Am 28. Mai wurden bei Anschlägen islamistischer Extremisten auf zwei Ahmadiyya Moscheen in Lahore 94 Menschen getötet. Am 31. Mai erfolgte dann ein weiterer tödlicher Angriff auf ein Krankenhaus, in dem Verletzte der vorangegangenen Attacken behandelt wurden. Der Spirale religiös motivierter Gewalt in Pakistan ist damit ein neuer blutiger Höhepunkt hinzugefügt worden – und dies vor dem Hintergrund anhaltender bürgerkriegsähnlicher Kämpfe der Armee gegen Taliban und Al Qaida in den Stammesgebieten.
Ein Interview mit Gregor Enste, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Lahore, Pakistan.
Was sind die Hintergründe der jüngsten Anschlagserie?
Dies war der vorläufige blutige Höhepunkt einer seit Monaten andauernden öffentlichen Einschüchterungs- und Bedrohungskampagne gegen die Glaubensgemeinschaft der Ahmadis, die bereits seit fast vier Jahrzehnten in Pakistan marginalisiert und ausgegrenzt werden. Insgesamt gibt es in Pakistan etwa zwei Millionen Ahmadis. Sie sind nach ihrem Selbstverständnis auch Muslime, sie beten zu Allah, sie rezitieren aus dem Koran, sie glauben lediglich noch an einen anderen Propheten nach Mohammed. Genau deswegen aber werden sie ausgegrenzt, als Nicht-Muslime gebrandmarkt und jegliche Form ihrer Religionsausübung ist nach pakistanischem Recht als Gotteslästerung unter Strafe gestellt. Ihre Gotteshäuser dürfen nicht „Moschee“ genannt werden.
Zusätzlich zu dieser rechtlichen Ausgrenzung sind in den letzten Jahren blutige Übergriffe auf Ahmadis hinzugekommen, insbesondere hier in der größten Provinz Punjab mit der Hauptstadt Lahore. In den letzten zwei, drei Monaten kam es vereinzelt zu Tötungen von Ahmadis – in manchen Fällen sogar durch die eigenen „rechtschaffenen“ muslimischen Nachbarn, mit der Begründung, dass Ahmadis Gotteslästerer seien. Das alles ist seitens der Polizei nicht verfolgt worden und straflos geblieben, wie so viele Einzelfälle in den Jahren zuvor.
Hinzu kamen in den letzten Monaten Plakate und Banner an großen Straßenkreuzungen, welche unter Duldung der Behörden von religiösen Fundamentalisten aufgehängt wurden, mit der Botschaft: „Ahmadis und Christen sind die Feinde des Islam – nieder mit ihnen“.
All das bereitete den Boden für die aktuelle Eskalation und ein Klima der Gewalt. Die pakistanischen Taliban, die sich als die Hüter des „wahren“ sunnitischen Glaubens stilisieren, sind dann am Freitag, den 28. Mai zu Stunde des Mittagsgebets in die Gotteshäuser der Ahmadis eingedrungen und haben mit Kalaschnikows dutzende Menschen getötet. In einer anschließenden öffentlichen Erklärung haben die Täter dann sogar noch die „rechtschaffenen“ Muslime dazu aufgerufen es ihnen gleich zu tun. Genau das ist dann auch geschehen mit weiteren Tötungen und dem Überfall auf das Krankenhaus in Lahore.
Um das ganze in den größeren Zusammenhang einzuordnen: Pakistan sieht sich seit seiner Gründung als Heimstatt der Muslime Südasiens, in Wirklichkeit scheint das aber nur für die sunnitische Mehrheit der Fall zu sein. Minderheiten, von denen es allein dutzende muslimischen Glaubens gibt, werden unterdrückt und ausgegrenzt.
Wie sah die Reaktion der pakistanischen Öffentlichkeit aus?
Man kann differenzieren zwischen der medialen und der allgemeinen Öffentlichkeit. Die Medien waren sensationslüstern wie immer. Es gibt mehr als 15 private Fernsehsender, die sich auf solcherlei Anschläge stürzen und dann stundenlang nur eine Kakophonie von Bildern erzeugen. Solide Berichterstattung mit Nachfragen und Konfrontation der Verantwortlichen mit der Faktenlage findet dabei allerdings nicht statt.
