Statement von Karen Horn
zu der Veranstaltung "Die Europäische Währungsunion auf dem Prüfstand"
In einem Memorandum warnte eine große Gruppe von Professoren 1992 vor der Einführung des Euro entlang der Beschlüsse von Maastricht. Man fürchtete, dies werde „Westeuropa starken ökonomischen Spannungen aussetzen, die in absehbarer Zeit zu einer politischen Zerreißprobe führen können und damit das Integrationsziel gefährden.“ Die Politik tat die Mahnung als miesepetriges Kassandra-Geheul ab. Doch just an jener Stelle, vor der die Professoren warnten, stehen wir heute. „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“: Kleiner ging es nicht, als Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 19. Mai 2010 ihre Sicht der Lage zusammenfasste.
Zwar muss die Aussicht, dass Europa vor dem Scheitern steht, übertrieben scheinen. Wenn überhaupt, dann steht ein Europa vor dem Scheitern, nämlich ein bestimmtes Modell des europäischen Miteinanders, das die Mitgliedstaaten über viele Jahre eingeübt und immer weiter getrieben haben, das deshalb aber noch lange nicht der Weisheit einziger und letzter Schluss gewesen sein muss. Dass freilich die Währungsunion und damit auch Europa als Ganzes in eine Krise geraten ist, lässt sich nicht leugnen und darf nicht einmal überraschen. Denn an deren Wurzel steht die seit langem – und vor allen Augen – überbordende öffentliche Verschuldung, die Europa nicht einzudämmen verstanden hat. Die Kanzlerin hat recht: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt und künftige Generationen dabei übermäßig belastet. Nunmehr jedoch stößt diese ungebremste Verschuldung zusätzlich auch noch auf das berechtigte Misstrauen der Märkte. Als keynesianische Antwort auf die seit 2008 drückende Finanz- und Wirtschaftskrise haben viele Regierungen voluminöse Konjunkturprogramme und Rettungspakete geschnürt, ohne dass die staatlichen Haushalte zuvor auch nur halbwegs gesund gewesen wären. Und dadurch ist aus einer privatwirtschaftlichen jetzt auch noch eine staatliche Schuldenkrise geworden – mit Ansteckungspotential über alle Grenzen hinweg.
Gescheitert ist damit vor allem eine positive europäische Vision. Die gemeinsame Ambition, den Wettbewerb innerhalb Europas zu stärken und sich gegenseitig mit Hilfe geeigneter Institutionen zu stabilitätspolitischer Rationalität zu verpflichten, auf dass man so gemeinsam in neue Dimensionen von Arbeitsteilung, Effektivität und Wohlstand vorstoße, scheint unterminiert. An die Stelle dieses friedenssichernden Ziels der auch ökonomischen Einheit in Vielfalt, das in der Wirtschafts- und Währungsunion seinen – prekären – Rahmen und in der Lissabon-Strategie seine – erfolglose – Verbalisierung gefunden hatte, muss heute, so will es scheinen, wohl der gemeinsame Kampf gegen einen fiktiven Gegner treten. Mangels konstruktiverer Phantasie muss die neue europäische Erzählung nun offenbar unter der abgedroschenen Überschrift „Das Primat der Politik“ laufen; es geht darin um einen Kampf der Regierungen Europas gegen die wütend angeklagten Spekulanten, in denen man die Verkörperung nicht des ökonomischen Realismus erkennt, sondern des schlechthin Bösen. Oder ist das aus Sicht der Politik dasselbe? Jedenfalls ist das Aufbäumen gegen den Markt die EU einen 750 Milliarden Euro schweren Rettungsschirm wert, von dem zwei Drittel aus europäischen Töpfen kommen, ein Drittel vom Internationalen Währungsfonds. Als weiteres Geschoss dient das – der Effizienz abträgliche und gegen eine kriminelle Ausnutzung von Insiderwissen dank strafrechtlicher Sanktionsmöglichkeiten noch nicht einmal notwendige – Verbot von ungedeckten Leerverkäufen, das die BaFin als langer Arm des Finanzministeriums verhängt hat und das bald wohl auch umfassende Geltung erlangen dürfte. In absehbarer Zeit soll noch eine Finanzmarktsteuer folgen, obwohl eine solche Steuer die Stabilität der Märkte nicht stärken, sondern sie eher labiler machen wird; obwohl sie die Banken schwächt, die im Moment noch genug zu kämpfen haben, weshalb vielmehr alle Anstrengungen darauf gerichtet sein sollten, sie zu stärken; obwohl sie an die Verbraucher überwälzt wird und somit keineswegs für die in der Tat überfällige Genugtuung sorgt, dass die Banken an den sozialen Kosten beteiligt werden, die sie verursacht haben.
