Ein Jahr nach den Wahlen: Was hat's gebracht?

Lesedauer: 18 Minuten

18. Juni 2010
Shadi Sadr
Von Shadi Sadr

Ein Jahr nach dem Beginn der Proteste der Menschen im Iran gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl am 12. Juni 2009 fragen sich viele: „Was hat´s gebracht?“  Dieser Satz stellt eigentlich keine Frage dar. Er ist eine Bewertung, welche Iranerinnen und Iraner in der Regel dann abgeben, wenn viel Energie, Aufwand oder Kosten für etwas verwendet wurde, was keinen Nutzen hatte.

Nach einem harten Jahr, in dem Tausende von Menschen – von einfachen Bürgern, die auf die Straße gingen, um ihre Wahlstimme zurückzuverlangen, bis hin zu politischen Aktivistinnen und Aktivisten, Journalistinnen und Journalisten, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, Frauenaktivistinnen und Frauenaktivisten und sogar Künstlerinnen und Künstlern – verhaftet wurden; Ein Jahr in dem eine beträchtliche Zahl von Menschen auf der Straße und in den Gefängnissen getötet wurde, in dem viele Berichte über Folterung der politischen Gefangenen und sogar deren Vergewaltigung veröffentlicht wurden, waren viele Aktivistinnen und Aktivisten einer Bewegung - die sehr schnell auf Grund grüner Symbole, welche die Demonstranten mit sich trugen, als Grüne Bewegung bekannt wurde – gezwungen, den Iran mit einem unbekannten Ziel zu verlassen. Noch mehr Menschen denken dieser Tage nach: über ihre Erlebnisse während eines Jahres der Verfolgung und Flucht bei Demonstrationen, über das Einatmen von Tränengas, über das Rufen von Losungen, über den Schmerz von Schlagstockschlägen, über die Angst und Furcht vor allem und jedem, über die Kontrolle der SMS, über das Abhören von Telefongesprächen und über das Hacken von E-Mail-Accounts sowie über ein Jahr der Angst und Hoffnung und sie fragen sich: „Was hat´s gebracht?“

Ich war auch eine von Millionen und nahm letztes Jahr um diese Zeit nicht an, dass ich bei einer Demonstration festgenommen, ins Gefängnis gesteckt und gezwungen sein würde, den Iran, ein Land, in dem ich 35 Jahre gelebt und dort meine Wurzeln habe, zu verlassen. Ich bin auch eine von Millionen und wenn ich sehe, dass Ahmadinedschad immer noch iranischer Staatspräsident ist und zum Sitz der Vereinten Nationen in New York fliegt, um dort eine Rede über die wichtigsten Fragen der Welt zu halten; wenn ich sehe, dass die iranische Verfassung, die die gleichen Rechte für Frauen und Männer nicht anerkennt, die Versammlungs- und die Redefreiheit einschränkt und sie islamischen Vorschriften oder der nationalen Sicherheit unterstellt, ohne jedwede Änderung genauso wie vorher geblieben ist, und Ayatollah Khamenei, der Führer Irans, nicht bereit ist, nicht einmal einen Schritt in Richtung der Annahme selbst einer der Forderungen der Protestierenden zu tun, frage ich mich: „Was hat´s gebracht?“, und diese Frage hat zweifellos eine von Resignation und Hoffnungslosigkeit zeugende Färbung.

