Foto oben: © Stephan Röhl.
Teaserfoto:_boris (Quelle: Flickr.com). Das Foto steht unter einer Creative Commons-Lizenz.
Von Stefan Schaaf
Der koordinierte Taliban-Überfall auf mehrere Kabuler Ministerien und den Präsidentenpalast am 18. Januar war eine Aktion, die die Regierung und die Unterstützer Afghanistans gezielt verunsichern und demotivieren sollte. Der Angriff fand zehn Tage vor der wichtigen internationalen Afghanistan-Konferenz in London statt und am gleichen Tag, an dem Präsident Hamid Karzai 14 Minister seiner neuen Regierung vereidigte. Die Attacke unterstrich, wie sehr die seit acht Jahren laufenden internationalen Bemühungen zur Sicherung und zum Wiederaufbau eines funktionierenden Staatswesens in Afghanistan zu scheitern drohen.
Wie soll die Konferenz in London diese Bemühungen voranbringen? Wird sie dem Einsatz der Internationalen Schutztruppe ISAF einen neuen Sinn geben, bevor die politische Unterstützung in den Entsendeländern ganz abreißt? Wird sie gar eine Zäsur sein? Antworten brachte eine Diskussion in der Heinrich-Böll-Stiftung am 21. Januar. Teilnehmer waren Bente Aika Scheller (Leiterin des Kabuler Büros der Heinrich-Böll-Stiftung), Rüdiger König (Afghanistan-Referatsleiter im Auswärtigen Amt), Frithjof Schmidt (außenpolitischer Koordinator von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag) und Christian Wagner (Südasien-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik). Julia Scherf, Leiterin des Asienreferats der Heinrich-Böll-Stiftung, moderierte die Diskussion.
Scherf sagte zu Beginn, noch könne man nicht überzeugt sein, dass die Londoner Konferenz tragfähigere Ergebnisse bringen werde als vergleichbarer Treffen bisher. Die Enttäuschung über das wenige in diesen acht Jahren Erreichte sei enorm: Die Zahl der zivilen Opfer der Gewalt – 2412 wurden 2009 gezählt, die große Mehrzahl starben bei Anschlägen der Taliban – sei so groß gewesen wie nie zuvor seit 2001. Auch der Aufschwung der afghanischen Wirtschaft habe sich 2008 von 12 auf 3,4 Prozent verlangsamt. Rüdiger König entgegnete, dass sich die Strategie der internationalen Gemeinschaft wie der USA seit der Wahl Barack Obamas in einem deutlichen Wandel befinde. In London werde es hoffentlich eine Übereinkunft geben, um in Afghanistan „kohärenter, präziser und fokussierter“ vorzugehen. Diese Neupositionierung zeige sich im Papier des ISAF-Oberkommandierenden Stanley McChrystal, das beim Nato-Gipfel in Straßburg debattiert wurde. Konsequenz war, dass die USA nicht nur ihre Truppen um 30.000 Mann aufstocken, sondern auch tausend zivile Experten nach Afghanistan schicken. Die Europäische Union habe sich mit ihrem „EU Action Plan“ Entwicklungsschwerpunkte gesetzt: eine bessere Regierungsführung, den Aufbau der Verwaltung und die Schulung von afghanischen Fachkräften. Karzai habe in seiner Antrittsrede seinerseits die Ziele seiner Regierung erläutert. Vor allem will er bis 2014 mit afghanischen Kräften die Sicherheit im Lande gewährleisten. Die Bundesregierung, so König, sei deshalb zuversichtlich, dass die Konferenz in London auf einer anderen Basis stattfinden werde als frühere Afghanistan-Gipfel.
Bente Scheller betonte, die Afghanen beurteilten die Aussichten der Londoner Konferenz skeptisch, allein schon wegen der nur eintägigen Dauer des Treffens. Vieles werde wohl erst bei der Ende März folgenden Afghanistan-Konferenz in Kabul entschieden werden können. Sie befürchten auch, so Scheller, dass Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg gefällt würden und, dass Pakistan am Ende am meisten profitieren werde. Bezweifelt wird zudem, dass Karzai die Korruption wirklich bekämpfen wolle,.Sie sei so tief verwurzelt, dass sie nicht per Dekret abgeschafft werden könne. Das Ausmaß der Korruption wird von den Afghanen einem neuen UN-Report zufolge, als das größte Problem des Landes gesehen.
Christian Wagner ging auf die Ängste Pakistans ein, das die enge Zusammenarbeit Afghanistans und Indiens mit Argwohn beobachtet. Diese Ängste sind die Ursache für die widersprüchliche Haltung Pakistans zu den islamistischen Aufständischen im Grenzgebiet zu Afghanistan. Pakistan befürchtet, dass die US-Streitkräfte ihre Drohnenangriffe auf Belutschistan ausweiten könnten. Dort, rund um die Stadt Quetta, wird die Führung des 2001 gestürzten Taliban-Regimes vermutet. Wagner betonte auch die Dimension der sich in Pakistan auftürmenden Probleme: eine fünfmal so große Bevölkerung wie Afghanistan, unzureichende staatliche Versorgung, eine schlechte Regierungsführung, große Abhängigkeit von ausländischer Finanzhilfe. „In Pakistan wird die Rechnung für die internationale Gemeinschaft noch viel höher ausfallen“, warnte Wagner.
