„Wir brauchen eine Radikalität der Mitte“

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26. Januar 2010
Anthony Giddens, der Autor von "Der dritte Weg", und Ralf Fücks im Gespräch über eine Politik des Klimawandels, die Umgestaltung unserer Zivilisation und das Verhältnis von Utopie und Realismus, die Verortung der Klimapolitik jenseits des alten Rechts-Links-Schemas und die Rolle des Staates.

Ralf Fücks:
"Eine Politik des Klimawandels gibt es bislang nicht". Mit dieser Aussage beginnt Ihr neues Buch The Politics of Climate Change. Nach all den internationalen Konferenzen, einzelstaatlichen und europäischen Regelungen und dem Boom der erneuerbaren Energien, den Rot-Grün in Deutschland angeschoben hat, soll es keine Politik des Klimawandels geben?

Anthony Giddens: Es hat mich verwundert, dass es nur ganz wenige Politikwissenschaftler gibt, die Klimawandel im Zusammenhang mit demokratischen Institutionen
thematisieren. Also: Wie kommen wir in einem parlamentarischen System, das vom Streit der Parteien lebt, mit der ökologischen Transformation unserer Gesellschaften voran? Wie schaffen wir es, von einer kurzfristig ausgerichteten Politik auf eine langfristige Politik umzuschalten, und das, obwohl wir seit dreißig Jahren nicht mehr an langfristige Konzepte gewöhnt sind – die Planwirtschaft ist schließlich gescheitert. Welche institutionellen Veränderungen brauchen wir in demokratischen Ländern, um dieses Ziel zu erreichen? Und wie verhalten wir uns den Ländern gegenüber, die sich im Kampf gegen den Klimawandel nicht engagieren? Diese Fragen werden bislang nicht diskutiert.
Beim Klimawandel haben wir es ja mit einem Problem zu tun, das anders ist als alle Probleme, mit denen die Menschheit bislang umgehen musste. Dem Klimawandel können wir nur mit einer wahrhaft globalen Reaktion begegnen, die aber zum großen Teil auf nationalstaatlicher Ebene stattfinden muss, weil sich parallel zur wirtschaftlichen und politischen Globalisierung kein globales Sanktionssystem herausgebildet hat.
Doch wir müssen neuartige Sanktionierungsmechanismen entwickeln. Internationale Abkommen sind nicht viel wert, wenn sie keine Handhabe gegen Länder enthalten, die ihre Zusagen nicht einhalten. Welche Mühe bereitet es allein der Europäischen Union, die Lissabon-Agenda umzusetzen! Darum müssen wir auf der Ebene der internationalen Institutionen genauso innovativ und kreativ sein wie bei der Technologieentwicklung.

Fücks: Sie sprechen in Ihrem neuen Buch von einer grundsätzlichen Umgestaltung unserer Zivilisation …

Giddens: Ich denke, dass Sie diese Auffassung teilen?

Fücks: Durchaus. Gleichzeitig sprechen Sie sich sehr klar dafür aus, dass wir mit den bestehenden Institutionen arbeiten müssen, und zwar so, dass die parlamentarische Demokratie respektiert wird. Die demokratische Republik gehört offenbar zu den hohen Gütern, die wir beide für die Rettung des Klimas nicht opfern wollen. Die Frage ist, ob unser gegenwartsfixierter politischer Betrieb fähig ist, einer Herausforderung zu begegnen, die erst in Zukunft wirksam wird?

Giddens: Ich gehe von einem Ansatz aus, den ich als "utopischen Realismus" bezeichne. Wir müssen beides verbinden: Mit reinem Utopismus ist niemandem geholfen, mit bloßem Realismus auch nicht, denn es fehlt der transformative Impuls, um die anstehenden Probleme anzugehen.
Ich habe oft die Auffassung gelesen, dass wir wieder zu einem "autoritären System" zurückkehren müssten, aber ich bin davon nicht überzeugt. Nur eine offene Gesellschaft ist in der Lage, die Art von Kreativität und Innovation zu entwickeln, die wir brauchen.
Nötig ist auch ein Element von Utopie, weil wir uns eine andere Welt ausdenken müssen. Es langt nicht, nur mit ökologischen Produkten und erneuerbaren Energien auf den Klimawandel zu reagieren. Wir brauchen einen Ansatz, der einschneidende Veränderungen des Lebensstils mit sich bringt. Wohin uns das führen wird, wissen wir nicht. An sein Ende gekommen ist auf jeden Fall der "American way of life" mit seiner billigen Energie und den billigen Krediten – das kann nicht so weitergehen.
Auch der chinesischen Führung ist in den letzten fünf, sechs Jahren klar geworden, dass sie den Weg des Westens nicht einfach kopieren darf.