Wenn ich mich jedoch frage, was die Menschen im Iran  nach einem Jahr erreicht und was sie in dieser Zeit verloren haben, kann ich, obwohl sich im Iran im politischen Feld anscheinend nichts geändert hat, in der Spalte für die Dinge, welche sie erreicht haben, anstatt „nichts“ eine sehr lange Liste aufmachen. Die Zunahme der Unzufriedenheit der Menschen mit der Regierung sowie die Tatsache, dass viele Politiker, die stets im Rahmen der Islamischen Republik tätig waren, zu den Unzufriedenen gestoßen sind, haben gewiss einen wichtigen Platz in der erwähnten Liste und eine wichtige Rolle bei der Bewegung der Menschen für Freiheit und Demokratie im Iran. Wenn ich mich aber auf die Situation der Menschenrechte im Iran beschränken und die Frage beantworten sollte, was die Menschen im Iran nach einem Jahr der Grünen Bewegung verloren und was sie erreicht haben, wird folgende Aufstellung meine Antwort darstellen:

Was wir verloren haben

Der „Amnesty International report 2010“ , der vor kurzem in Spanien vorgestellt wurde, vermittelt ein klares Bild von den meisten Dingen, die die Menschen im Iran in den letzten zwölf Monaten auf dem Gebiet der Menschenrechte verloren haben. Viele Menschen haben ihr Leben verloren. Namenslose und diejenigen, die zu den Symbolen der Bewegung wurden: Neda Agha-Soltan  und Sohrab Arabi. Tausenden von Menschen wurde das Recht auf Teilnahme an friedlichen Zusammenkünften sowie auf freie Äußerung ihrer Meinung und Überzeugung gewaltsam genommen. Viele Menschen wurden Opfer von Schauprozessen, während sie zuvor bedroht und gefoltert worden waren, um zu gestehen, dass sie Spione seien und von westlichen Staaten Geld erhalten hätten etc. Die Angehörigen der Getöteten haben die Justiz angerufen. In der ganzen Zeit wurde seitens der Justiz nichts unternommen. Niemand wurde für den Tod ihrer Angehörigen für verantwortlich erklärt und gegen niemand wurde ein Gerichtsverfahren geführt. Das Recht der Angehörigen, die Wahrheit über den Tod ihrer Lieben zu erfahren, und die Gerechtigkeit wurden missachtet. Mindestens sieben politische Aktivisten wurden hingerichtet.

In Kürze: Im Vergleich zu der Zeit vor dem Beginn der Grünen Bewegung, insbesondere im Vergleich zu den letzten Jahren, sind die Rechte der Menschen im Iran sowohl qualitativ als auch quantitativ viel stärker verletzt worden. In der Tat haben viel mehr Menschen ihre Rechte als „Mensch“ viel stärker verloren als zuvor.


Was wir erreicht haben

So gut Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen sichtbar und sogar zählbar sind, ist das, was wir auf dem Gebiet der Menschenrechte in den letzten 12 Monaten erreicht haben, nicht quantitativ feststellbar und nicht so einfach sichtbar. Politische Gefangene kann man zählen. Man kann sogar sagen, welches ihrer Rechte verletzt worden ist, beispielsweise das Recht auf Zugang zu einem Verteidiger oder das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren. Man kann jedoch die Zunahme des Bewusstseins und die allgemeine Sensibilität in Punkto Menschenrechte nicht zählen oder schätzen. Man kann nicht sagen, wie viel Fortschritt die Menschen im Iran während ihres Kampfes auf der Straße für die Menschenrechte in den letzten 12 Monaten gemacht haben 

Leben im öffentlichen Raum

Meiner Ansicht nach ist das Wichtigste, was die Menschen im Iran in den letzten 12 Monaten erreicht haben, die „Erfahrung“. Eine andere Art des „Lebens“ im Vergleich zu vorher. Insbesondere die junge Generation, diejenigen, die nach der islamischen Revolution geboren sind, hatten nie zuvor die Straße als „ihren eigenen Raum“ erlebt. Diese einmalige Erfahrung begann einige Wochen vor der Präsidentschaftswahl. Die junge Generation hat in der Zeit der relativ offenen Atmosphäre des Wahlkampfes das „Leben“ auf der Straße erfahren. Zuvor waren die Straßen lediglich ein Raum fürs Kommen und Gehen. Und für die Jugend und insbesondere für Frauen musste dieses „Kommen und Gehen“ aus Angst vor der Festnahme durch die Patrouillen der Sittenpolizei möglichst schnell sein. Aber in der Zeit verwandelte sich die Straße in einen Raum des Gesprächs - in einen Raum des Rufens von Losungen - sogar in einen Raum des Singens und Tanzens, was in der Islamischen Republik verboten ist bzw. vielen Einschränkungen unterliegt.

