Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Taliban und Menschenrechte: Afghanistan nach der „Friedens-Dschirga“

Kabul im Jahre 2008. Foto: Thorsten Volberg

Der afghanische Knoten

8. Juli 2010
Von Stefan Schaaf

Können Verhandlungen mit den Taliban dem Land den erhofften Frieden bringen?

1600 Delegierte versammelten sich Anfang Juni in Kabul zur Friedens-Dschirga. Sie sollte Präsident Hamid Karzai ein Mandat verleihen, die verschiedenen Aufständischen-Gruppen in den politischen Prozess Afghanistans einzubinden und Verhandlungen mit ihnen aufzunehmen. „Ich sage euch, liebe Talib-Brüder, dies ist euer Land, kommt zurück und lebt hier in Frieden“, lockte Karzai in seiner Eröffnungsrede. Doch die Antwort der Taliban war unversöhnlich: Sie feuerten zwei Raketen auf das Versammlungszelt und schickten zwei Selbstmordattentäter, die im Gefecht mit der Polizei getötet wurden.

Doch nach neun Jahren eines kaum gewinnbaren Militäreinsatzes, der in Europa und den USA immer weniger Unterstützung findet, scheint ein wie auch immer gearteter Kompromiss mit den Taliban als denkbarer Ausweg aus der verfahrenen Lage. Derzeit schließen sich die politischen Positionen der internationalen Gemeinschaft und der afghanischen Regierung auf der einen Seite und der Aufständischen auf der anderen Seite aus. Es stellt sich die Frage, ob ein Kompromiss bedeuten muss, dass Afghanen und vor allem die Afghaninnen auf die demokratischen Rechte und Freiheiten zu verzichten hätten, die sie sich seit 2001 erstritten haben, die die Taliban jedoch als westlichen Ungeist ablehnen. Darüber diskutierte Barbara Unmüßig vom Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung mit vier Experten: Mit Fahim Hakim, dem Vorsitzenden der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC) mit Tom Koenigs, dem Grünen-Abgeordneten und Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, mit Citha Maass von der Stiftung Wissenschaft und Politik und mit Rüdiger König, dem Referatsleiter Afghanistan und Pakistan im Auswärtigen Amt – der ab August der deutsche Botschafter in Kabul sein wird.

Ende 2001 schienen die Taliban geschlagen, heute halten sie das Land in Atem. Wie stabil ist die Regierung Karsai derzeit, wie weit ist der politische Aufbau demokratischer Institutionen in Afghanistan gediehen? Wird er von der afghanischen Führung unterstützt? Das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Kabul berichtet seit Monaten eher von Rückschritten.

Anforderungen an Verhandlungen

Immerhin gebe es in Afghanistan heute eine Regierung, ein Parlament und eine Justiz, sagte Hakim – wie es 2001 auf dem Petersberg beschlossen worden war. Sie sprächen derzeit allerdings nicht mit einer Stimme, und der Staat sei in vielen Landesteilen einfach nicht präsent. Ratsversammlungen wie die Friedens-Dschirga seien in Afghanistan ein traditionelles Mittel zur lokalen Konfliktschlichtung. Auf nationaler Ebene dienten sie jedoch oft nur als ein Feigenblatt für die Regierung, die auch diesmal nach Gutdünken Delegierte ausgewählt hatte. Seine Menschenrechtskommission habe daher gefordert, dass alle Verhandlungen offen und transparent sein, sich an Prinzipien und Werten orientieren müssten und dass es bei den demokratischen Errungenschaften – den Rechten der Frau, der Meinungs- und Pressefreiheit und dem Recht auf Bildung – keine Abstriche geben dürfe. Dies sei auch der Standpunkt der verschiedenen Gruppierungen der afghanischen Zivilgesellschaft, die seit 2001 entstanden sind. Das erwarte er auch von der internationalen Gemeinschaft. Hakim vermisste, dass diese bei der Londoner Afghanistan-Konferenz Ende Januar die Belange der Frauen Afghanistans entsprechend unterstützt hatte. Und er kritisierte die Bereitschaft der Konferenz und der Karzai-Regierung, Straftaten der Taliban ungesühnt zu lassen. Inzwischen sei sogar die Befristung des Amnestieangebots aufgehoben worden. „Dies sendet den Taliban eine klare Botschaft“, sagte Hakim: „Brennt Schulen nieder, verübt Säureattentate, ermordet Regierungsmitarbeiter, und am Ende seid ihr willkommen, euch am Friedensprozess zu beteiligen.“ Ohnehin gebe es bisher keine erkennbare Bereitschaft der Taliban zu Verhandlungen, allein im Juni seien bei ihren Attacken 94 ISAF-Soldaten getötet worden.

