demokraten diese für ein Symbol des übermächtigen Staates. Strittig ist zudem die Frage, ob auch Abtreibungen abgedeckt werden sollten, für linke Demokrat_innen eine Notwendigkeit, für konservative ein Grund, die Unterstützung zu verweigern. Im Laufe dieser Verhandlungen ist ein Gesetz von über 2000 Seiten entstanden, das kaum jemand mehr versteht. Aufsehen hat kürzlich der Senator von Nevada erregt, der aufgrund seiner Pro-Life Position (strikte Abtreibungsgegner) die Stimme zunächst verweigert hatte. Erst als der Mehrheitsführer im Senat, Harry Reid, seinem Parteikollegen zusicherte, dass der Bund alle Mehrkosten der Gesundheitsreform für Nebraska übernehmen werde, hat der Senator seine ethischen Bedenken hinten angestellt. Damit war die Stimme Nebraskas gewonnen - die Stimmung in den 49 anderen Staaten aber eher fassungslos über diese Art von Geschäft.
Eine wesentliche Auseinandersetzung bei der Gesundheitsreform, aber auch der anstehenden Umweltgesetzgebung sind die damit verbundenen Kosten. Das Anliegen, 35 von 50 Millionen unversicherten Amerikanern in die Versicherung zu nehmen, findet weitgehend Zustimmung. Die genannten Einzelverhandlungen (earmarkings) aber, die häufig gar nicht mit dem Gesetz in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen, treiben die Kosten der Projekte in die Höhe. Es entstehen Gesetze, die wegen dieser Kosten nicht mehr von ihren ursprünglichen Verfechtern mitgetragen werden.So hat kürzlich der ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidat Howard Dean, ein vehementer Befürworter der Gesundheitsreform erklärt, er würde dieses Gesetz so auch nicht mehr unterschreiben. Die Selbstbeschäftigung der Demokraten hat es den Republikaner leicht gemacht, sich auf Verhandlungen erst gar nicht einzulassen, sondern sämtliche Reformen, insbesondere die Gesundheitsreform zu blockieren.
Hope und Change erschreckt jetzt viele Menschen
„Wenn die Demokraten Hope und Change rufen“ hat kürzlich der Publizist Van Jones die Lage beschrieben, „ dann sind die Progressiven in Euphorie. Die Hälfte der Amerikaner aber regiert verunsichert, verschreckt und wird zunehmend empfänglich für die Kampagne der Republikaner.“ Die Botschaft scheint angekommen. Die Regierung ist bemüht , sich stärker um die grundlegenden Belange der „Mainstreet“, insbesondere um die Arbeitslosigkeit, zu kümmern. Sie wird dabei auf die Zusammenarbeit mit den Republikanern angewiesen sein.
Noch ist nicht klar, ob die konservativen Hardliner, wie die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Sarah Palin die Oberhand behalten, oder ob es nicht doch gelingt, moderate Republikaner für die Reformprojekte zu gewinnen. Die sachorientierten, sich an den „Mann auf der Strasse“ konzentrierende Stil der Kandidaten waren bei den Gouverneurswahlen in Virginia und nun auch in Massachussetts für die Republikaner erfolgreich. Massachussetts hat übrigens ein Gesundheitssystem, das nahezu alle Einwohner abdeckt. Dem Gesetz hat der damalige Senator von Massachussetts und jetzige republikanische Wahlsieger Scott Brown zugestimmt. Eine reine Blockadehaltung dürfte ihm in Washington nun schwerfallen, es sei denn die Demokraten bringen es nicht fertig, einen akzeptablen Kompromiss vorzulegen.
Die ersten Reaktionen lassen den populistischen Impuls der Demokraten wieder stärker werden. Nachdem Finanzminister Timothy Geithner, ehemaliger Chef der Zentralbank in New York mit guten Verbindungen zur Finanzindustrie, ein eher Wall-Street freundliches Konzept zur Finanzmarktregulation vorgelegt hat, droht die Regierung den Banken nun mit Sondersteuern.
Wie geht es weiter in der Klimapolitik?
Offen ist auch das Schicksal der nach dem Gipfel von Kopenhagen so wichtigen Energie- und Klimagesetzgebgung. Die Diskussionen am Capitol Hill dazu sind recht konfus. Ein reines Energiegesetz dürfte am Widerstand der Demokraten scheitern, die sich einem Ausbau der Offshore-Bohrungen verweigern. Offensichtlich wollen die Republikaner das Rad zurückdrehen: die republikanische Senatorin Lia Murkowski versucht einen Gesetzesentwurf einzubringen, der die Kompetenzen der Umweltbehörde EPA beschneidet, CO2-Emissionen zu regulieren. Aufgrund fehlender Gesetzesgrundlagen versucht die Behörde ihre Kompetenzen weitestgehend im Sinne des Klimaschutzes auszunutzen. Das soll, so der Wille der Senatorin, ein Ende haben. 38 Stimmen hat sie schon beisammen, drei davon von der demokratischen Fraktion. Die demokratischen Senatorinnen Cantwell (Washington State) und Collins (Maine) arbeiten unterdessen an einem Cap and Dividend – Gesetzesentwurf, bei dem die Erlöse des Emissionshandels an die Bürger_innen ausgezahlt werden. Dabei gingen allerdings die Staaten leer aus, die überwiegend ländlich strukturiert sind und im Cap and Trade System von Senator Kerry und Markey Kompensationszahlungen erhalten sollten. Die Stimmen aus den agrarischen Bundesstaaten sind für eine Mehrheit aber unerlässlich.
Beschränkung bei Wahlkampffinanzierung aufgehoben
Die Zeiten der Reformeuphorie sind erst einmal vorbei. Die Demokraten müssen sicherstellen, dass zumindest die wesentlichen Elemente der Reformprojekte Gesundheit, Umwelt und Energie und Finanzmarktregulation vor dem anstehenden Wahlkampf zu den Midterm Elections im November unter Dach und Fach sind. Ob dies zu mehr Parteidisziplin führt oder ob die zur Wahl stehenden Demokraten ihr Heil in Alleingängen suchen wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Die jüngste Entscheidung des Obersten Gerichtshof dürfte den Wahlkampf zusätzlich verschärfen: In einer umstrittenen 5:4 Entscheidung hat das Gericht die seit sechzig Jahren bestehenden Beschränkungen aufgehoben, denen Firmen bei der Wahlkampffinanzierung bislang unterworfen waren. Das bestehende Gesetz beschränke die Firmen in ihrem Recht der freien Meinungsäußerung, so die richterliche Mehrheit. Die ohnehin erheblichen Summen, die bei amerikanischen Wahlkämpfen aufgegeben werden, dürften damit erheblich ansteigen, die Spannung zwischen Mainstreet und Corporate America sicher auch.