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Gerechtigkeit und Frieden - Die Prozesse der Demobilisierung und die Lage der Menschenrechte in Kolumbien

Lesedauer: 7 Minuten
"Wir vergessen Euch nicht!"
Foto: ..:. ninu .:.. (Diana Correa). Dieses Foto steht unter einer Creative-Commons-Lizenz.

 

31. Mai 2010

Auf den ersten Blick lassen sich mit Leichtigkeit wesentliche Unterschiede zwischen den Schwerpunkten erkennen, die die beiden führenden Parteien im Präsidentschafts-Wahlkampf in Kolumbien gesetzt haben. Während der Kandidat der bisher regierenden „U-Partei“ Juan Manuel Santos mit den Erfolgen der Politik der „Demokratischen Sicherheit“ wirbt, legt Antanas Mockus der Grünen Partei seinen Schwerpunkt auf Themen, die bei ihrer Umsetzung einen politischen Kulturwandel bedeuten würden. Das Wahlprogramm verspricht Transparenz, Kampf gegen Korruption und Klientelismus und vor allem mehr Beteiligung und der Respekt vor den Rechten und dem Leben des Einzelnen.

Auf den zweiten Blick aber wird deutlich, dass Mockus sich von zentralen Elementen der Politik des bisherigen Präsidenten Uribe keineswegs abgrenzt. Im Gegenteil, Uribes Politik der „Demokratischen Sicherheit“, die unter anderem eine signifikante Aufstockung des Militärs und eine Durchdringung der Gesellschaft durch den Geheimdienst mit sich brachte, will Mockus fortführen. Keiner der angetretenen Kandidaten wagt es, sich in Themen wie der öffentlichen Sicherheit und dem Kampf gegen die Guerilla zu weit von der weiterhin populären Politik der derzeitigen Regierung zu entfernen.

Dies wirft Fragen auf:

Wie weitreichend sind die Erfolge der Politik der „Demokratischen Sicherheit“ wirklich? Was wurde neben der gewaltsamen Vertreibung der Guerilla aus Teilen des Landes erreicht? Welche Erfolge weist unter dem Strich der Prozess der Demobilisierung der Paramilitärs auf? Hat das Gesetz „Gerechtigkeit und Frieden“ (Ley de Justicia y Paz) von 2005 zu einer Entmilitarisierung geführt? Was haben die eingeleiteten Maßnahmen der Übergangsjustiz (transitional justice) für die Gesellschaft als Ganzes bedeutet? Und was für die ca. vier Millionen Vertriebenen in Kolumbien? Wurde im Rahmen der Politik der „Demokratischen Sicherheit“ tatsächlich ein Mehr an Sicherheit oder bloß eine Verschiebung der Gewalt auf der sozialen Skala erreicht? Wie steht es heute um die Menschenrechte in Kolumbien?

Ein Beitrag von Iván Orozco…

Das Referat Lateinamerika der Heinrich-Böll-Stiftung hat einige dieser Fragen Iván Orozco Abad, Professor für Politikwissenschaften an der Universidad de los Andes in Bogotá, gestellt, und ihn gebeten, darüber im Rahmen eines Theaterfestivals zu Kolumbien im Theater Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin einen Vortrag zu halten. Die schriftliche Version dieses Vortrages, der leider aufgrund der Folgen der Aschewolke für den europäischen Luftverkehr ausgefallen ist, liegt nun vor. (siehe pdf „Das `Theater´ der Übergangsjustiz in Kolumbien“).

In seinem Beitrag zum Kolumbien-Theater-Festival vom HAU rekonstruiert und bewertet Iván Orozco die Entstehung und der bisherigen Entwicklung des Prozesses der „Übergangsjustiz“ in Kolumbien. Orozco beschreibt den Ablauf vom Beginn der Verhandlungen zwischen der Regierung Uribe und den Paramilitärs im Jahr 2002 bis über deren Auslieferung an die USA, die Uribe in einer Nacht-und-Nebel-Aktion im Mai 2008 durchgeführt hat, bis heute. Dabei nähert er sich dem Thema der Übergangsjustiz und speziell dem Gesetz „Gerechtigkeit und Frieden“, das den Demobilisierungsprozess der bewaffneten Gruppen in Kolumbien rechtlich einrahmt, indem er eine Analogie zum Theater bildet.