Teilt die Bundesregierung diese Einschätzung? Rüdiger König fand Hakims Analyse überzeugend. Nach neun Jahren (wobei die ISAF ja erst seit 2006 in ganz Afghanistan tätig ist) dürfe man nicht verzweifeln, wenn zwar formal der Auftrag der Petersberger Konferenz erfüllt worden ist, in der Realität aber die politischen Institutionen Afghanistans nicht so funktionieren, wie man sich das wünsche. Karzai sei aber Selbstverpflichtungen eingegangen, diese Institutionen auszubauen und auf ganz Afghanistan auszuweiten. „Wir werden die afghanische Regierung hier beim Wort nehmen“, sagte König – und Deutschland wolle sie dabei auch nach Kräften unterstützen. Eine Versöhnung müsse hingegen ein innerafghanischer Prozess sein, bei dem die internationale Gemeinschaft nur eine Ratgeber-Funktion haben könne. König erwartet allerdings, dass es bei den politischen Mindestbedingungen für Verhandlungen bleibt, den so genannten roten Linien: die Aufständischen müssten die Waffen niederlegen, die afghanische Verfassung anerkennen (die sich ausdrücklich auf die Erklärung der Menschenrechte stützt), und sich von al-Qaida lossagen.

Wo sind die roten Linien?

Tom Koenigs vermisste die Offenheit in der Debatte. Rote Linien nützten wenig. Er wüsste gern, wo die „grünen Linien“ sind, also wo es vorangehen soll. Viele Afghanen hoffen, dass Deutschland sich weiterhin für das Bildungswesen und die Hochschulkooperation einsetze. Im Justizwesen, für dessen Aufbau einst die Italiener die Verantwortung trugen, sei bislang wenig geschehen. Rechtssicherheit sei für die Afghanen aber eine wichtige Voraussetzung, um Vertrauen in die Regierung zu fassen.

In jedem Fall, sagte Koenigs, seien Verhandlungen der kriegerischen Auseinandersetzung vorzuziehen. Jeder müsse am Verhandlungstisch willkommen sein, die internationale Gemeinschaft müsse dort aber die Demokraten unterstützen. Außerdem gehöre eine Amnestie für frühere Taten fast immer zum Repertoire von Friedensverhandlungen – sofern gleichzeitig die Würde der Opfer wiederhergestellt werde. Letztlich sei bislang ja völlig unklar, wer da mit wem wo und worüber verhandeln solle. Man werde, meinte Koenigs, noch viele kleine Schritte zuvor machen müssen, bevor es so weit sei. Es werde ein Prozess sein, der Zeit brauche, pflichtete Citha Maass ihm bei.

Ihr macht vor allem die junge, gut ausgebildete Generation von Afghanen Hoffnung. Diese Reformkräfte bräuchten die Zeit, um sich zu entfalten. Sie riet dabei zum behutsamen Umgang mit dem Widerspruch zwischen islamischem Gewohnheitsrecht und den westlichen Rechtsvorstellungen. Hier dürfe es nicht zu einer Wertepolarisierung kommen. Außerdem sei es nötig, dass neben der Versöhnung der Regierung mit den Aufständischen es auch eine Versöhnung der afghanischen Paschtunen mit den übrigen Ethnien des Landes geben müsse.