Vielleicht ist die Bedeutung des „Lebens“ auf der Straße für  Außenstehende nicht so klar. Die Revolution von 1979 hat auf der Straße gesiegt. Millionen von Menschen gingen auf die Straße und haben mit der Parole „Nieder mit dem Schah“ das damalige Regime gestürzt. Die islamischen Kräfte, die schnell die Macht erlangt hatten, haben die Kontrolle der Straße als den wichtigsten öffentlichen Raum, in dem die Menschen ihre Forderungen artikulierten, auf die Tagesordnung gesetzt. Die Auseinandersetzungen zwischen den islamischen Kräften und anderen politischen Gruppierungen, die auch die Macht anstrebten, dauerten etwas länger als zwei Jahre. Am 20. Juni 1981 wurden Hunderte von Sympathisanten und Mitgliedern politisch-oppositioneller Gruppierungen auf der Straße niedergeschlagen, verletzt und getötet. Zu jener Zeit wurde jeden Morgen eine Liste von ein paar Hundert Oppositionellen, die in den Gefängnissen hingerichtet worden waren, im landesweiten Rundfunk-Programm bekannt gegeben. Auf diese Art und Weise nahm das herrschende System die Straße und in einem weiteren Sinn den öffentlichen Raum unter seine Kontrolle.

Obgleich diese Herrschaft und Kontrolle in den 30 Jahren der Islamischen Republik einige Male Risse bekamen – unter anderem während der Studentenproteste im Jahre 1999 -, hat das herrschende System niemals zugelassen, dass zivilgesellschaftliche Kräfte die Straße als einen Raum für die Artikulierung ihrer Forderungen benutzten. Die große Kundgebung der Frauenbewegung im Juni 2005 vor dem Hauptportal der Universität Teheran wurde mittels „Umzingelung“ der Teilnehmer durch Busse der städtischen Verkehrsbetriebe der öffentlichen Wahrnehmung entzogen. Die Zusammenkunft am 12. Juni 2006 auf dem Platz des 7. Tir wurde durch einen brutalen Polizeieinsatz und Festnahme von über 70 Aktivistinnen und Aktivisten der Frauenbewegung niedergeschlagen. Einige Tage vor dem Internationalen Frauentag im Jahre 2007 wurden sämtliche Teilnehmerinnen der Protestkundgebung gegen die Verletzung des Rechts von Frauen auf Teilnahme an friedlichen Kundgebungen, darunter ich, festgenommen. Vor kurzem wurde ich  zu Haftstrafen und Peitschenhieben verurteilt. Die zivilgesellschaftlichen Aktivisten im Iran hatten es jedoch zu keinem Zeitpunkt geschafft, die Massen zu erreichen und breite Schichten der Gesellschaft für sich zu gewinnen.

Vor einem Jahr aber waren die Menschen, die in den Wochen vor der Präsidentschaftswahl auf die Straße gegangen waren, nicht bereit, nach der Bekanntgabe des unerwarteten Wahlergebnisses brav und gehorsam in ihre Häuser zurückzugehen. Sie blieben auf der Straße und die Proteste dauerten trotz brutaler Niederschlagung bis einen Monat nach der Wahl fortwährend an und fand auch danach an ausgewählten Tagen statt. Obwohl jetzt - nach einem Jahr - große Zusammenkünfte auf der Straße auf Grund der brutalen Vorgehensweise der Sicherheitskräfte fast unmöglich geworden sind, mit anderen Worten die Islamische Republik die Straße wieder zurückgewonnen hat, ist etwas für die Menschen geblieben: Die Erfahrung des „Lebens“ auf der Straße und die Forderung nach Bürgerrechten im öffentlichen Raum.

