Von Jens Siegert
Die Welt ist im Umbruch. Russland sucht sich neu – und gleichzeitig seine neue Rolle in der neu entstehenden politischen Weltordnung. Die russischen Bewegungsrichtungen und historischen Bezüge sind suchend bis widersprüchlich.
Im außenpolitischen Denken dominiert ein geopolitisches Weltbild, das eher aus dem 19. denn aus dem 21. Jahrhundert stammt. Gleichzeitig erscheint es angesichts seiner Beharrung auf der Behauptung, dass es nur eine multipolare, niemals aber eine (von den USA dominierte) unipolare Weltordnung geben könne, fast schon wieder modern. Der russische außenpolitische Diskurs sprüht nur so vor Genugtuung darüber, dass das nun endlich die ganze Welt eingesehen zu haben scheint, die USA eingeschlossen.
Gleichzeitig schauen die meisten russischen Außenpolitiker (Außenpolitikerinnen gibt es weiter sehr wenige) auf die ihrer Meinung nach schwache und über kurz oder lang zur Unterordnung oder zum Untergang verurteilte EU hinab. Paradox ist dabei aber, dass trotzdem offenbar letztendlich nichts anderes übrig bleibt, als mit eben dieser EU zusammen zu gehen, weil man, allem Backenaufpumpen der Vor-Krisen-Jahre und stolzem Zu-BRIC-Gehören zum Trotz, selbst auch weiter auf dem absteigende Ast ist.
Dabei geht es aber nicht nur um die EU, sondern, sozusagen dahinter, als eigentliche Macht, immer auch um die USA (und ihren verlängerten Arm, die NATO), als deren sicherheitspolitischer Juniorpartner die EU nicht ganz zu Unrecht angesehen wird. Das Verhältnis zu den USA ist ebenso widersprüchlich wie das zur EU: Sie wird als Bedrohung, als das Maß aller geopolitischen Dinge angesehen. Aber sie dient auch, wie in so vielen Ländern, als Traumwunderland. Sie ist dort, wo man selbst hinkommen will, nämlich ganz oben. Die Rede vom Niedergang der Supermacht USA ist auch immer Teil dieses Aufstiegswillens.
Drei Charakteristika des russischen außenpolitischen Denkens
Neben dem Denken in geopolitischen Kategorien, in dem Souveränität verstanden als Fähigkeit zu handeln ohne andere zu fragen (frei nach Carl Schmitt) internationaler Vernetzung und Interdependenz entgegen steht, bestimmen zwei weitere Charakteristika die russische Außenpolitik:
Zum Einen wird Sicherheit weiterhin vorwiegend als „strategische Tiefe“ empfunden. Daher auch die empfindlich-abwehrenden Reaktionen auf die NATO-Erweiterung und mögliche NATO-Mitgliedschaften von Georgien oder gar der Ukraine. Hier gibt es eine Kontinuität von Stalin über die späte Sowjetunion und sogar, wenn auch abgeschwächt, das Jelzinsche Russland bis heute.
Zum Zweiten gilt der Nationalstaat (und nur er) als das gegenwärtig, vor allem aber auch zukünftig allein maßgebende Subjekt internationalen Handelns (was einen Teil, wenn auch nur einen Teil der EU-Skepsis erklärt). Gleichzeitig ist der russische Nationalstaat selbst noch sehr jung (als Nationalstaat und nicht als Imperium gerade einmal 20 Jahre alt) und seiner selbst und seiner historisch nie dagewesenen Grenzen sehr unsicher. Der Zerfall der Sowjetunion wird in Russland eher als ein Abfall vom (russischen) Zentrum aufgefasst (und gefühlt), dem weitere Separationsbewegungen folgen könnten. Die Sorge um die „territoriale Integrität“ des Landes war beides: Grund und Vorwand für den Tschetschenienkrieg. Diese Sorge und Unsicherheit drückt sich auch im mal schroffen, mal hochfahrenden, mal konfrontativen Verhalten gegenüber „unseren westlichen Partnern“ (O-Ton Putin) aus.