Fücks: Dass offene, demokratische Gesellschaften besser in der Lage sind, kreative Lösungen hervorzubringen, ist historisch belegt. Andererseits wird zunehmend bezweifelt, ob ein System, das auf der Parteienkonkurrenz um Wählerstimmen basiert, genügend Zukunftsverantwortung aufbringen kann. Parlamentarische Systeme neigen per se dazu, zugunsten kurzfristiger Vorteile die Zukunft zu verbrauchen und unbequemen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen. Ich bin besorgt, ob wir in eine
Krise der Demokratie hineingeraten. Wie schaffen wir es, ein auf langfristige Perspektiven ausgelegtes Denken in die Politik einzubringen?

Giddens: Die Zukunft ist offen und unvorhersehbar, und trotzdem müssen wir langfristig denken. Das ist keine leichte Aufgabe. Ein gewisses Experimentieren mit der Demokratie selbst wird wohl angebracht sein. Der Zivilgesellschaft kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, sie muss das Handeln der
wichtigsten politischen Parteien überwachen.
Ich bin dafür, dass die politischen Parteien eine Art Konkordat eingehen. Die Briten verfügen mittlerweile über ein rechtlich bindendes System, das jede nachfolgende Regierung durch die Verfassung verpflichtet, das Programm der Emissionsreduktion fortzuführen. So wird zumindest versucht, institutionelle Kontinuität zu schaffen. Doch weder die Rückkehr zu einer verstärkt autoritären Top-Down-Politik noch eine bloße Bottom-Up-Politik werden uns weiterhelfen. Wir brauchen eine Machtkoordinierung parallel zur demokratischen Bottom-Up-Politik, damit ein langfristiges Programm zustande kommt.

Fücks: Sie vertreten die These, dass der Klimawandel "keine Klassenfrage" ist. Ihr Satz knüpft an das grüne Denken der frühen Jahre an: "Nicht links, nicht rechts, sondern vorn". Umweltprobleme und Klimakrise passen nicht in ein polarisierendes Politikmodell.

Giddens: Das ist genau meine Meinung: Wir brauchen eine Radikalität der Mitte. Radikalität kann man nicht einfach mit links oder rechts gleichsetzen. Um wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel auf den Weg zu bringen, brauchen wir viel öffentliche Unterstützung. Das heißt, dass hier der scharfe Gegensatz von Links und Rechts sowohl ideologisch als auch in der parteipolitischen Praxis überwunden werden muss, sonst droht Gefahr. Nehmen Sie als Beispiel die USA. Der globale Kampf
gegen den Klimawandel ist gefährdet, weil in den USA Klimawandel zu einer Frage von Links und Rechts geworden ist. Viele Republikaner betrachten Obamas Politik als linkes Gesamtpaket – Gesundheitswesen, Eingriffe in die Wirtschaft, Klimawandel …
Diese Pauschalisierung ist eine natürliche Neigung in demokratischen Ländern. Darum müssen wir zu einem dauerhaften Konsens kommen.

Fücks: Man braucht also einen klimapolitischen Konsens, der über wechselnde Regierungsmehrheiten hinweg trägt.

Giddens: Es ist ein großer Fehler, wenn die Linke sagt "Das ist unser Projekt", denn dies führt zur politischen Polarisierung. Die politische Rechte wird vergrault, die dann sagt: "Das hat mit uns nichts zu tun". Die Linke hat also eine Verantwortung und muss erkennen, dass im Hinblick auf den Klimawandel die Polarisierung eingeschränkt werden muss, weil der Klimawandel ein dringliches und allumfassendes Problem ist.

Fücks: Der Kampf gegen den Klimawandel sollte nicht zu einem Trojanischen Pferd für einen neuen Antikapitalismus werden?

Giddens: So ist es. Es gibt durchaus einen Zusammenhang zwischen dem Kampf gegen Klimawandel, der Konsumkritik und der notwendigen Reaktion auf die Finanzkrise. Wenn aber versucht wird, ein gescheitertes linkes Projekt durch ein Umweltprojekt zu ersetzen, dann ist das für mich kein zukunftsweisender Weg.