Sensibilisierung der Bevölkerung für Menschenrechtsverletzungen

Die Ereignisse nach der Präsidentschaftswahl vor einem Jahr sind mit zwei Errungenschaften auf dem Gebiet der Menschenrechte einhergegangen. Zum einen sind große Teile der iranischen Bevölkerung in Bezug auf ihre Rechte als Bürger sensibilisiert worden. Zum anderen haben die Menschen diese Rechte auf der Straße, im öffentlichen Raum, artikuliert und gefordert. Diese Forderungen, die mit freien Wahlen begonnen haben, haben durch brutale Unterdrückung und die Konfrontation mit der Sackgasse „Regierung“ größere Dimensionen erhalten. Forderungen wie Freiheit der Rede und des Wortes, Versammlungsfreiheit, Freilassung der politischen Gefangenen etc. haben ihren Platz bei den Parolen der Protestierenden auf der Straße gefunden. Vor der Wahl waren die Menschrechte im Wesentlichen Sache der Intellektuellen. Diskussionen darüber und Aktivitäten dafür beschränkten sich auf zivilgesellschaftliche Aktivisten. Millionen von Protestierenden, die vor der Wahl weder politisch und gesellschaftlich aktiv waren, noch sich mit den Menschenrechten auseinandersetzten, wurden nach der Wahl ihre eigenen Rechte auf einmal wichtig, nachdem sie als Demonstranten Schläge mit dem Schlagstock bekommen hatten, und andere Demonstranten durch Schüsse oder Messer verletzt worden waren. Je mehr und stärker die Menschenrechte verletzt wurden, umso mehr Menschen erlangten ein Bewusstsein über die Menschenrechte und reagierten sensibler.

Diese Sensibilisierung konnte man vor kurzem anhand der breiten Reaktion auf die Hinrichtung von fünf politischen Gefangenen feststellen; Vier von ihnen waren kurdische politische Aktivisten und der Fünfte soll im Zusammenhang mit einem Bombenanschlag auf eine religiöse Stätte in Shiraz  gestanden haben.. Keine dieser fünf Personen war Aktivist der Grünen Bewegung. Alle fünf waren lange vor der Präsidentschaftswahl verhaftet und zum Tode verurteilt worden. Aber als etwa einen Monat vor dem Jahrestag der Ereignisse nach der Wahl die iranische Regierung diese fünf Personen hingerichtet hat, beschränkten sich die Proteste nicht nur auf die kurdischen Regionen, sondern unbekannte aber auch bekannte Aktivisten der Protestbewegung haben gegen politisch motivierte Hinrichtungen protestiert. Der Druck war derart stark, dass sich Mir Hossein Mousavi und Mehdi Karroubi, Reformkandidaten bei der Präsidentschaftswahl, gezwungen sahen, diese Hinrichtungen zu verurteilen. Obwohl sie in ihren Erklärungen das Gerichtsverfahren, das Urteil und dessen Vollstreckung verurteilten, bestand für viele Menschenrechtsaktivisten der Fortschritt in der Summe dieser Reaktionen. Denn Kurden und politische Gegner wurden auch früher, und zwar fortwährend, hingerichtet. Aber weder gab es so starke Reaktionen der Öffentlichkeit, noch hatten Leute wie Karroubi und Mousavi, die stets ein Teil der Herrschaft im Iran waren, in den Jahren zuvor gegen solche Hinrichtungen protestiert.