Mittelpunkt der Analyse Orozcos bildet das Gesetz „Gerechtigkeit und Frieden“. Im Rahmen der Verfahren der Sondergerichtsbarkeit machen diejenigen Paramilitärs ihre Aussagen, die sich nach den Regeln des Gesetzes kollektiv oder individuell demobilisiert haben. Das Gesetz verlangt eine umfassende Aufdeckung der Wahrheit über die begangenen Verbrechen und bietet dafür die Höchststrafe von insgesamt nur acht Jahren Haft, die durch die Anrechnung der Untersuchungshaft noch verkürzt werden kann. Kernpunkt des Verfahrens ist das so genannte „freie Geständnis“ (versión libre), durch das der Angeklagte eine Zusammenfassung dessen vorträgt, was er gestehen will. Gleichzeitig sollen die Rechte der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung garantiert und langfristig die gesellschaftliche Friedensfindung unterstützt werden.

Die eingeleiteten Prozesse der Sonderjustiz sind noch lange nicht abgeschlossen, jedoch bereits Zielscheibe vielfältiger nationaler und internationaler Kritik. Die heftigste Kritik richtet sich gegen das geringe Strafmaß: Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der vorgesehenen Strafen und den begangenen Menschenrechtsverletzungen liegt auf der Hand.

Orozcos Text bietet einerseits tiefe Einblicke in die Realität des Prozesses, stellt seine Akteure und Charaktere (die Schauspieler) vor, beschreibt die Atmosphäre im Gerichtsaal (der Bühne) und den „Auftritt“ der Opfer (des Chores). Gleichzeitig vernachlässigt Orozco jedoch wichtige Aspekte, deren Nicht-Erwähnung die Wechselspiele zwischen den Akteuren - und im Ergebnis auch die Wirkungen der Übergangsjustiz - in ein anderes Licht rückt.

  • „Das `Theater´ der Übergangsjustiz in Kolumbien“, von Iván Orozco Abad, Universidad de los Andes

 

…zur Diskussion gestellt

Da der Vortrag von Iván Orozco ausgefallen ist, blieb leider auch die inhaltliche Debatte aus, die mit Sicherheit kontrovers ausgefallen wäre. Gerne hätten wir mit ihm die Inhalte seines Beitrages insbesondere in Bezug auf das Thema der Menschen- und Opferrechte diskutiert.

Da diese Möglichkeit nicht bestand, haben wir stattdessen Claudia Müller-Hof vom European Center for constitutional and human rights (ECCHR), einer unabhängigen und gemeinnützigen Menschenrechtsorganisation aus Berlin, die vor allem mit juristischen Mitteln arbeitet, gebeten, den Beitrag Orozcos zu kommentieren. Claudia Müller-Hof hat sich nach ihrer juristischen Ausbildung auf Internationales Recht spezialisiert. Bevor sie bei ECCHR als Projektkoordinatorin im Programm Wirtschaft und Menschenrechte tätig wurde, war sie zuletzt in Lateinamerika als Managerin eines Projektes für den Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen engagiert. In ihrem Kommentar stellt sie in Frage, ob man, wie Iván Orozco, von einem Prozess der Übergangsjustiz in Kolumbien sprechen kann und kommentiert kritisch seine Darstellung der Akteure, ihrer Rollen im Prozess und ihrer Beziehung zueinander.

