Der letzte Schritt ist der schwerste
Wenn man allen Menschen auf der Erde die gleichen Lebensbedingungen zugesteht, muss man den Entwicklungsländer jedoch erlauben, ihre Treibhausgasemissionen gegenüber heute sogar noch zu erhöhen. Zum Ausgleich müssen die Industrieländer, die Hauptverantwortlichen für den menschgemachten Klimawandel, den CO2-Gürtel darum noch enger schnallen: Und ihre Kohlendioxid-Emissionen um 95 % statt 80 % gegenüber dem Basisjahr 1990 senken. Damit wäre dann die weitgehende Decarbonisierung erreicht.
Der Schritt von 80 zu 95 % mag dabei auf den ersten Blick nicht weiter anspruchsvoll wirken. Doch je näher man sich dem Ziel der vollständig CO2-freien Gesellschaft nähert, desto schwieriger wird jeder Meter. Im Grunde kann man sagen: Die zusätzlichen 15 % werden der Gesellschaft schwerer fallen, als der ganze Weg zur 80 % Marke.
Den Spieß umdrehen
Darum haben das Ökoinstitut und die Unternehmensberatung Prognos im Auftrag des WWF den Spieß mal umgedreht: Anstatt wie Joachim Nitsch zu fragen: Wohin kommen wir unter diesen und jenen Annahmen und mit diesen und jenen politischen Instrumenten? Lässt der WWF fragen: Was brauchen wir, um das 95 % Ziel zu erreichen. Das macht die Sache freilich komplizierter. Zuerst muss man den Blick von den CO2-Emissionen bei Strom, Verkehr und Heizen erweitern und auch noch Lachgas, Methan und Co mit ins Visier aufnehmen. Denn die machen in Deutschland zusammen 11 % der so genannten klimawirksamen Gase aus.
Dadurch kommen neben den Bereichen Strom, Heizen und Verkehr (unter anderen) auch noch die Sektoren Landwirtschaft und Abfallwirtschaft hinzu. Und wenn der Ausstoß der Klimagase auf ein Zwanzigstel der heutigen Emissionen sinken soll, müssen nicht nur die erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden. Auch bei den Energieverbrauchern müssen erhebliche Veränderungen her. Eine Auswahl der notwendigen Schritte zum „Modell Deutschland“:
Maßnahmen bei den privaten Haushalten
- Den Bedarf an Heizenergie müssen wir durch Dämmen von Fenstern und Wänden nahezu auf Null reduzieren. Dazu müssen neue Dämmstoffe entwickelt und die Sanierung des Gebäudebestandes beschleunigt werden. Energie-Sparrate gegenüber heute: 100 %
- Wassersparer und bessere Wassererwärmung senken Energiebedarf für heißes Wasser. Sparrate gegenüber heute: 37 %
- Sparsame Magnetkühlschränke ohne FCKW werden bei uns zum Standard, wasserlose Waschmaschinen ersetzen den Trockner, neue Displays sparen massiv Strom. Verbrauch der elektrischen Haushaltsgeräte sinkt, obwohl uns die Computerisierung noch neue Geräte bringt. Sparrate gegenüber heute: 40 %
Maßnahmen in Industrie und Gewerbe
- Bei Elektromotoren, Pumpen und Druckluft dürfen nur noch die effizientesten Techniken zum Einsatz kommen. Auch neue Prozesse und Materialien sparen Energie bei so genannten „Kraftanwendungen“. Sparrate gegenüber heute: 52 %
- Klimawandel (es wird wärmer) erhöht den Kühlbedarf. Neue Technik gleicht das aus. Sparrate gegenüber heute: 0 %
- Dienstleistung und Industrie setzen (bei einem um 66 % bzw. 53 % gesunkenen Endenergiebedarf) überwiegend Gas und Erneuerbare Energie ein. Sparrate gegenüber heute: nicht beziffert.
Maßnahmen im Verkehr
- Die CO2-Emissionen werden im Ergebnis von 180 Mio. Tonnen im Jahr 2005 auf 30 Mio. Tonnen 2050 gesenkt. CO2-Sparrate gegenüber heute: 83 %
- Der Ottomotor ist tot. Ab 2045 gibt es keine Autos mit reinem Verbrennungsmotor mehr. Es dominieren mit 36 % Kombinationen aus Verbrennungs- und Batterieantrieb (Hybrid), gefolgt von Hybridfahrzeugen, die sich zusätzlich an die Steckdose anschließen lassen (28 %) und reinen Elektrofahrzeugen (18 %)
- Autos verbrauchen emittieren im Schnitt nur noch 40 Gramm CO2 / Kilometer. Ein heutiges 3-Liter Fahrzeug braucht knapp 100 Gramm, ein Porsche im Schnitt über 300 Gramm.
