Armut und Ernährung: Gesundes Essen für alle Schulkinder

Laut dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS) sind rund 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland übergewichtig. Experten machen dafür schlechte Ernährung verantwortlich und fordern gesünderes Essen in der Schule - für alle Kinder. ➤ Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Bildung und Wissenschaft.

1. Die Ausgangslage

Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS) hat den Handlungsbedarf deutlich gemacht. So weisen die für die Bundesrepublik repräsentativen Daten Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen in der Größenordnung von 15 Prozent aus, die Häufigkeit von Adipositas liegt bei 6,3 Prozent. Dabei zeigt die Altersklasse von 11 bis 13 Jahren die höchste Prävalenz bei Übergewicht mit 18 Prozent bei den Jungen und 19 Prozent bei den Mädchen. In Bezug auf Adipositas sind Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren am meisten betroffen mit 8,2 Prozent bei den Jungen und 8,9 Prozent bei den Mädchen. Essstörungen nehmen ebenfalls einen vergleichsweise hohen Prozentsatz ein. So wurde bei 28,9 Prozent der Mädchen und 15,2 Prozent der Jungen im Alter von 11 bis 17 Jahren ein auffälliges Essverhalten festgestellt.

Besonders problematisch ist die Tatsache, dass sowohl Übergewicht und Adipositas als auch die Essstörungen eng mit der sozialen Schicht korrelieren: je niedriger der sozioökonomische Status, desto höher die Prävalenz.

Die Ergebnisse des Eskimo Moduls des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys zeigen außerdem die Defizite bei der Lebensmittelauswahl auf. So essen Kinder und Jugendliche zu wenig an pflanzlichen Lebensmitteln wie Gemüse und Obst, Brot, Kartoffeln und anderen kohlenhydratreichen Beilagen. Mit zunehmendem Alter werden zu viele fettreiche tierische Lebensmittel verzehrt. Die Jugendlichen nehmen ausreichend Flüssigkeit auf, bei den 12- bis 17-jährigen besteht jedoch allein ca. ¼ der Flüssigkeitsmenge aus Limonaden.

Die empfohlenen Mengen für Milch und Milchprodukte werden überwiegend erreicht. Der Verzehr an Fleisch, Fleischwaren und Wurst liegt bei den meisten Kindern und Jugendlichen deutlich über den Empfehlungen. Auch Süßwaren liegen nicht im wünschenswerten Bereich, die akzeptablen Mengen werden zum Teil um das Dreifache überschritten.

Auch die Verzehrstudie zur Ermittlung der Lebensmittelaufnahme von Säuglingen und Kleinkindern - VELS (Ernährungsbericht 2008) zeigen ein ähnliches Bild. 

Der nationale Aktionsplan geht von mindestens 25 Prozent aller Kinder und Jugendlichen aus, die vor der Schule nicht frühstücken und auch kein Pausenbrot mit in die Schule bringen. Diese Zahlen werden im Hinblick auf die jüngeren Kinder auch durch die HBSC Studie in mehreren ausgewählten Städten Deutschlands gestützt. Bei den Älteren kommt nach dieser Studie eine noch deutlich größere Zahl ohne Frühstück zur Schule.

Die Verkürzung der Schulzeit auf insgesamt 12 Jahre bedeutet für viele Kinder und Jugendliche von der Mittelstufe an regelmäßigen Nachmittagsunterricht. Ohne Frühstück oder Pausenbrot und ohne eine Mittagsmahlzeit lässt sich ein solcher Schulalltag kaum bewältigen.


2. Ziele der Schulverpflegung – die Bedeutung der Qualitätsstandards

Das Weißbuch der Europäischen Union zur Ernährung, Übergewicht und Adipositas setzt in seiner zentralen Strategie bewusst auf die Altersgruppe von Kindern und Jugendlichen. Hierin heißt es wörtlich: „Die Kindheit ist ein wichtiger Lebensabschnitt, in dem eine Vorliebe für gesunde Verhaltensweisen beigebracht und die für die Aufrechterhaltung einer gesunden Lebensweise erforderlichen Alltagsfähigkeiten erlernt werden können. Die Schulen spielen dabei eine wichtige Rolle.“
Mit den seit September 2007 vorliegenden Qualitätsstandards (DGE) wurden die Anforderungen an eine gesundheitsförderliche Verpflegung in Schulen präzisiert, seit September 2009 liegt eine überarbeitete Fassung vor.