Ein solcher Popanz soll Europa einen? Das wäre armselig. Ehrlicher wäre es, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass das ganze Vorhaben der Währungsunion von Anfang an einen Haken hatte, und dass wir jetzt schlicht den Preis dafür bezahlen. Wenn es nur ein gemeinsames Geld gibt, dann – das war schließlich die Absicht – fallen die Wechselkurse weg. Das Institut der deutschen Wirtschaft schätzt, dass die damit verbundene Senkung der Transaktionskosten einen positiven Effekt auf den Wohlstand im Ausmaß von 0,3 bis 0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Euro-Raum hat. Doch wenn es keine Wechselkurse mehr gibt, bedeutet das zugleich auch, dass ein oftmals hilfreicher Puffer verschwindet. Wenn die Produktivität in einem Land zu niedrig ist oder die Arbeitskosten zu hoch sind, dann korrigiert sich das in der Währungsunion über den Außenwert der Währung nicht mehr von selbst bzw. per nachhelfender Abwertung. Das heißt: ökonomischer Gleichschritt ist nötig. Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt sollte diese Konvergenz erzwungen und gesichert werden. Das konnte nicht gelingen – und nicht nur deshalb, weil der Stabilitätspakt über die Jahre hinweg Stück für Stück aufgeweicht worden ist. Der Pakt war in der Tat falsch konstruiert. Der Pakt hätte nur je Biss haben können, wenn die Politik die Entscheidungs- und Sanktionsgewalt an eine unabhängige Instanz delegiert hätte. Oder wenn man sich zu einer verfassungsrechtlich fixierten Schuldenbremse in allen Mitgliedstaaten als Voraussetzung für die Euro-Mitgliedschaft durchgerungen hätte, wie es das Institut der deutschen Wirtschaft jetzt wenigstens für die Zukunft empfiehlt. Das Grundproblem aber war, dass für die meisten Südländer die einheitlichen Leitzinsen der EZB zu niedrig waren. Die an ihre Situation unangepasste Geldpolitik, die notgedrungen alle über denselben Leisten schert, schuf eine Immobilienblase und gab Fehlanreize für ein Leben „über die Verhältnisse“.
Auch einen gemeinsamen wirtschaftspolitischen Willen gab und gibt es in Europa nicht. Trotzdem ist es der erklärte und angesichts des Porzellans, das sonst zerschlagen würde, auch berechtigte politische Wille, die Währungsunion nun trotz der gegebenen Spannungen aufrecht zu erhalten. Da bleibt trotz der mangelnden ideellen Konvergenz als – nicht nur logischer – Ausweg in der Tat nur eine weitere Vergemeinschaftung der Wirtschaftspolitik, gleichsam als Vorstufe zur politischen Union. Und obwohl keiner der Mitgliedstaaten ernsthaft daran denken mag, nationale Souveränität aufzugeben, geht mit dem Coup vom 9. Mai 2010, dem Rettungsschirm, der Zug der Zeit genau in diese Richtung. Und dahin musste er auch gehen; es war alles so angelegt und letztlich nur eine Frage der Zeit. Man kann, man muss den Verlust des letzten Restes von heilsamem Systemwettbewerb in Europa bedauern und beklagen; wundern darf man sich nicht.
Wohin führt das alles? Ins Nirgendwo bestimmt nicht. Europa insgesamt wird nicht scheitern, wenn damit ein veritabler Untergang gemeint sein soll. Selbst der Euro wird uns erhalten bleiben. Aber Europa wird den Weg einer immer weniger stabilitätsorientierten Politik gehen, mit einer geschwächten Wettbewerbsfähigkeit, gegen die auch ein noch so wohltönendes Programm Europa 2020 keine hinreichende Abhilfe bietet. Mit der monetären Zwangsjacke, die wir uns angelegt haben, werden auch in Zukunft Wohlstandseinbußen verbunden sein. Das ist ein Misserfolg, ja, und auch das darf man füglich als ein Scheitern bezeichnen. Nach wie vor gilt der nüchterne Satz von Ludwig Erhard aus einer Bundestagsrede vor der Unterzeichnung der Römischen Verträge: „Es ist aber eine Sache noch nicht geheiligt, wenn sie das Adjektiv ,europäisch’ trägt.“ Es gilt nun alles dafür zu tun, den Schaden möglichst gering zu halten.