- Der Güterverkehr wechselt weitgehend auf die Schiene. Sparrate pro gefahrenem Kilometer gegenüber heute: 40 % ,
- Der gesamte Energieverbrauch des Verkehrs sinkt um 41 % und wird hauptsächlich durch noch zu entwickelnde Biokraftstoffe (59 %) und Strom (12 %) gedeckt.
Maßnahmen in der Stromerzeugung
- Stromverbrauch sinkt, Erneuerbare decken 2050 schon 84 % des Bedarfs. CO2-Sparrate gegenüber heute: 96 %
- Gaskraftwerke, Netze und Speicher werden „massiv“ ausgebaut, Offshore Windenergie ist 2050 die wichtigste Quelle für Ökostrom
- Möglicherweise kommt es zum Einsatz von CCS an Kraftwerken, sicher gibt es 2050 keine Kraftwerke mehr ohne CCS
Maßnahmen in der Forst-, Land, Abfallwirtschaft
- 25 % Ökolandbau bis spätestens 2030 um Methanemissionen zu senken
- bessere Düngung und Forschung zu klimafreundlichen Anbaumethoden
- Vorgaben zur Dichte des Viehbestandes
- Vorgaben zur Abdichtung der Güllelagerung, um Methanemssionen zu vermeiden
- Fördern der nachhaltigen Waldnutzung
- zwei Drittel des Mülls sollen mit neuen Verfahren energetisch zum Heizen und zur Stromerzeugung genutzt werden
Und wie kommt man zu diesen Erfolgen? Die WWF-Studie zeigt auch, welche politischen Weichen gestellt werden müssen. Und was das kostet. Die notwendigen Vorschriften sind genauso vielfältig wie ambitioniert. Auch hier wieder eine Auswahl:
- Verschärfung der Energie-Standards für Neubauten
- Fortsetzung der Programme zur energetischen Gebäude-Sanierung
- Elektrische Geräte dürfen nicht mehr verbrauchen als die besten ihrer Art (TOP-Runner-Prinzip)
- Effizienzstandards werden auch für industrielle Kühlgeräte vorgegeben
- Vorgaben zum Einsatz erneuerbarer Energie etwa bei Wärmepumpen
- Energieintensive Industrieprozesse müssen ihre CO2-Emissionen ab 2050 vollständig einfangen und lagern (Carbon Capture and Storage, CCS)
- Die Industrie wird gezwungen, Energiemanagement-Systeme in allen Unternehmen einzuführen
- Beim Verkehr, dem energetischen Sorgenfall schlechthin, stehen große Investitionen in Schiene und ÖPNV an, gibt es Grenzwerte für CO2-Emissionen für PKW und LKW, wird die Erhöhung von LKW Maut und Mineralölsteuer verabschiedet, gibt es mehr Biokraftstoffe (die aber klimafreundlich und nachhaltig in Europa hergestellt werden sollen), und auch ein Tempolimit von 120 km/h
- Es kommt zum Verbot des Baus von Kohlekraftwerken ohne CCS und die vorhandenen Stromspeicher werden auf das Vierfache ausgebaut
Die Kosten
Je schneller etwas gehen soll, je weniger man sich auf das langsame Wegsterben alter Strukturen und das allmählich Nachwachsen des Neuen verlässt, desto mehr Geld und Arbeit muss man normalerweise in den Umbau stecken. Das ist hier nicht anders.
Dennoch sind die Kosten erstaunlich gering. Im Innovationsszenario haben die Experten berechnet, dass die Neuausrichtung der Energiepolitik nur 0,6 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) verbrauchen würde. Also etwa jeden zweihundersten umgesetzten Euro. Wie das? Den Investitionen in Technik und Infrastruktur stehen Einsparungen bei den Ausgaben für die fossilen Energieträger Kohle und Öl gegenüber.
Die Mehrkosten ergeben sich vor allem aus der verstärkten Gebäudesanierungen, der Einführung von Elektromobilität, die Umstellung des Kraftwerksparks auf erneuerbare Energien, den Ausbau der Energie-Speicherkapazitäten und die Einführung der CCS-Technologie, etwa für Kraftwerke. Diese Kosten würden über kurz oder lang auf alle Bürger umgewälzt. Genaue Angaben dazu macht „Modell Deutschland“ nicht.