Säkularismus der Strasse

Das Nachdenken über die Menschenrechte hat auf der Straße begonnen, dort, wo die Menschen den Kampf für die Menschenrechte zum ersten Mal erfahren haben. Dort, wo die Menschen mit grünen Symbolen einander zuwinkten und genau wegen der grünen Symbole festgenommen wurden. Die Straße verwandelte sich in den vergangenen 12 Monaten von einem Ort fürs Kommen und Gehen in einen Ort, in dem Menschen gemeinsam nachdachten und am Ergebnis ihres Nachdenkens in Form von Parolen gemeinsam beteiligt waren. In den schwersten Tagen der Bewegung, als sämtliche Forderungen der Protestierenden in einer Sackgasse gelandet waren, haben die Menschen Parolen kreiert und wiederholt, die ihrer Forderung nach Säkularismus, Trennung von Staat und Religion,  Ausdruck verleihen. Parolen wie „Lass Gott Gott sein, Trennung von Religion und Staat“, „die Parole unserer Nation, Staat trennen von Religion“ und „Unabhängigkeit, Freiheit, iranische Republik“, verleihen der politischen Forderung nach einer nicht-islamischen Republik gegenüber der vorherrschenden politischen Ordnung im Iran ausdruck und führten den Säkularismus aus dem kleinen Rahmen intellektueller Diskussionen heraus und verwandelten ihn in einen Begriff der Straße. Ein Begriff, der nicht Ergebnis kollektiven Nachdenkens von Politikern hinter verschlossenen Türen, sondern von Bürgern auf der Straße ist – von namenslosen Kämpfern, die der Meinung sind, die Realisierung ihrer Bürgerrechte sei solange unmöglich, solange Staat und Religion nicht getrennt seien.

Sie haben auch die iranische Verfassung herausgefordert, die die Herrschaft des Klerus festschreibt und verlangt, dass sämtliche Gesetze und Vorschriften mit dem Islam vereinbar sein müssen. Herausgefordert wurden auch die Diskussionen religiöser Intellektueller in den letzten Jahren, in denen von der Vereinbarkeit des Islam mit den Menschenrechten die Rede war. Deshalb wurden die Stimmen dieser gefährlichen Demonstranten sowohl durch die Islamische Republik als auch durch die Reformopposition – zwar durch völlig unterschiedliche Methoden – zum Schweigen gebracht. Trotzdem hatte die Diskussion über die Notwendigkeit bzw. Nichtnotwendigkeit der Trennung von Staat und Religion für die Realisierung von Demokratie und Menschenrechten den Weg auf die Straße und von dort in die tiefsten Schichten des gemeinsamen Geistes derjenigen gefunden, die gegen die bestehende Situation sind. Diese Diskussion konnte und kann man nicht mehr verhindern. Und genau dies ist eine der Errungenschaften der letzten 12 Monate.

Öffentliche Diskussion sexuellen Missbrauchs politischer Gefangener

Die Ereignisse nach der Wahl haben wie bei einem Vulkanausbruch viele Dinge aus der Tiefe auf die Oberfläche der gesellschaftlichen Diskussion gebracht, die zu den gesellschaftlichen Tabus gehörten. Eines dieser Dinge war die Vergewaltigung bzw. sexuelle Misshandlung politischer Gefangener. Die Vergewaltigung politischer Gefangener, insbesondere die der Frauen, war den Familien politischer Gefangener der ersten Dekade der Islamischen Republik bzw. deren alten Gegnern bekannt. Aber erst als Mehdi Karroubi, einer der Reformkandidaten, gegenüber Hashemi Rafsandschani die Vergewaltigung von einigen  verhafteten Demonstranten in den Gefängnissen thematisiert hat und dies trotz vieler Pressionen nicht zurücknahm, wurde ein Raum gesellschaftlicher Akzeptanz geschaffen, der den Opfern sexueller Folterungen aus verschiedenen Phasen der Islamischen Republik Iran den Mut gab, das Tabu zu brechen und offen über ihre Erfahrungen zu sprechen. Diese Wunden waren aufgebrochen und es war nicht einfach möglicht, sie zu schließen; genau wie die Forderung nach Gerechtigkeit und Wahrheit als zwei wichtige Grundrechte.
Es gibt keine bestätigten Informationen über die Zahl der Menschen, die während der Ereignisse nach der Präsidentschaftswahl durch Schüsse und Messer der Sicherheitskräfte und Militärangehörigen auf den Straßen oder durch Folter in den Gefängnissen getötet wurden. Viele Familien der Getöteten haben, nachdem sie den Leichnam ihrer Lieben in einer besonderen Sicherheitslage übernommen und bestattet haben, ihre Angst und Furcht der ersten Tage abgelegt und fangen langsam an, zu reden. Obwohl ihnen seitens der Sicherheitskräfte verboten worden ist, bringen sie bei verschiedenen Interviews ihre Forderungen nach Informationen über die Einzelheiten der Tötung ihrer Angehörigen sowie nach Verurteilung und Bestrafung der Verantwortlichen vor. Sie reden furchtlos und ohne Selbstzensur davon, dass diejenigen, die die Menschenrechte verletzen, wohl nicht zur Rechenschaft gezogen würden und immun seien. Angesichts der fortwährenden Forderung nach Gerechtigkeit und angesichts der Forderung nach Untersuchung der Verbrechen im Kahrisak-Gefängnis, im Studentenwohnheim der Universität Teheran und während der Aschura-Demonstration vor einigen Monaten ist der Menschenrechtsdiskurs im Iran, eine der Hauptforderungen der Bewegung, einen Schritt weitergegangen.