Herausforderungen
Welche strategischen Herausforderungen ergeben sich aus Sicht der gegenwärtigen politischen Führung (im Gegensatz zu vielen anderen Politikbereichen herrscht hier große Einigkeit bis weit in die Reihen der marginalisierten Opposition hinein) aus dieser Gemengelage? Ich möchte, ohne dass eine tiefere Analyse an dieser Stelle möglich ist, fünf nennen. Die Reihenfolge gibt durchaus eine Rangfolge ihrer Wichtigkeit wieder:
- Globale Machtbalance
- Globale Energiepolitik
- Die sogenannte „privilegierte Interessenssphäre“, d.h. ehemalige Sowjetunion ohne Baltische Staaten, also: Ukraine, Belarus, Moldawien; Südkaukasus; Zentralasien
- Handelsbeziehungen mit der EU
- BRIC-Staaten: Brasilien, Russland, Indien und China
Dabei werden drei strategische Ziele angestrebt
- Strategische Autonomie bewahren
- Die Möglichkeiten der Globalisierung nutzen
- Symbolische Siege erringen und ausnutzen
Die strategische Autonomie schützen aus russischer Sicht ausschließlich die strategischen Atomwaffen. Zwar ist der russischen Führung klar, dass eine Parität mit den USA über die aktuellen russischen Kräfte geht. Umso wichtiger ist es aber, gemeinsam mit den USA eine Nuklear-Überlegenheit allen anderen gegenüber aufrecht zu erhalten.
Gleichzeitig muss der eigene, relative Machtverlust begrenzt werden. Wichtigstes Mittel hierzu ist die russische Mitgliedschaft in vielen Allianzen gleichzeitig (die manchmal erst auf russische Initiative hin gegründet wurden): G8, G20, BRIC, Iran, Shanghaier Organisation etc.
Zbigniew Brzezinski, einer der bekanntesten und in Russland meistgehassten US-Russlandfalken, wird nichtsdestotrotz, wohl aber auch deshalb als geopolitische Autorität geschätzt. Das ihm zugeschriebe Diktum, es gebe kein russisches Imperium ohne die Ukraine, ist auch die Überzeugung der politischen Elite in Russland. Da nun die Wiedereinverleibungschancen fürs Erste gering sind, ist es erklärtes Ziel, die Ukraine zumindest zu neutralisieren, also nicht „Teil des Westens“ werden zu lassen. Ebenso wird angestrebt, Georgien zu neutralisieren. Ersterem Ziel scheint die russische Führung nach dem Machtwechsel in der Ukraine von Juschtschenko zu Janukowitsch im Frühjahr wesentlich näher gekommen zu sein – und das, ohne viel dazu beigetragen zu haben (außer der Klugheit die 2004 übel verbrannten Finger diesmal draußen vor gelassen oder feinfühliger eingesetzt zu haben). Georgien ist gleichzeitig nach dem Krieg vor zwei Jahren unter Saakaschwili auf dem besten Weg, sich selbst weiter unattraktiv und unwichtig zu machen, zumindest für die EU-Europäer.
Wie passt das nun alles zusammen?
Vor allem letztere ist eine wichtige, viel diskutierte Frage in der russischen Diskussion um den richtigen außenpolitischen Weg. Dmitrij Trenin, Direktor des Carnegie Moscow Centers, befürchtet, die gegenwärtige Führung habe sich zur „Alleinfahrt“ entschlossen („Odinotschnoje plavanije“, so der Titel seines neusten Buchs) oder sei vielleicht auch eher unfreiwillig darin gelandet. Das stimmt insofern, als sie sich nicht so recht zwischen Allianz oder Konkurrenz mit dem Westen entscheiden kann (oder will). Doch im Zeichen der Krise gewinnt die These wieder mehr Anhänger, dass das mittelfristig schwächer (und weniger) werdende Russland auch in der erträumten multipolaren Welt Partner braucht.
So klein die Auswahl ist, so erbittert die Diskussion, zumal sie eng mit der Frage nach dem Selbstbild und der inneren Verfassung des Landes verwoben ist. Das Fehlen einer eindeutigen Antwort liegt aber auch daran, dass die möglichen Verbündeten ganz verschiedene Qualitäten und Mängel haben und dabei gleichzeitig unterschiedliche Bedürfnisse Russlands abdecken. Kurz und der Reihe nach:
Eine enge Bindung an die USA wird allgemein abgelehnt. Das liegt auch, aber nicht nur daran, dass die USA immer noch das „große Andere“ sind, an dem sich Russland misst. Ein großer Teil der Russen nennt die USA auch zwanzig Jahre nach Ende der Sowjetunion immer noch als die größte Gefahr für die nationale Sicherheit. Auch wenn die politische Führung das inzwischen nicht mehr so sehen sollte (was ich nicht weiß), so ist das doch ein gut handhabbares innenpolitisches Machtinstrument. Gleichzeitig wird die USA aber als Partner gebraucht, da nur ihre Anerkennung Russlands als einzige einigermaßen ebenbürtige Atommacht auf der Welt dem Land zumindest einen Hauch von Großmachtstatus lässt.