Fücks: Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass der Staat bei der Neugestaltung der Märkte und der Förderung neuer Technologien eine entscheidende Rolle spielen muss? Wie soll das Verhältnis zwischen Staat, Märkten und Zivilgesellschaft aussehen?

Giddens: Dass ich den Staat so stark betone, liegt daran, dass es im internationalen System an Mechanismen der Durchsetzung fehlt. Die Nationalstaaten behalten eine
immense Macht und bleiben die wichtigste Rechtsquelle. Zwar gibt es ein internationales Recht, aber über starke Sanktionsmechanismen verfügt es nicht. Die großen Einzelstaaten müssen also Verantwortung übernehmen, indem sie miteinander kooperieren. Das muss keine universelle Kooperation nach dem Vorbild von Kyoto sein, das kann auch regionale oder andere Formen annehmen.
Da die Lage dringlich ist, müssen wir das anstreben, was wir erreichen können – eine reale Begrenzung der Treibhausgasemissionen, mit welchen Mitteln auch immer. Das betrifft insbesondere die Technologie. Ich nehme an, dass Sie Kernkraftgegner sind, aber manche Länder werden nicht ohne Kernenergie auskommen, wenn sie ihren Treibhausgasausstoß weitgehend reduzieren wollen. In diesem Bereich sollten wir also nicht das Bessere zum Feind des Guten machen. Das Gleiche gilt für die Umrüstung von Kohle- zu Gaskraftwerken.
Deutschland ist da kein typisches Land. Für eine bestimmte Zeit auf Atomkraft zu setzen, kann richtig sein. Denn die oberste Priorität für alle Industrieländer sollte die Abkehr von der Kohle sein. Der Ausbau der Kohleverfeuerung ist für die Welt eine echte Gefahr. Mittlerweile hat – und das liegt u.a. an China – die Energiegewinnung aus Kohle weit stärker zugenommen als alle anderen Energieformen. Wenn da ein Land wie Deutschland fordert, keine Kohlekraftwerke mehr zu bauen – wie soll man da die nächsten zehn, fünfzehn Jahre meistern? Jedes Land muss für sich den geeigneten Energiemix finden – mit dem Ziel, die Emissionen schrittweise zurückzuführen.

Fücks: In Ihrem Konzept einer Politik des Dritten Weges und Tony Blairs New Labour spielte der "ermöglichende Staat", der enabling state, eine wichtige Rolle. Sie gehen jetzt einen Schritt weiter – oder sollte ich sagen: einen Schritt zurück? – und verwenden den Begriff des "Gewährleistungsstaates", des ensuring state. Der Staat habe dafür zu sorgen, dass die Minderung der CO2-Emissionen im notwendigen Umfang definitiv erfolgt. Sie schreiben dem Staat also Ergebnisverantwortung zu. Alles in allem zeigt diese Vorstellung einen stärkeren Staat als den, den Sie in Ihrem Buch "Der dritte Weg" vor fünfzehn Jahren beschrieben haben.

Giddens: Das finde ich nicht. Ich möchte nicht mit New Labour gleichgesetzt werden. Meine Argumente haben ja in einer Zeit, in der ich sehr eng mit Politikern zusammengearbeitet habe, lediglich einen Rahmen für sie geschaffen. Politiker treffen ihre Entscheidungen jedoch auf eigene Faust. Ich war immer der Meinung, dass das Finanzsystem stärker reguliert werden sollte, dass große Vermögen besteuert werden und die Superreichen den Superarmen helfen sollten.

Fücks: "Der dritte Weg" war für mich und für viele reformorientierte Grüne ein wichtiges Buch.

Giddens: Die Idee wurde von vielen missverstanden. Meine Kritik richtete sich gleichermaßen gegen den traditionellen Sozialismus wie den Marktfundamentalismus. Die Labour-Party schlug einen ziemlich marktliberalen Kurs ein und die Menschen haben den Dritten Weg irrtümlicherweise damit gleichgesetzt. Und das "Schröder-Blair-Papier" war eine recht hoffnungslose Angelegenheit, weil es sich nur auf die eine Hälfte des Problems beschränkte. Es war nicht auf soziale Gerechtigkeit ausgerichtet,die für mich immer vorrangig war.