Einst versuchten die Menschenrechtsaktivisten durch Informierung über die Menschenrechtsverletzungen im Iran, national und international sowohl bei den Menschen bezüglich der Menschenrechte Bewusstsein und Sensibilisierung zu schaffen, als auch  die iranische Regierung zur Einhaltung von Menschenrechten unter Druck zu setzen. Im vergangenen Jahr aber haben die Menschen im Iran mehr als jemals zuvor in der Geschichte der Islamischen Republik gefordert, die objektive Umsetzung sicherzustellen, nämlich Durchführung von Gerichtsverfahren und Verurteilung der Menschenrechtsverletzer. Es genügt Ihnen nicht mehr, lediglich Berichte über Menschenrechtsverletzungen zu hören. Sie fordern beständig ihr individuelles und gemeinschaftliches Recht, die Wahrheit zu erfahren - die Wahrheit über Folterungen, Vergewaltigungen und Ermordungen. Die Angehörigen der Opfer verfolgen zwar ihre Klagen vor den juristischen Instanzen im Iran, sie werden jedoch zunehmend skeptischer, gegenüber der Gerichtsbarkeit im Iran, und suchen die Gerechtigkeit immer mehr anderswo, etwa bei internationalen Instanzen wie UNO oder Internationalen Gerichtshöfen. Die anhaltende Forderung nach Gerechtigkeit ist wie andere Wunden, die aufgegangen sind, irreversibel.      

Die Frage ist aber die: Werden internationale Instanzen den Erwartungen der Demokratie- und Menschrechtsbewegung sowie den Familien der Opfer  gerecht werden? Seit dem Beginn der Protestbewegung gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl ist ein Jahr vergangen. Was haben nun die Menschen im Iran auf der internationalen Ebene erreicht? Und was haben sie verloren?

