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Madagaskar: Die Kraft des Neins

Michèle Rakotoson wurde 1948 in Antananarivo/Madagaskar geboren. Sie ist Journalistin und Autorin. Foto: privat. Die Bildrechte liegen bei der Autorin.

Von Michèle Rakotoson
Wir haben zuhause viel darüber diskutiert, was denn eigentlich „Unabhängigkeit“ sei, als ich gerade mal zehn Jahre alt war. Mein Vater sprach über den Mummenschanz, den die vom französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle vorgeschlagene „Gemeinschaft“ (communauté) in seinen Augen darstellte.
Mein Vater nannte uns Namen von Aktivisten und sagte, dass er nicht verstehe, warum sie nicht für die Regierung vorgeschlagen seien. Mein Vater hat viel über Monsieur Foccart gesprochen. Er sprach nur in Andeutungen, erwähnte Morde und das Verschwinden von Menschen. Erst später erfuhr ich, dass Foccart eine Art graue Eminenz war und der engste Mitarbeiter von de Gaulle für Afrika.

In der Schule saßen wir immer noch in den hinteren Reihen

Mit der Unabhängigkeit habe ich nur eine Sache verstanden: Wir mussten nicht mehr die französische Fahne grüßen, aber in der Schule saßen wir immer noch in den hinteren Reihen. Es wurde viel über das Referendum gesprochen. Die französische Regierung ließ über eine neue Verfassung für die „Communauté“ abstimmen und mein Vater sagte, man müsse mit Nein stimmen. In meiner Familie waren alle dagegen. Mein Vater, meine Onkel, von denen einer sich nach dem blutig niedergeschlagenen Volksaufstand von 1947 lange in den Wäldern des Ostens versteckt gehalten hatte, ein anderer, der 1958 Mitbegründer der Oppositionspartei AKFM (Parti du Congrès de l'indépendence de Madagascar, in der Sprache Malagasy: Antoko'ny Kongresi'ny Fahaleovantenan'i Madagasikara) war; sie alle forderten die uneingeschränkte Unabhängigkeit.

In der Schule waren die madagassischen Mädchen, deren Eltern mit Ja stimmten, gut gekleidet, sie hatten mehr Geld als wir und saßen in den ersten Reihen, zusammen mit den kleinen Französinnen oder vielmehr mit den kleinen Kontinentalfranzösinnen, denn es gab noch andere Französinnen, oft Internatsschülerinnen, deren Eltern im Busch lebten. Sie waren häufig Französinnen von La Réunion. Sie saßen in der dritten Reihe, direkt vor uns. Die Lehrer in der Schule waren sehr erstaunt, dass einige von uns, von denen aus den hinteren Reihen, den „Eingeborenen“, ausgezeichnet in Französisch waren. Aber oft „vergaßen“ manche Lehrer mit Absicht solche Zeitschriften, die uns die Gräueltaten der Fellaghas in Algerien zeigten, die manche von uns als Freiheitskämpfer ansahen.

"Denk daran, wir haben mit Nein gestimmt"

Am Tag des Referendums zogen sich mein Vater und meine Mutter fein an. Sie nahmen mich mit ins Wahllokal, und beim Hinausgehen haben sie lediglich zu mir gesagt: „Denk daran, wir haben mit Nein gestimmt.“ Ich habe nicht verstanden, was sie mir mitteilen wollten, bis ich später, als Erwachsene, auf folgende Sätze aus einer Rede von General de Gaulle vom 22. August 1958 stieß: „Es ist nämlich so, dass die Welt voranschreitet, sich entwickelt: In Anbetracht dieses Voranscheitens, dieser Entwicklung ist es kürzlich in Frankreich und in Algerien zu jenen Ereignissen gekommen, die Sie kennen ...“ In derselben Rede fügt General de Gaulle hinzu: „…es hängt davon ab, ob die Übersee-Territorien bei dem zukünftigen Referendum unseren Vorschlägen zustimmen oder nicht und ob sie sich von Frankreich lossagen. Das Mutterland wird daraus klare Konsequenzen ziehen, wie ich es bereits an anderer Stelle gesagt habe und wie ich es hier in aller Form wiederhole.“

Ich habe Jahre gebraucht, um die Kraft des Neins zu verstehen, mit der meine Eltern und die Ihren versucht haben, sich dem Neo-Kolonialismus von Frankreichs Gnaden zu widersetzen, der seither Unabhängigkeit heißt.



Die Autorin Michèle Rakotoson ist Journalistin und Autorin, sie wurde 1948 in Antananarivo/Madagaskar geboren. Nach Schulbesuch und Studium arbeitete sie bis 1983 als Lehrerin, Journalistin und Theaterregisseurin in ihrer Heimat Madagaskar, dann 20 Jahre lang bei Radio France International in Paris. Dort entwickelte und betreute sie u.a. einen Kurzgeschichtenwettbewerb und den Literaturpreis RFI Témoin du Monde (Zeugen der Welt). Heute lebt sie wieder in ihrer Heimat, wo sie u.a. die Vereinigung Opération BOKIKO und die Buchmesse SONATRA ins Leben gerufen und sich damit der Förderung junger literarischer Talente Madagaskars verschrieben hat.

Michèle Rakotoson hat 7 Romane (u.a. Dadabé, Paris 1983, dt. Dadabé, Lamuv Verlag 1998; Le bain des reliques, Paris 1987, dt. Die verbotene Frau, Lamuv 2000 und Tovonay, l’enfant du Sud, Paris 2009), 6 Theaterstücke z.T. in zweisprachiger Version mit Französisch und Madegassisch, und viele Kurzgeschichten, Essays und Gedichte in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht.

Dossier

50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika

Das Jahr 1960 war für viele Afrikaner/innen ein Jahr der Hoffnungen. 17 Länder erlangten die Unabhängigkeit von den kolonialen Mächten. Das Dossier soll „Blitzlichter“ auf die Länder werfen, die 1960 unabhängig wurden: mit ganz persönlichen Beiträgen. Daneben gibt es Hintergrundartikel von renommierten Autoren aus Deutschland und verschiedenen Ländern Afrikas sowie Auszüge aus den Reden, Schriften und Kurzporträts, die die Aufbruchstimmung von 1960 deutlich machen.