Die Frage nach dem Status von Gruppenrechten wird hauptsächlich dann diskutiert, wenn Ansprüche von Gruppen in einem möglichen oder wahrscheinlichen Gegensatz zu Individualrechten stehen (etwa Ansprüche auf religiöse und kulturelle Autonomie, die mit der Selbstbestimmung von Betroffenen in Konflikt geraten können) oder wenn kollektive Ansprüche deutlich über die Aggregation von Individualrechten hinausgehen (wie etwa im Fall von Separationsansprüchen). Es scheint in diesen Fällen interne Spannungen zwischen Gruppenrechten und Individualrechten zu geben. Die Frage von Gruppenrechten oder kollektiven Ansprüchen ist jedoch von viel weiterrechender Bedeutung: Wenn wir davon reden, dass Gruppen selbst (Rechts-)Ansprüche haben, so steht zur Debatte, was die Menschenrechte eigentlich schützen sollen.
Ich rede im Folgenden von Menschenrechten in einem weiten Sinne. Ich beziehe mich dabei sowohl auf das System kodifizierter Menschenrechte als auch auf den Komplex verbindlicher moralischer Ansprüche, von denen wir davon ausgehen, dass sie allen Menschen zukommen. Ich werde im Folgenden zwischen beiden Bedeutungsebenen nicht deutlich unterscheiden. Ich unterstelle jedoch, dass hinter den kodifizierten Menschenrechten ein moralischer Anspruch auf dasjenige steht, was durch die Menschenrechte geschützt wird. Ohne diesen moralischen, vorpositiven Anspruch ist die Forderung auf rechtliche und politische Implementierung der Menschenrechte selbst kaum zu verstehen.
Ich will (1) zunächst einige Aspekte des Problems versuchen in einen Überblick zu bringen, dann (2) versuchen, das konzeptuelle und philosophische Problem zu erfassen und (3) eine skizzenhafte Antwort versuchen.
1. Eine Problemübersicht
Bei Menschenrechten unterscheiden wir zwischen liberalen Freiheitsrechten, politische Partizipationsrechte und soziale, kulturelle oder wirtschaftliche Anspruchsrechte. Einige dieser Rechte beziehen sich klarerweise auf den Schutz von Individuen, andere schützen Güter, die einen zwangsläufigen Bezug zu Gruppen oder Kollektiven aufweisen. Ich will folgende Fälle unterscheiden:
Rechte auf kollektive Güter. Der einfachste Fall von kollektiven Gütern bezieht sich auf Güter, die sich nicht als individuelle Freiheitsrechte geschützt werden können, sondern zur Ermöglichung guten Lebens schlechthin oder zumindest für bestimmte Gruppen erforderlich sind, unabhängig von deren individuellen Lebenszielen. Sicherheit, saubere Luft und trinkbares Wasser gehören etwa hierher. Der Schutz dieser Güter ist unproblematisch kompatibel mit den Freiheitsrechten, insofern er zu den Voraussetzungen für die Möglichkeit von Freiheitsrechten gehört.
Rechte von Gruppen mit besonderen Bedürfnissen. Relativ unproblematisch ist auch der Fall, dass die Interessen einer Gruppe sich nur als Schutz der Rechte dieser Gruppe effektiv schützen lassen. Hier kann man etwa an die spezifischen Rechte von Gruppen denken, etwa im Sinne de Behindertendeklaration. Diese Elemente sind im Menschenrechtsethos verankert. Sie können als Weiterentwicklung des Menschenrechtsethos im Hinblick auf besondere Bedürftigkeit oder besondere Verletzlichkeit gesehen werden. Es geht dann darum, die Schutzidee der Menschenrechte für Menschen mit besonderen Bedürfnissen anzupassen. In manchen Fällen ist es erforderlich, diesen Gruppen als Gruppen einen besonderen Schutz zukommen zu lassen, da ein Schutz anders kaum effektuiert werden kann. Konzeptuell ergeben sich hier allerdings keine besonderen Spannungen, insofern die zur Diskussion stehenden Ansprüche sich relativ unproblematisch durch Individualrechte legitimieren lassen. Moralphilosophisch strittig ist hier weniger die Tatsache, dass es um Rechte von Gruppen geht, sondern strittig ist vor allem, wie weitgehend der Schutzbereich der Menschenrechte gehen soll? Schützen die Menschenrechte im Wesentlichen die Freiheit des Individuums im Sinne einer Erlaubnis der Freiheitsausübung? Oder sind die Menschenrechte zu verstehen als Ansprüche auf Güter zur Ermöglichung autonomer Lebensgestaltung? Im letzten Fall würden sie nicht lediglich die Freiheit im Sinne eines negativen Abwehrrechts schützen sondern mit den Menschenrechten würde auch die Verpflichtung verbunden sein, Menschen zu befähigen und zu unterstützen bei der Entwicklung von relevanten Fähigkeiten und bei dem, was zu einer eigenständigen Lebensführung notwendig ist. Die Frage, inwiefern Menschen mit besonderen Bedürfnissen besondere Rechtsansprüche haben, hängt im Wesentlichen von der Beantwortung dieser Fragen ab. Kurzum: Inwieweit umfassen die Menschenrechte negative und positive Rechte. Die Reichweite des Anspruchs von Gruppen mit besonderen Bedürfnissen wird davon abhängen, aber die Rechte sind direkt legitimierbar durch individuelle Rechte.