Fücks: Ein zentraler Gedanke in Ihrem aktuellen Buch ist, dass wir zwischen Klimapolitik und anderen politischen Zielen Synergien erzeugen müssen. Eine der starken Synergien, die Sie untersuchen, ist die Verknüpfung von Klima und Energiesicherheit.

Giddens: In den meisten Industrieländern nimmt die Bevölkerung die Klimakrise kaum zur Kenntnis. Um die Menschen in großem Stil zu mobilisieren, werden auch tausend Bilder von Eisbären, die auf Eisschollen umhertreiben, nicht viel ausrichten. Doch für die Vorstellung von sauberer Energie und von Energiesicherheit sind die Menschen empfänglich. Darüber können wir sie für das Ziel, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren, mobilisieren. Man muss alle Möglichkeiten nutzen und gleichzeitig versuchen, diese mit einer utopischen Vision zu verknüpfen. Diese Verknüpfung zwischen Utopismus und Realismus – das ist wirklich hochinteressant.

Fücks: Es geht also darum, Negatives in Positives zu verwandeln – aus dem Risiko Klimawandel Chancen auf ein besseres Leben zu entwickeln.

Giddens: Das ist für meinen Geschmack ein bisschen zu viel Utopie.

Fücks: Jedenfalls geht es nicht darum, den Menschen Angst zu machen. Der berühmte Satz von Martin Luther King lautet ja nicht "I have a nightmare", sondern "I have a dream".

Giddens: Wirklich überrascht hat mich, dass die meisten meiner akademischen Freunde Klimawandelskeptiker sind. Sie lassen nicht gelten, dass der Klimawandel die Folge menschlichen Handelns ist. Obendrein ist ihnen nicht einmal der Mechanismus der Erderwärmung geläufig. Wir sind bislang weit davon entfernt, durch Aufklärung zum Alltag der Menschen durchzudringen.

Fücks: Anthony, Sie sind dem grünen Potenzial gegenüber sehr skeptisch. Sie bringen es stark mit vorindustrieller Romantik und einer anti-modernistischen Haltung in Verbindung. Auf mich wirkt das wie eine Karikatur und nicht wie ein realistisches Abbild grüner Politik, wie sie sieben Jahre lang in der Bundesregierung vertreten war.

Giddens: Ich verrate Ihnen, warum ich die grüne Bewegung zumindest zwiespältig sehe. Erstens sind die Grünen aus einer außerparlamentarischen Bewegung heraus entstanden. Zwar gibt es mittlerweile grüne Parteien, aber in den meisten Fällen sind diese Parteien klein und in der Politik Außenseiter. Was wir brauchen, um effektiv gegen den Klimawandel zu kämpfen, ist eine Unterstützung, die von einem breiten Konsens getragen wird. Deswegen müssen die großen Parteien den größten Teil dieser Last schultern. Zweitens dreht es sich nicht darum, den Planeten zu retten, wie so viele Grüne behaupten, sondern darum, einen annehmbaren Lebensstil zu erhalten.

Fücks: Sobald die Grünen in Parlamenten vertreten sind, sich an Regierungen beteiligen und Realpolitik betreiben, verlassen sie auch die Außenseiterrolle, werden sie zu einer Partei wie andere Parteien, und zugleich bleiben sie unverwechselbar im Hinblick auf die besondere Mischung von politischen Werten und Zielen, die die Grünen zu einer neuen politischen Kraft machen. Wir unterscheiden uns von den konservativen, liberalen und sozialistischen Strömungen Europas. Und Sie werden erleben, dass wir uns zu echten Konkurrenten der früheren Volksparteien um die Führungsrolle im Land entwickeln, zumindest in den urbanen Zentren.

Giddens: Ja, aber das ist doch ein Normalisierungsprozess, nicht wahr? Und aus diesem Grund verlieren die Grünen einen Teil ihrer ursprünglichen Identität, was im breiten Spektrum der grünen Bewegung  zwiespältige Gefühle auslöst. Grüne Politik – das ist mir vielfach zu unbestimmt.

Fücks: Ich wünsche Ihrem Buch viel Erfolg. Ich vermute allerdings, dass es in einem Punkt keinen Erfolg haben wird: Sie wollen die Metapher "grün" für die anstehenden Veränderungen vermeiden. Aber "going green" ist schon mehr als ein Parteislogan – es ist die Kurzformel für die große Transformation, für die Sie selbst werben.

Übersetzung: Andreas Bredenfeld
Teaserfoto: © Stephan Röhl

Green New Deal / Great Transformation