China kommt als bevorzugter Verbündeter auch nicht in Frage. Denn China ist erstens aller Wahrscheinlichkeit nach zukünftiger Hegemon, zweitens zu groß und drittens direkter Konkurrent in Sibirien und Zentralasien. Insbesondere die Angst vor der schleichenden Sinisierung Sibiriens verstört die russischen politischen Eliten schon seit langem. Zwar fasziniert die „lenkenden Demokraten“ in Russland das chinesische Modell von wirtschaftlichem Erfolg ohne politische Freiheit fraglos sehr. Doch die Diskussion über seine Übertragbarkeit auf Russland bezieht ihre Schärfe vor allem aus der Abgrenzung zum Westen.
Eine dritte Option wäre der Ausbau von BRIC (Brasilien, Russland, China, Indien) zu einem Bündnis der künftigen Mächte gegen den immer noch dominierenden Norden-Westen. Doch das wäre allenfalls eine mittelfristige Perspektive. Zu gering sind die Bindungen bisher, zu gering auch die langfristigen gemeinsamen Interessen. Außerdem weiß auch der Kreml, dass Russland mit seiner schrumpfenden Bevölkerung und auf Rohstoffexporten basierenden Wirtschaft eigentlich nicht in diese Gruppe gehört. Es hat sich da eher reingelogen, so wie die Sowjetunion in die antikoloniale Bewegung der 1950er und 1960er Jahre.
Weder China noch BRIC sind letztlich wirklich ernsthafte strategische Optionen. Die Diskussion darüber wird aber immer wieder genutzt, um Druck auf die USA und die EU auszuüben.
Alternative Europäische Union
Bleibt noch eine Alternative: die Europäische Union. Die EU hat aber in der russischen Analyse einen entscheidenden Fehler. Sie wird als schwach und auf mittlere Sicht geopolitisch marginalisiert angesehen, kommt also als starker, strategischer Partner nicht so recht in Frage. Paradoxer Weise ist es aber gerade die geopolitische Schwäche gepaart mit ihrer wirtschaftlichen und technologischen Kraft, die die EU für Russland attraktiv macht. Man kann sich, so der Schluss, mit ihr zusammen tun, ohne Zweiter werden zu müssen. Russland bringt in dieser Perzeption die geostrategische Härte und die Rohstoffe mit, die EU das Wirtschafts- und Modernisierungspotential. Das ergänzt sich auf dem Papier sehr gut und entspricht auch am ehesten den historischen Zugehörigkeitsgefühlen.
Die Chancen für die Wahl der russischen politischen Elite stehen nicht schlecht. Das antiwestliche Hoch mit der Auseinadersetzung um die Unabhängigkeit des Kosovo und die Luftangriffe von NATO-Flugzeugen auf Rest-Jugoslawien (wenn auch unter UN-Mandat) verblasst langsam. Die NATO-Osterweiterung in Mittel- und Osteuropa einschließlich der baltischen Staaten wird inzwischen weitgehend akzeptiert, wenn auch mit Zähneknirschen. Selbst das neue Zwischenhoch antiwestlicher und Anti-NATO-Ressentiments rund um den Georgienkrieg vor zwei Jahren war nur von sehr kurzer Dauer, zumal ein möglicher NATO-Beitritt von Georgien, vor allem aber der Ukraine in naher Zukunft wohl ausgeschlossen ist.
Ein jüngst wohl nicht zufällig in die Öffentlichkeit gelangtes Strategiepapier des russischen Außenministeriums unterstützt in wesentlichen Teilen diese Analyse.
Allerdings bleibt das russische Grunddilemma der vergangenen drei Jahrhunderte bei dieser strategischen Wahl ungelöst: Wie kann man Europa näher kommen, ohne seine Identität zu gefährden? „Europa“ ist eben, auch und gerade in der russischen Diskussion, nie nur technischer und wirtschaftlicher Fortschritt, sondern immer auch „Zivilisation“. Heute heißt das vor allem Demokratie und Menschenrechte, Rechtsstaat und liberale Bürgerrechte. Das möchte man zwar „im Prinzip“ auch, aber „selbstbestimmt“, auf „russische“ Weise.
Dieses Dilemma, wie das bei echten Dilemmas eben ist, lässt sich nicht „lösen“. Es muss ausgelebt werden und sich möglicher- und hoffentlicherweise irgendwann einmal überleben (wobei dieses „überlebt haben“ den dann Lebenden erst im Rückblick klar werden wird). Ein schönes, im heutigen Russland aber auch abschreckendes Beispiel ist Deutschlands „langer Weg nach Westen“. Noch vor knapp 100 Jahren, während des Ersten Weltkriegs, wetterte Thomas Mann in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ gegen die „Zivilisationsliteraten“ gegen „deutsche Sapadniki“ als Totengräber der deutschen Identität, die es gegen den krämerischen Westen zu verteidigen gelte.