Menschenrechte als Schutz besonderer kultureller Lebensformen. Konzeptuell interessanter sind Rechte, die sich auf Lebensformen beziehen, an denen Individuen zwar ein wesentliches Interesse haben, die sie vielleicht auch als konstitutiv für ihre Identität erfahren, die aber nicht direkt Ausdruck ihrer individuellen Freiheitsrechte sind. Hierbei kann man an viele Erscheinungsformen denken, die zum Teil als Ausdruck „kultureller Vielfalt“ mit Rechtsansprüchen verbunden werden. Man kann hier an traditionelle Lebensformen, besonders religiöse Lebensformen denken, deren Wert für die Betroffenen gerade darin besteht, dass sie in Familien- oder Gruppenzusammenhänge oder kulturelle Traditionen eingebunden sind, der ihrem Leben überindividuelle Bedeutung verleiht. Die Bedeutung dieser Lebenszusammenhänge für die Individuen besteht teils darin, dass hier Identitätsstiftungen gegeben sind, die das Individuum als traditional vorgegeben erfährt. Die Identitätsstiftende Funktion wird gerade nicht legitimiert durch die Freiheitsentscheidung sondern die Vorgegebenheit. Der Schutz traditioneller Lebensformen als Schutzgut würde dann ein mit den Freiheitsrechten konkurrierendes kollektives Gut darstellen. Diese Konzeption würde die interne Logik der Menschenrechte in Frage stellen, da mit einem Schutz dieser Traditionen die Freiheit des Einzelnen gerade unterlaufen würde. Es scheint auch nicht direkt einsichtig, dass traditionelle Lebensformen als solche unter ‚Naturschutz’ gestellt werden. Hier gibt es also eine deutliche Spannung zum Konzept der Menschenrechte. Wenn die Menschenrechte aber in dieser Weise immer Freiheitsrechte implizieren, so scheinen sie an die besondere liberale, westliche Lebensform gebunden zu sein. Sie haben dann die Tendenz, traditionelle Lebensformen zu zerstören. Diese Frage berührt zweifellos den universalen Geltungsanspruch der Menschenrechte. Hier gibt es also ein relevantes philosophisches Problem.
Politisches Selbstbestimmungsrecht. Schließlich sind wir mit Gruppenrechten konfrontiert, bei denen ein politisches Kollektiv, sich als Gruppe formiert und sein Recht als Gruppe geltend macht, im Extremfall in Form der Abspaltung als Staat. Einerseits scheint es in der Verlängerung der Individualrechte zu liegen, Gruppen nicht zu zwingen, mit anderen Gruppen oder Menschen eine politische Union bilden zu müssen. Das scheint besonders dann der Fall zu sein, wenn dieses Zusammenleben damit verbunden ist, dass die eigene Sprache oder Kultur nicht mehr ausgelebt werden kann, Diskriminierung vorliegt oder erheblich wirtschaftliche Nachteile damit verbunden sind. Für den gebürtigen Flamen und linken Kosmopoliten Philippe van Parijs ist etwa gerade die Ausdrucksmöglichkeit in der eigenen Muttersprache ein wesentlicher Aspekt der menschlichen Würde. Gleichwohl würde ein Recht auf Abspaltung im Grunde dazu beitragen, dass die Staatengemeinschaft in permanenter Unsicherheit leben würde. Zwar relativiert sich die Bedeutung von Nationalstaaten im Kontext der Globalisierung, der fundamental destabilisierende Effekt bleibt aber erhalten und damit verbunden auch die Bedrohung von anderen wesentlichen Rechten von Menschen. Auch hier bestehen also grundlegende philosophische Fragen.