Die allgemeine Öffentlichkeit hier in Lahore – und das ist für mich eine herbe Enttäuschung – ist leider schulterzuckend zur Tagesordnung übergegangen. Sie hat offensichtlich genügend andere Probleme. Es hat keine öffentlich wahrnehmbaren Solidaritätsbekundungen gegeben. Das ist umso entsetzlicher, da es in den folgenden Tagen sehr wohl einen öffentlichen Aufschrei, Demonstrationen und Sondersendungen zur israelischen Gewalt gegen den Gaza-Hilfskonvoi gegeben hat.
Welche Verantwortung tragen die pakistanischen Behörden / der pakistanische Staat für die Gewalteskalation?
Die pakistanischen Behörden haben der Glaubensgemeinschaft der Ahmadis trotz mehrfacher Bitten einfach keinen Schutz gewährt. Es gibt auch Berichte der Pakistanischen Menschenrechtskommission, in denen immer wieder auf die Gewaltspirale und Einschüchterung gegen die Ahmadis hingewiesen wurde. Die Behörden wurden z.B. dringend aufgefordert, sofort die riesigen Plakate in Lahore zu entfernen, die zur Gewalt gegen Minderheiten aufrufen. Weitere Versuche seitens der Ahmadis und von Menschenrechtsgruppen auf die wachsende Bedrohungslage hinzuweisen, blieben ohne jegliche Antwort seitens der Behörden und der Regierung.
Was muss getan werden, um die rechtliche Stellung der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Pakistan zu verbessern?
Der pakistanische Staat hat es bisher unterlassen, die sogenannten Blasphemie-Gesetze, das heißt die 30 Jahre alten Gesetze über Gotteslästerung zu streichen. Zwar hat Pakistan alle entsprechenden UN-Konventionen gegen Diskriminierung und für den Schutz der Menschenrechte unterzeichnet, umgesetzt wird dies allerdings nicht. In Wirklichkeit ist jegliche Religionsausübung der Ahmadis kriminalisiert weil sie unter Strafe steht. Das fängt beim islamischen Gruß (Gott sei mit Dir) an und hört bei islamischen Grabinschriften auf. Den pakistanischen Staat sehe ich für die Ereignisse der vergangenen Tage insofern in der Verantwortung, als er die Kriminalisierung und Ausgrenzung der Ahmadis nicht verhindert, sondern eher befördert hat.
Es besteht zudem dringender Bedarf diejenigen Artikel der Verfassung, die die systematische Ausgrenzung von nicht-sunnitischen Minderheiten wie den Ahmadis führen, zu ändern. Und wie gesagt müssen strafrechtliche Paragraphen, die Ahmadis kriminalisieren, abgeschafft werden. Viele dieser Straftatbestände betreffen ja nicht nur Ahmadis sondern auch andere religiöse Minderheiten wie zum Beispiel die Schiiten und auch Christen.
Waren Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in der Vergangenheit zu untätig angesichts zunehmender Diskriminierung der Ahmadis?
Ein ganz klares Ja! Die Zivilgesellschaft war in der Tat zu untätig. Warum war das so? Sicherlich, weil es in der Gesellschaft nach dreißig Jahren Militärherrschaft erstmal darum ging für politische Partizipation und Demokratisierung insgesamt zu kämpfen. Es gab aber Stimmen, wie zum Beispiel die erwähnte unabhängige Pakistanische Menschenrechtskommission, die in ihren Berichten immer wieder auf Diskriminierung und Bedrohung hingewiesen haben. Aber nicht nur die mediale Öffentlichkeit hat das zu wenig wahrgenommen und war in dieser Beziehung einfach zu lethargisch. Warum man die Zeichen an der Wand nicht frühzeitig erkannte und handelte, das fragen sich hier in Lahore nicht nur die der Heinrich-Böll-Stiftung nahe stehenden Organisationen und Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft sondern auch wir selbst.
Das Interview führte Christian Eichenmüller, Heinrich-Böll-Stiftung