Zuletzt wurde viel über die Möglichkeit debattiert, in Afghanistan mit den Taliban einen Verhandlungsprozess zu initiieren. Bisher hat dabei allerdings ausschließlich Karzai Angebote an die Aufständischen gemacht. Sein Außenminister Rangin Dadfar Spanta erläuterte jetzt in Berlin einen schon recht konkreten Versöhnungsplan. Außenminister Westerwelle hat sich dazu bereits zustimmend geäußert, genauso wie ISAF-Oberkommandierenden McChrystal in einem Interview der „Financial Times“. Wie Frithjof Schmidt berichtete, definiert der afghanische Plan drei Kategorien: Zunächst die Führungsebene der Taliban, die der Bewegung Gulbuddin Hekmatyars und die der Organisation um Dschalaluddin Haqqani. Jeweils 20 bis 60 Leute, mit denen Karzai politisch verhandeln will und von denen er auch Vertreter in die Regierung aufzunehmen bereit ist. Der zweiten Ebene, den Distriktkommandeuren der Taliban und der beiden anderen Gruppen (etwa 700 oder 800 Mann), soll eine Amnestie und die Reintegration angeboten werden. Die dafür nötigen Mittel sollen aus einem internationalen Fonds fließen. Die bis 50.000 Menschen des Fußvolks der Aufständischen, sollen in ihren Heimatgebieten reintegriert werden.
Die politische Frage ist für Frithjof Schmidt, ob es bei einem solchen Verfahren „rote Linien gibt, etwa ob man bestimmte Kriegsverbrecher ausschließt“. König nannte diesen Versöhnungsdialog einen innerafghanischen Prozess, zu dem die internationale Gemeinschaft nur bedingt – nämlich durch Geld für den Reintegrationsfonds – etwas beitragen könne. Scheller wandte ein, vor allem den Afghanen, die sich für Demokratie und die Einhaltung der Menschenrechte in ihrem Land einsetzten, bleibe „schon bei dem Gebraucht des Wortes Versöhnung in diesem Zusammenhang die Spucke weg“. Es müsse eine Aufarbeitung und eine Gegenleistung der Aufständischen geben, wenn ihnen etwa Land zugesagt werde. Es sei jetzt schon problematisch, wie viele ehemalige Warlords weiter unbehelligt agieren könnten.
Skeptisch war Schmidt über die jetzt im Raum stehenden Zeitplanungen, bis 2014 oder 2015 einen Abzug der internationalen Truppen zu ermöglichen. Das müsse die Praxis entscheiden. Deutschland müsse jetzt an seinem bisherigen Stabilisierungsauftrag des klassischen Peacekeeping festhalten und sich nicht zu einer Ausweitung in Richtung Aufstandsbekämpfung drängen lassen. Die entwicklungspolitischen Ziele der Bundesregierung müssten durch langfristige Zusagen abgesichert werden.
Julia Scherf sprach die Sorge der in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen an, die großen Wert auf ihre Distanz zum militärischen Einsatz legen. Schmidt warf Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel vor, hier einen gefährlichen Kurs zu steuern, wenn er von enger Verzahnung von zivilem und militärischem Engagement spreche und gar die Mittelvergabe davon abhängig machen wolle. Beides müsse komplementär sein, dürfe aber nicht vermischt werden. König betonte, dass diese Frage vor Ort weniger wichtiger sei, als in Deutschland. Die Bundeswehr wolle keine Entwicklungshilfe leisten. Was die Bundesregierung in diesem Bereich auch langfristig als Ziele setzt, habe sie im November in dem Kabinettsbeschluss „Übergabe in Verantwortung“ festgelegt.
Auch Scheller sieht im Nebeneinander von Bundeswehr und Entwicklungshilfe kein drängendes Problem. Die Ausbildung afghanischer Kräfte, die für Sicherheit sorgen, sei wichtig, und niemand außer der Bundeswehr könne dies leisten. Sicherheit sei eine Voraussetzung, damit eine Stadt wie Masar-i-Sharif sich weiter zur Boomtown im Norden entwickeln könne. Scheller hob die erfolgreiche Entwicklung bei der Energieversorgung hervor. In den verschiedenen Bereichen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit sei jedoch eine bessere Verzahnung notwendig: Die Koordination zwischen deutschem Polizeiaufbau und italienischem Justizaufbau sei beispielsweise ungenügend.
In der anschließenden Debatte wurde die Sorge laut, dass im Interesse der Stabilität Afghanistans und eines möglichst raschen Truppenabzugs von den ISAF-Staaten, zu große Zugeständnisse bei der Absicherung demokratischer Rechte gemacht würden. Bente Scheller wies auf die psychischen Verwüstungen nach 30 Jahren Krieg hin. Sie begrüßte daher ausdrücklich das Engagement der Charité und der Caritas, sich für eine bessere psychosoziale Betreuung in Afghanistan zu engagieren. Die Frage nach der Zukunft der zivilen UNO-Mission UNAMA wurde laut. Nach dem Angriff auf ein UNAMA-Gästehaus wurde das Personal im Lande deutlich reduziert, und die zukünftige Führung ist nach dem bitteren Streit um die Haltung der UNO zu den Wahlfälschungen vom August unklar.
Christian Wagner sagte am Schluss, im besten Falle werde man Afghanistan in der näheren Zukunft eine Gesellschaft wie im heutigen Indien vorfinden – mit gewaltigen sozialen Unterschieden und Ungleichzeitigkeiten, aber einem demokratischen System und lebendigen gesellschaftlichen Diskurs.