2. Das konzeptuelle Problem für das Verständnis der Menschenrechte
Wenn man sich diese verschiedenen Aspekte kollektiver Ansprüche vergegenwärtigt, dann fragt man sich vielleicht, ob es nicht zu einer Überstrapazierung des Menschenrechtsethos führt, wenn man all diese Aspekte im Kontext der Menschenrechte regeln will. Wäre es nicht richtiger, die Bedeutung der Menschenrechte zu reduzieren und auf den Schutz individueller Freiheit zu beschränken? Hängt die Diskussion über Gruppenrechte und kollektive Ansprüche nicht im Wesentlichen mit der häufig beklagten ‚Inflation der Menschenrechte’ zusammen? Gerade wenn man soziale, wirtschaftliche und kulturelle Güter zum Gegenstand von Menschenrechten macht, scheinen alle möglichen Konflikte mit Individualrechten unvermeidlich zu sein. Man könnte die ganze Problemlage wesentlich entzerren, wenn die Menschenrechte nicht – wie seit dem Zweiten Weltkrieg geschehen – eine derartig zentrale Position in Diskussionen um politische Ordnung und geteilte Moral einnehmen würden.
Doch das Problem des Umgangs mit kollektiven Ansprüchen ist unvermeidlich, selbst wenn wir annehmen, dass die Menschenrechte lediglich die negative Freiheit des Einzelnen schützen sollen. Auch diese Position muss sich fragen, was hier genau geschützt werden soll? Die naheliegende Antwort ist, dass es darum gehen muss, die Möglichkeit autonomer Lebensführung für alle zu schützen. Wenn das der Gegenstand des Menschenrechtsschutzes ist, dann kann man nicht um die Frage herum, welche Kollektivgüter erforderlich sind, um die Möglichkeit autonomer Lebensführung zu gewährleisten. Ohne entsprechende Umweltbedingungen, fundamentale Sicherheit und institutionelle Rahmenbedingungen lässt sich das nicht gewährleisten. Es kann also keine Theorie der Menschenrechte geben, die nicht zugleich darlegt, wie sich der Schutz kollektiver Güter zur Ermöglichung von Freiheitsrechten verhält.
Zugleich erheben die Menschenrechte den Anspruch auf vorrangige Berücksichtigung. Wenn dieser kategorische Geltungsanspruch der Menschenrechte nicht bestünde, wäre weder die Kritik an Menschenrechtsverletzungen noch die Praxis von Verurteilungen von Menschenrechtsverletzungen, humanitären Einsetzen oder die Grundrechtssystematik des Grundgesetzes verstehbar. Die Menschenrechte können nicht durch andersartige Erwägungen in ihrem Anspruch relativiert werden. Wenn die Menschenrechte aber zu ihrer Realisierung bestimmte kollektive Güter und institutionelle Bedingungen voraussetzen, so muss eine Theorie der Menschenrechte in der Lage sein, dass Verhältnis der Menschenrechte zu den kollektiven Gütern gleichsam von innen her zu verstehen suchen, d.h. die Bedeutung kollektiver Güter für die Menschenrechte systematisch herauszuarbeiten. Eine Theorie der Menschenrechte besteht dann nicht vornehmlich darin, verschiedene Freiheitsrechte, politischen Rechte und ggf. sozialen Ansprüche gegeneinander abzuwägen und mit einander in einen Ausgleich zu bringen. Wenn man davon ausgeht, dass
- die Menschenrechte stets mit einem Anspruch auf vorrangige Berücksichtigung verbunden sind,
- zur Realisierung dessen, was die Menschenrechte schützen wollen, ein Schutz kollektiver Güter, politischer Institutionen etc. erforderlich ist
- und dass es zwischen den Interessen und Ansprüchen verschiedener Gruppen stets Konfliktpotential gibt,
so ist es unvermeidlich, dass eine Theorie der Menschenrechte die Individualrechte im Verhältnis zu Gruppenrechten und kollektiven Gütern bestimmt. Dabei wäre das Wesentliche, dass diese Verhältnisbestimmung nicht als äußere Begrenzung zu verstehen ist, sondern als Entwicklung der internen Logik des Menschenrechtsethos und seiner internen Spannungen und Erfordernisse.
