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"Allerdings bebt die Erde immer noch"

Lesedauer: 5 Minuten
Ein Mann in der nach dem Erdbeben überfluteten Gemeinde Pelluhue
Foto: Rodrigo Linfati (Quelle: flickr.com). Dieses Foto steht unter einer Creative Commons Lizenz.

2. März 2010
Michael Álvarez Kalverkamp ist Leiter des Stiftungsbüros Cono Sur in Chile. In einem Interview von DW-TV schildert er die Lage in Chile.


Wie empfinden Sie die Stimmung im Land?

Die Stimmung ist natürlich immer noch sehr gedrückt und von Nervosität geprägt, auch wenn die Opferzahlen insgesamt angesichts der Erdbebenstärke und im Vergleich zu Haiti mit 730 relativ niedrig ausgefallen sind. Allerdings bebt die Erde immer noch: Gestern und auch heute Morgen gab es weitere stärkere Nachbeben, zwischen 6.6 und 5.5 auf der Richterskala. Viele Menschen haben immer noch Angst vor einem größeren Nachbeben, auch in Santiago.

Hinzu kommt, dass viele, auch neuere Wohngebäude, offenbar doch stärkere strukturelle Schäden aufweisen, so dass sich die Gefahr eines Einsturzes bei einem Nachbeben erhöht. Heute schickten im Zentrum von Santiago viele Untenehmen und Behörden ihre Angestellten wieder nach Hause, da offenbar eine Reihe von Schäden an den Gebäuden erst untersucht werden muss.

Das Schlimmste allerdings dürfte die nach wie vor katastrophale Lage in den am stärksten betroffenen Regionen BioBio und Maule sein, ca. 300-500 km von Santiago. Sowie in den Städten Concepción, Talca, aber auch entlang der Küste, wo eine Flutwelle zahlreiche Küstenorte zerstört hat. Hier erreichen die Hilfsleistungen und Suchtrupps erst langsam das Zentrum der Katastrophe.


Es wurde von Plünderungen berichtet – haben die Sicherheitskräfte die Lage mittlerweile im Griff?

Es gab in der Tat vor allem in der Nacht zum Sonntag und gestern Plünderungen von Supermärkten. Vor allem in den Ortschaften im Epizentrum, wo die Menschen alles verloren haben und immer noch auf Wasser, Strom oder Lebensmittel warten. Vereinzelt wurde von auch bewaffneten Plünderungsversuchen berichtet, auf die die lokalen Sicherheitskräfte allerdings energisch reagierten. Gestern Nacht wurden in Concepción bei Schießereien eine Person getötet und fünf verwundet, deswegen steigt vor allem die Nervosität. Die Regierung verhängte gestern Mittag in der Region den Notstand und eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 9 abends und 6 Uhr morgens, womit die beiden Provinzen nun von Generälen der Streitkräfte koordiniert werden. Gestern Nachmittag wurden die ersten Polizei-Sondertruppen in die Erdbebenregion geflogen, am Abend dann 10.000 Soldaten der Streitkräfte in Marsch gesetzt. Allerdings erreichen die Sicherheitskräfte die Region nur langsam, weil sie eingeflogen werden müssen.

Auch heute wurde wieder von Plünderungen im Verlaufe des Tages berichtet. Um aber keinen falschen Eindruck zu erwecken, diese Vorfälle halten sich, auch gemessen an der Versorgungslage in den betroffenen Gebieten, insgesamt sehr in Grenzen.


Inwieweit ist Chile nun auf ausländische Hilfe angewiesen?

Benötigt wird nun vor allem im Süden Hilfe von Bergungsspezialisten, medizinische Unterstützung, denn in der Katastrophenregion sind die Krankenhäuser immer noch ohne Strom und Wasser. Zum Teil sind diese aber auch so schwer beschädigt, dass sie geräumt werden müssen. Ebenfalls wird Hilfe bei der Errichtung von Brücken, der Notversorgung mit Trinkwasser, aber auch bei der Wiederherstellung der Telekommunikationsinfrastruktur benötigt: Bis heute funktionieren aufgrund der zusammengebrochenen Stromversorgung die Telefon- oder Handynetze gar nicht oder nur sehr eingeschränkt. Ein entsprechendes Hilfegesuch hat die chilenische Regierung gestern an die EU gerichtet.

Argentinien hat fünf komplette Feldhospitäler samt Personal zur Verfügung gestellt, die in den nächsten Stunden an strategischen Orten die funktionsunfähigen öffentlichen Krankenhäuser ersetzen sollen. US-Außenministerin Hillary Clinton, die morgen in Santiago zu einem kurzen Arbeitsbesuch erwartet wird, bringt nach Angaben der Regierung in ihrem Flieger Kommunikations-Equipment mit.
Insgesamt stellt sich die Lage vor allem im Süden immer noch als äußerst prekär dar, vor allem weil die Zugangswege zu den betroffenen Ortschaften vom Beben zerstört wurden. Insofern wird nun besonders kleineres Fluggerät benötigt.


Gibt es schon einen Überblick über das ganze Ausmaß der Schäden?

Nur annähernd: In den Katastrophengebieten im Süden, in der Nähe des Epizentrums, geht man von Zerstörungen zwischen 60% und 80% der Bausubstanz an Gebäuden aus, hinzu kommt das zusammengebrochene Strom- und Telefonnetz, sowie das Straßennetz.
Hier in Santiago, wo das Beben immer noch eine Stärke von über 7 Punkte auf der Richterskala erreicht hat, stellt sich erst langsam heraus, dass zahlreiche auch neuere Wohngebäude doch stärker beeinträchtigt wurden.

Heute Morgen kursierten Informationen über rund 2 Millionen beschädigte Wohngebäude. Alleine in Santiago sollen 1.500 Gebäude Schäden aufweisen. Auch wenn die Zahlen nicht bestätigt sind, erscheinen sie doch zumindest nicht unwahrscheinlich. Die Regierung hat eine genaue Schadenserhebung in den nächsten Tagen angekündigt.


Bilder der Zerstörung – was bedeutet das für die Zukunft des Landes?

Chile ist ein wirtschaftlich gesundes Land, mit einem kräftigen Haushaltsüberschuss dank der Kupferexporte, doch das Ausmaß der Zerstörung übertrifft die finanziellen Möglichkeiten der Regierung bei Weitem. Der am 11. März antretende neue Präsident Piñera hat bereits angekündigt, dass der Staat alleine den Wideraufbau nicht wird leisten können, die Privatwirtschaft müsse beteiligt werden – was immer das dann konkret heißen mag. Es kursierten bereits verschiedenen Analysen und Studien, die davon ausgehen, dass diese Katastrophe Chile bis zu 10% des Bruttoinlandsproduktes kosten könnte.

Das größte Problem hier ist jedoch die soziale und Einkommensschere: Die meisten Erdbebenopfer, die alles verloren haben, verfügen nur über geringe Einkommen von umgerechnet 300 – 500 Euro im Monat. Sie haben sich mit Hauskäufen auf Jahrzehnte verschuldet, haben auch keine Versicherung gegen Erdbebenschäden, und stehen somit nun vor dem absoluten Nichts. Die tatsächliche wirtschaftliche Bilanz dieses Erdbebens könnte also noch deutlich tragischer ausfallen als bisher vermutet. Die neue Regierung hat auf jeden Fall schwere Jahre vor sich.


Michael Alvarez Kalverkamp ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Cono Sur (Santiago de Chile)