Menschenrecht und Kernenergie

In verschiedenen Ländern und auf der internationalen Ebene wird immer noch Ahmadinedschads Regierung mit dem Iran gleichgesetzt. Dies ist deswegen besonders schmerzlich, weil Menschen, die Ahmadinedschad nicht als ihren Präsidenten betrachten, in den internationalen Medien sehen und hören, der Iran habe beispielsweise an diesen oder jenen Verhandlungen teilgenommen, oder der Iran setze seine Hilfen für Hamas fort etc. Noch schmerzlicher ist, dass Ahmadinedschads Regierung stets und immer ein Thema zur Führung von Gesprächen und Erlangung von Legitimität durch die größten Spieler der Weltbühne hat: die Kernenergie. Es scheint, dass mit dem Rückgang der Demonstrationen im Iran die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft und die der internationalen Medien von der Frage der Menschenrechte im Iran weggeht und sich wieder der Problematik der Kernenergie zuwendet. Zwar zeigen sich die internationalen Menschenrechtsorganisationen im Rahmen ihrer ständigen Arbeit und auch einige westliche Staaten weiterhin aufmerksam in Bezug auf Hinrichtungen, politische Gefangene und Freiheit der Rede und des Wortes im Iran. Aber auch sie haben außer Abgabe von Erklärungen ohne Umsetzungsgarantie nichts getan. Die Forderung von Shirin Ebadi und anderen Menschenrechtsaktivisten nach einer unabhängigen Delegation zur Untersuchung der Menschenrechtssituation im Iran wurde vom Generalsekretär den Vereinten Nationen nicht angenommen. Die iranische Regierung hat ihrerseits die Einreise von Sonderberichtserstattern für Menschenrechte in den Iran auf das Jahr 2011 verschoben und ist vor kurzem trotz einer langen Liste rechtlicher und tatsächlicher Diskriminierungen von Frauen im Iran Mitglied der „UNO-Kommission zur Stellung der Frau“ geworden. Iran hat das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nicht angenommen und der UNO-Sicherheitsrat ist dermaßen mit der Verhängung von Sanktionen wegen des Kernenergiestreits gegen den Iran beschäftigt, dass es ausgeschlossen ist, eine Resolution für die Verweisung des Verfahrens wegen der Menschenrechtsverletzungen im Iran an den Internationalen Strafgerichtshof zu beschließen.  

Wie realistisch ist nun die Hoffnung der Mütter der Opfer, Klage vor internationalen Instanzen erheben zu können? Wie viel Unterstützung findet die Forderung der Menschen im Iran auf internationaler Ebene, die Menschenrechtsverletzungen zu stoppen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen?

Noch haben die Menschen Hoffnung

Es scheint zwar so, dass ein Jahr nach dem Beginn der Grünen Bewegung die internationale Solidarität mit den Menschen im Iran mit keiner Umsetzungsgarantie und keinen wirksamen Maßnahmen einherging. Viele Menschenrechtsaktivisten sind jedoch zuversichtlich, auf der internationalen Ebene Wege für die Beendigung der Menschenrechtsverletzungen im Iran zu finden. Hoffnung ist etwas, was die Menschen im Iran noch nicht verloren haben. Besser gesagt, sie haben, was die Hoffnung angeht, noch nicht absolut resigniert.

Eine ganze Menge Themen, die diskutiert werden, Wunden, die aufgegangen sind, und der irreversible Prozess der Forderung nach Menschenrechten - das ist alles, was die Menschen im Iran auf dem Gebiet der Menschrechte erreicht haben. Wenn wir die ganzen Geschehnisse auf eine philosophische Art betrachten wollen, müssen wir uns folgende Frage stellen: Waren diese vielen Toten, diese zahlreichen Festnahmen und Verhaftungen sowie diese zahlreichen Verletzungen des Körpers und der Seele der unumgängliche Preis für das, was wir erreicht haben? In einem Sinn ist keine dieser Errungenschaften, diejenige, die die Menschen wollten oder von der Bewegung geplant worden waren. Im Gegenteil. Sie alle waren unvorhergesehene Konsequenzen eines furchterregenden Prozesses.

Wie auch immer, heute, nur ein Jahr danach, befinden wir uns nicht am Ende der Geschichte, um die Frage zu stellen: „Was hat´s gebracht?“ Vielleicht ist es besser zu sagen: Wir sind irgendwo am Anfang vom Ende der Geschichte.

 

Übersetzung aus dem Persischen: Aboulghasem Zamankhan - Berlin

Shadi Sadr, iranische Frauenrechtlerin, wurde mit dem International Women of Courage Award 2010 ausgezeichnet und war unter Anderem Chefredakteurin der Website Frauen im Iran. Ein Interview mit Shadi Sadr können sie hier hören » Deutschlandradio (mp3)

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