Das klingt nun vielleicht abstrakt oder trivial (oder beides), aber ich will doch einige Implikationen kurz andeuten:
- Es wird vielleicht unterschätzt, wie komplex und umfassend damit das Erfordernis an eine Theorie der Menschenrechte wird. James Griffin, der gerade ein wesentliches Buch zum Thema geschrieben hat, geht etwa davon aus, dass die Menschenrechte in ihrem Geltungsanspruch beschränkt werden können, weil viele moralisch und politisch strittige Fragen auch durch common sense-Intuitionen beantwortet werden können. So müssen wir etwa – laut Griffin – den Schutz der Menschenrechte nicht auf Neugeborene beziehen, da es durch geteilte Moralvorstellungen verboten sei, Neugeborene zu töten. Abgesehen davon, dass Griffin die gesamte Diskussion um Infantizit ebenso ignoriert wie die Tatsache, dass es für die Tötung Neugeborener historische Vorbilder gibt, wird damit vor allem konzeptuell fraglich, worum es bei den Menschenrechten geht. Die Menschenrechte sind darum so umstritten, weil es hier um die verbindliche Ordnung geht und alle andere Erwägungen im Zweifelsfall zurücktreten müssen. Das heißt, wenn die Menschenrechte kategorische Handlungsverpflichtungen zur Folge haben, wäre ein Infantizit nur dann strikt verboten, wenn Kindern Rechte zukommen. Ansonsten wäre es nicht einsichtig, warum die Freiheitsrechte der Eltern im Umgang mit den Kindern beschränkt werden sollen.
- Die Etablierung von Menschenrechtsinstitutionen hat dazu geführt, dass über Menschenrechte sowohl im Sinne der Grundlagen unserer normativ-politischen Ordnung nachgedacht wird als auch im Sinne eines Teilbereichs des juridisch-politischen Diskurses. Es gibt Menschenrechtsjuristen wie es eben auch Vereinsrechtsjuristen gibt, Vertreter einer bestimmten Sportart des Rechtsdiskurses. Es gibt den Menschenrechtsgerichtshof ebenso wie das Schiedsgericht der Bundesliga. Diese Partialisierung der Diskussion führt dazu, dass die bereichspezifischen Diskussionen um die Menschenrechte und die Implementierungsfragen spezifischer Menschenrechtsdeklarationen nicht mehr direkt zusammenfallen mit den Grundlagendebatten um die Menschenrechte in ihrer Funktion als grundlegende normative Orientierungen der politischen Ordnung. Für die Plausibilität der Menschenrechte ist es aber erforderlich diese Teildiskurse aus der grundlegenden orientierenden Funktion der Menschenrechte heraus zu verstehen.
- Der universalistische Anspruch der Menschenrechte macht es zudem erforderlich, strittige moralisch-politische Fragen stets im Hinblick auf die Menschenrechte zu diskutieren. Ein Beispiel sind die Diskussionen um die Nachhaltigkeit. Das ist darum ein zentrales Beispiel, weil der Schutz der natürlichen Ressourcen wesentlich moralisch motiviert ist (als hohes moralisches Gut gilt) und zugleich vermutlich jedes Konzept von Nachhaltigkeit mit Einschränkungen von Freiheitsrechten verbunden sein wird. Wenn es um den Schutz kollektiver Güter geht, dann ist dies wahrscheinlich für die Zukunft das bedeutendste Beispiel. Wenn den Menschenrechten moralische und rechtliche Priorität zukommt, dann kann der Schutz der natürlichen Ressourcen nicht als moralische Parallelaktion implementiert werden, das Verhältnis muss also bestimmt werden.