Die mögliche Kritik an dem Weg, den der WWF der Politik vorzeichnen will, liegt auf der Hand. Allein durch den riesigen Zeitraum von 40 Jahren, den die Studie vorgreift, bekommt vieles einen spekulativen Charakter: Seien es Prognosen zur Entwicklung der Kohle- und Ölpreise auf dem Weltmarkt oder neue technische Durchbrüche: Weder die in der Studie unterstellten „Hochleistungsdämmstoffe“ noch die „Dritte Generation der Photovoltaik auf organischer Basis“ ist heute absehbar. Auch die Rolle der Biokraftstoffe ist äußerst fraglich: nach den Teller-Tank Debatten über die Nutzung von Nahrungsmitteln in unseren Autos haben Wissenschaftler diese Option für den Bereich Verkehr inzwischen fast ganz aufgegeben. Auch weiß man heute, dass alle Biomassen wie Holz oder Feldprodukte in einer erneuerbaren Zukunft durchaus knapp und damit teuer werden können. Darum sind diese Energieträger zuletzt beinahe vollständig aus der Debatte verschwunden. Auch lange gepriesenen Biomasse-Erzeugungs-Anlagen wie etwa Choren (Holz zu hochenergetischen Gasen und Flüssigkeiten) erweisen sich immer mehr als Enttäuschungen. Die dritte Generation von Anlagen, die Biomasse in Sprit umwandelt, ist nicht in Sicht.
Vielleicht werden diese technischen Revolutionen niemals kommen. Aber das macht tatsächlich fast nichts. Die Erfahrung zeigt, dass man zwar nicht sagen kann, welche technischen Umwälzungen uns bevorstehen. Aber dass im Energiesektor umwälzende Erfindungen geben wird, darf man getrost annehmen. Und wenn man heute beim Bau neuer Stromspeicher an umweltvernichtende Pumpspeicherkraftwerken in den deutschen Mittelgebirgen denkt, stehen morgen vielleicht schon zehntausende Elektroautos in den Straßen, die sich gerne ein paar Euro hinzuverdienen und ihre Akkus als Speicher anbieten.
Auch um einzelne politische Vorgaben gerade beim Auto, der Deutschen liebstem Kind, wird schon seit Jahrzehnten gestritten und man kann sich kaum vorstellen, dass sich das mal ändert: Oder wer würde wetten wollen, dass hierzulande jemals ein Tempolimit eingeführt wird?
Doch das Nörgeln an einzelnen Punkten geht an der Sache vorbei. Schließlich will die Studie vor allem zeigen, dass sich mit einer „auch ambitionierten Fortschreibung heutiger Energie und Klimapolitik, einer Fortschreibung der heute üblicherweise eingesetzten Technologien sowie der heutigen Energie- und Ressourcenverbrauchsmuster […] ein Reduktionsziel von 95 % für die gesamten Treibhausgasemissionen bis 2050 nicht annähernd erreichen“ lässt.
Eher schon kann man den Autoren vorhalten, dass sie sich in ihrer Analyse im Wesentlichen auf Deutschland allein beschränken. Eine aktuelle Studie der Europäischen Klimastiftung (European Climate Foundation, ECF ) zeigt zum Beispiel, dass die Vollversorgung ganz Europas mit Ökostrom sehr viel einfacher zu realisieren ist als für ein Land allein. Sie wäre laut ECF nicht einmal teurer als ein Kontinent mit Atomkraftwerken und Kohlemeilern, bei denen in Zukunft CO2 abgeschieden und unter der Erde gelagert wird. Die von konservativen Beratungsunternehmen für den ECF erstellte „Roadmap 2050“ weist nach, dass mehr Energieeffizienz und der Ausbau eines europäischen Stromnetzes eine entscheidende Rolle spielen. Denn sonst kommt die Solarenergie aus dem Süden des Kontinentes nicht in den Norden und die reiche Windernte im Norden nicht in den Süden.
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Der Autor Marcus Franken, geboren 1968 in Essen, Studium Umwelttechnik in Berlin, ist Freier Journalist mit Schwerpunkt Energie, Umwelt, Wissenschaft. Er ist Chefredakteur von zeo2 und Osteuropa-Korrespondent von "neue energie"
Dossier
Europäische Energiepolitik
Der Abschied von Kohle, Öl, Gas und Atomkraft ist machbar. Der Übergang ins Zeitalter der Erneuerbaren Energien muss politisch vorangetrieben werden. Es geht um Investitionsanreize und Zukunftsmärkte, um Energiesicherheit und Machtfragen, um technische Innovationen und gesellschaftliches Umdenken.Schriften zu Europa - Band 3: ERENE
Eine Europäische Gemeinschaft für Erneuerbare EnergienEine Machbarkeitsstudie von Michaele Schreyer und Lutz Mez
Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung
Berlin, Mai 2008, 96 Seiten
ISBN 978-3-927760-83-7
- Zusammenfassung der Studie (PDF, deutsch)
- Zusammenfassung der Studie (PDF, englisch)
- Zusammenfassung der Studie (PDF, englisch und französisch)
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- Siehe auch: Michaele Schreyer: ERENE - IRENA. Widerspruch? Dopplung? Ergänzung?
- Zur Homepage der Europäischen Gemeinschaft für Erneuerbare Energien (ERENE)