  • Gutes Theater, schlechtes Theater, oder gar kein Theater? – eine Kommentierung von Orozcos „Das `Theater´der Übergangsjustiz in Kolumbien“, von Claudia Müller-Hof, ECCHR

Katrin Planta, die ihr Studium der Sozialwissenschaften mit einer Diplomarbeit zur Demobilisierung des Paramilitärs beendet, seitdem mehrfach Kolumbien bereist hat und nach dem Abschluss eines Masters in Konfliktbearbeitung für den Zivilen Friedensdienst tätig war, arbeitet jetzt als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung, Berghof Conflict Research, in Berlin zu den Themenschwerpunkten Transformationsprozesse bewaffneter Gruppen, DDR und Post-Konflikt-Regenerierung. Das Zentrum unterstützt Prozesse der Friedensförderung und der Transformation ethnopolitischer Konflikte und verfolgt das Ziel, praktisch anwendbare Ansätze zur Überwindung von Gewaltkonflikten und ihrer Ursachen zu entwickeln und zu fördern. Katrin Plantas Beitrag bietet Informationen zur Entstehung, zum Inhalt und über die kontroversen Debatten um das Gesetz „Gerechtigkeit und Frieden“. Dabei hebt sie das Potential des Gesetzes für den Frieden in Kolumbien hervor und verdeutlicht die Schwierigkeiten, die die Umsetzung von übergangsjustiziellen Maßnahmen mit sich bringen.

  • Das „Ley de Justicia y Paz“ – ein Balanceakt zwischen Gerechtigkeit und Frieden, von Katrin Planta, Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung

Christiane Schwarz von kolko e.V. - Menschenrechte für Kolumbien haben wir gebeten, das Gesetz „Gerechtigkeit und Frieden“aus Sicht von Vertreter_innen der Menschenrechte kritisch darzustellen. kolko e.V. ist ein unabhängiger und gemeinnütziger Verein, der sich für die Wahrung aller grundlegenden Menschenrechte in Kolumbien einsetzt und eng mit zivilgesellschaftlichen kolumbianischen Organisationen, welche die Menschenrechte in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellen, zusammen arbeitet. In ihrem Beitrag fasst sie die ausbleibenden Ergebnisse und Erfolge des Gesetzes insbesondere aus Sicht der Opfer und ihrer Vertreter_innen und in Bezug auf deren grundlegende Rechte auf Gerechtigkeit, Wahrheit, Entschädigung und Nicht-Wiederholung zusammen. 

  • Fünf Jahre „Gerechtigkeit und Frieden“ in Kolumbien? – Ein Blick auf die Demobilisierung der Paramilitärs aus menschenrechtlicher Sicht, von Christiane Schwarz, kolko e.V.  

In einem zweiten Beitrag von Christiane Schwarz sind die wesentlichen Ergebnisse einer Podiumsdiskussion zusammen gefasst, die die Heinrich-Böll-Stiftung am 18. Mai.2010 in Zusammenarbeit mit Brot für die Welt, Misereor und kolko e.V. durchführte. Auf dem Podium nahmen teil: Liliana Uribe, Anwältin der Menschenrechtsorganisation Corporación Juridica Libertad in Medellín, Monseñor José Figueroa Gómez, Bischof von Granada, Meta, und Dr. Raul Zelik, freier Autor, Berlin. Die Referenten hinterfragten kritisch, ob und vor allem wem, also welcher sozialen Schicht der Gesellschaft in Kolumbien die Politik der harten Hand von Uribe ein Mehr an Sicherheit beschert hat. Anhand von gelebten Beispielen aus ihrem nächsten Umkreis machen sie deutlich, dass Unsicherheit, Willkür und Straflosigkeit mehr denn je den Alltag eines Großteiles der Bevölkerung Kolumbiens bestimmen.

  • Dokumentation der Podiumsdiskussion der hbs vom 18.Mai 2010 in Kooperation mit Brot für die Welt, Misereor und kolko e.V.: Mit Sicherheit in Lebensgefahr – Menschenrechtsverteidiger_innen in Kolumbien, von Christiane Schwarz, kolko e.V.