Die Zeit drängt für die Demokraten

Karzai geht gegenwärtig davon aus, ab 2014 oder 2015 die politische und militärische Verantwortung für Afghanistan („Afghan ownership“) tragen zu können, was ein ehrgeiziges Ziel ist. Derzeit seien Karzai und seine westlichen Unterstützer auf fatale Weise aufeinander angewiesen, sagte Maass, sie sprach gar von einer „beidseitigen Geiselnahme“, die immer wieder dazu führe, dass politische Chancen vergeben würden. Man müsse staatliche Strukturen stärken und demokratische Institutionen gegen Karzais Willkür verteidigen – auch aktuell im Vorfeld der  Parlamentswahl im September, die erneut zur Farce zu werden drohe. Koenigs kritisierte in diesem Zusammenhang die mangelnde internationale Unterstützung für das Parlament, das nicht einmal über einen eigenen Haushalt verfüge. Die ISAF sei viel zu sehr auf die Exekutive, auf Karzai orientiert.

Barbara Unmüßig fragte Fahim Hakim, ob Karzai bei seiner Suche nach afghanischen Bündnispartnern nicht schon längst Zugeständnisse gemacht habe, die die Demokratie untergraben oder gezielt ethnische Konflikte schüren. Er bejahte dies und verwies auf das Schicksal der nomadischen Kutchi und der schiitischen Hazarah, die trotz der Schutzbestimmungen der Verfassung und der Gesetze Nachteile erleiden müssten und keine Hilfe der Regierung erhalten. Koenigs meinte, dass Karzai gar nicht umhin komme, sich afghanische Verbündete um jeden Preis zu suchen – also auch Gestalten wie die Warlords Raschid Dostum oder Mohammed Fahim – wenn ihm ab 2015 keine internationalen Truppen mehr zu Hilfe kommen werden. Es sei ein Fehler gewesen, hier eine Frist zu nennen.

Auch für Institutionen wie die Heinrich-Böll-Stiftung oder Hilfsorganisationen stellt sich die Frage von roten Linien bei ihrem Engagement in Afghanistan. Es ist eine schwierige Gratwanderung, wann Einschränkungen der Menschenrechte so gravierend werden, dass man die Arbeit abbrechen muss. Das bedeute dann auch, sagte Unmüßig, die Menschen vor Ort allein zu lassen: „Dann demotivieren wir all die, die unsere Unterstützung brauchen.“ Koenigs sagte, entscheidender Gradmesser dabei sei die Lage der Frauen.

Abschließend kam die Debatte doch noch auf den regionalen Kontext zu sprechen, der eine so wichtige Rolle spielt. Afghanistans Nachbar Pakistan, Indien, aber auch der Iran und die zentralasiatischen Staaten haben Interessen in Afghanistan. Doch es gibt keinerlei regionales Forum, in dem über einen Ausgleich dieser Interessen verhandelt werden könnte. „Dies ist die am wenigsten vernetzte Region der Welt“, sagte König.

Jede Menge Hürden, jede Menge Probleme, jede Menge Versäumnisse und ein paar Lichtblicke: Afghanistan erscheint derzeit als gordischer Knoten, für den sich allerdings der simple Ausweg eines kraftvollen Schwerthiebs nicht anbietet. Bis zu Verhandlungen ist es ein weiter Weg, ihr Ergebnis nicht abzusehen. Vielleicht wird man künftig bei besonders verzwickten internationalen Problemen vom „afghanischen Knoten“ sprechen.

Podiumsgäste:
Fahim Hakim, Vorsitzender der Afghan Independent Human Rights Commission
Tom Koenigs, MdB, Bündnis 90/Die Grünen, Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Citha Maass, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin
Rüdiger König,  Referatsleiter Afghanistan und Pakistan, Auswärtiges Amt

Moderation:

Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Protokoll:
Stefan Schaaf
, Freier Journalist


Podiumsdiskussion
Dienstag, 29. Juni 2010, 19:00 Uhr
Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, Berlin