Dazu gibt es nur die folgenden Möglichkeiten: a) Die Forderung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlage ergibt sich aus dem Menschenrechtsethos und kann mit ihm plausibel begründet werden, b) diese Forderung ergibt sich nicht daraus und die Priorität der Menschenrechte lässt sich begründen: Nachhaltigkeit ist dann kein moralisch vertretbares Ziel oder c) wir kommen zum Ergebnis, dass der Schutz der natürlichen Lebensgrundlage eine berechtigte moralische Forderung darstellt, die sich aber nicht aus den Menschenrechten ergibt: Die Forderung nach Priorität der Menschenrechte wäre dann aufzugeben. Diese drei Möglichkeiten gibt es. Eine Neutralität zwischen Priorität der Menschenrechte und Nachhaltigkeitsforderungen lässt sich jedoch nicht annehmen.
Man wird aus allem also folgern dürfen, dass jede Theorie der Menschenrechte ein Verständnis der moralischen und politischen Bedeutung kollektiver Güter umfassen muss und dass es für die Plausibilität der Menschenrechte erforderlich ist, dass alle wesentlichen politischen Handlungsbereiche in ihrer Relevanz für die Menschenrechte diskutiert werden.
3. Skizze eines Vorschlags
Wenn ich in der Linie dieser Überlegungen an die Skizze einer Begründung der Menschenrechte durch Alan Gewirth anschließe, die Klaus Steigleder heute morgen präsentiert hat, dann ergeben sich verschiedene Erfordernisse. Es geht darum, den Zusammenhang von Individualrechten, kollektiven Gütern und politischer Ordnung zu denken. Das setzt folgende Aspekte voraus, wobei ich im folgenden sowohl inhaltliche als methodische Überlegungen vorstelle.
- Es müsste sich hinter den Menschenrechten ein Prinzip ausmachen lassen, dass bestimmt, was die Menschenrechte schützen. Bei Gewirth: Die Menschenrechte schützen die notwendigen Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit. M.E. ist hier auch die Rolle der Menschenwürde zu sehen, die ein Prinzip darstellt, dem eine ordnende Funktion im Hinblick auf die Menschenrechte zukommt.
- Dieses Prinzip muss in der Lage sein, Individualrechte zu bestimmen.
- Ein solches Prinzip müsste in der Lage sein, eine Hierarchie dieser Rechte anzudeuten, nicht im Sinne einer fixen Ordnung, sondern im Sinne einer Kriteriologie, die näher bestimmt welchen Gütern im Zweifelsfall ein Vorrang gebührt.
- Es müsste möglich sein, Kollektivgüter aus dem gleichen Prinzip zu bestimmen, um sie überhaupt in einem systematischen Zusammenhang mit Individualrechten denken zu können. Andernfalls würden Kollektivgüter prinzipiell in einem Gegensatz zu Individualrechten stehen. Da ein effektiver Schutz von Individualrechten ohne Realisierung kollektiver Güter kaum möglich ist, müsste man den kategorischen Anspruch der Individualrechte aufgeben.
- Es müsste möglich sein, die Aufgabe von Institutionen aus diesem Prinzip zu legitimieren. Gewirth: Legitimation staatlicher Institution auf dem Schutzauftrag des Prinzips, dass uns verpflichtet, die notwendigen Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit zu schützen.
- Es müsste Vorrangsgesichtpunkte geben, die es gestatten, den Schutz der Individualrechte, der Kollektivgüter und der Rolle der Institutionen in einem hierarchischen Zusammenhang zu sehen. Gewirth hat dazu eine Reihe von Vorschlägen gemacht.
- Das alles wäre zudem zu erweitern im Hinblick auf die Frage, welche Haltungen und evtl. Tugenden (wenn man dies Wort benutzen will) vorauszusetzen sind, wenn eine politische Ordnung, die auf den Menschenrechten basiert ist, überhaupt funktionieren will. Dabei beschränkt ein Ethos der Menschenrechte die Möglichkeit einer Etablierung von Haltungen und Tugenden allerdings fundamental, insofern sie mit dem Respekt vor der Freiheit des Einzelnen vereinbar sein müssen.
Mit diesen Punkten sind einige Anforderungen gegeben, die eine Agenda einer Ethik der Menschenrechte formulieren. Wenn man in diese Richtung nicht denkt, so wird man notwendiger Weise mit gewaltigen Spannungen zwischen einer Ethik der Menschenrechte und den Funktionsbedingungen moderner politischer Systeme konfrontiert sein, die für die Plausibilität der Menschenrechte ebenso ein Problem darstellen wie für eine normative politische Theorie im Allgemeinen.
Prof. Dr. Marcus Düwell, Universität Utrecht, Lehrstuhl für philosophische Ethik