Übergeordnete Ziele der Verpflegung in Schulen sind:

  • Die Förderung der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen durch eine hohe ernährungsphysiologische Qualität,
  • die Sicherstellung von Abwechslungsreichtum und Vielfalt im Angebot,
  • das Kennenlernen neuer Gerichte und Lebensmittel und das Kennenlernen von Ess- und Tischkulturen,
  • das Erreichen einer hohen Akzeptanz durch eine optimale Sensorik sowie
  • das Erlernen eines gesundheitsförderlichen Ernährungsstils.

Für die Umsetzung in den Schulen ist der Grad der Präzisierung der Qualitätsstandards von hoher Bedeutung. Es wurde ein mittlerer Präzisionsgrad gewählt. Das heißt: die Anbieter sind frei bei der Auswahl der Speisen solange die D-A-CH Referenzwerte der Altersgruppe und die Auswahl der Lebensmittel entsprechend der Lebensmittelpyramide der DGE erfüllt werden.

Die Mittagsmahlzeit sollte 25 Prozent der empfohlenen Energie- und Nährstoffzufuhr decken, bei der Zwischenmahlzeit werden 10 -15 Prozent zugrunde gelegt. Damit wird durch die Schulverpflegung knapp die Hälfte des Tagesbedarfs abgedeckt. Sofern auch nachmittags noch ein Angebot vorgehalten wird, kann diese Versorgung insgesamt sogar mehr als 50 Prozent ausmachen. Schon aus diesem Grunde muss die Verpflegung hohen Anforderungen genügen und in jedem Fall eine gesundheitsförderliche Auswahl ermöglichen.

Auch das Trinkverhalten kann maßgeblich beeinflusst werden, wenn in Schulen die richtige Auswahl zur Verfügung steht und Kinder und Jugendliche die Vorzüge eines regelmäßigen Wasserkonsums frühzeitig schätzen lernen. Eine günstige Variante ist die Aufstellung von leitungsgebundenen Wasserbrunnen. Hier sollten die örtlichen Wasserversorger mit ins Boot geholt werden, damit allen Kindern ausreichend Wasser zur Verfügung gestellt werden kann.

Nicht von ungefähr sind Aspekte des Umfelds wie die Gestaltung von Räumen, der Service oder die angenehme Atmosphäre beim Essen von hoher Relevanz. Die bundesweite Strukturanalyse zur Schulverpflegung hat deutlich gemacht, dass gerade in der Strukturqualität noch ein großes Potenzial verborgen ist. Schon die Verlängerung der Mittagspause könnte in vielen Fällen die Situation verändern, Stress bei der Organisation abbauen und die Akzeptanz der Verpflegung deutlich erhöhen. 

Auch die Preisgestaltung spielt eine wesentliche Rolle. Der bundesweite Durchschnittspreis von aktuell 2,60 €  ist nicht für alle finanzierbar. Bei geringeren Abgabepreisen für das Mittagessen dürften die Anforderungen an eine ausgewogene, gesundheitsförderliche Ernährung aber praktisch kaum umzusetzen sein. Die Bezuschussung für sozial Schwache ist in den Ländern unterschiedlich geregelt, nicht in allen Fällen steht ein Sozialfond zur Verfügung, über den ein Teil der Kosten gedeckt werden könnte.

Schulverpflegung ist eine Verpflegung über viele Jahre hinweg. Sie könnte dazu beitragen, Ernährungsverhalten nachhaltig zu beeinflussen, wenn die Schülerinnen und Schüler frühzeitig an ein entsprechendes Angebot gewöhnt werden. Eine Gewöhnung gelingt umso besser, je mehr auch sensorische Aspekte berücksichtigt werden. Die Speisen müssen Kindern schmecken: es erhöht die Akzeptanz, wenn Vorlieben und Abneigungen der Altersgruppe im Speisenplan ihren Niederschlag finden.
 

3. Der Blick über den Tellerrand – was machen andere Länder Europas?

Im europäischen Ausland ist die Ganztagsschule fast in allen Ländern die Regel. Deshalb gehört dort - anders als in Deutschland - die Verpflegung längst zum Schulalltag. Allerdings sind auch hier erhebliche Qualitätsunterschiede festzustellen. So ist die Ausstattung mit Automaten, Mensen und Cafeterien wesentlich vom Schulträger und dessen finanziellen Möglichkeiten abhängig. Die Verpflegung selbst wird praktisch überall von Catering Unternehmen gestellt, dabei gibt es in einigen Ländern wie Dänemark, Irland, Slowakei, der Schweiz und den Niederlanden das Grundprinzip, die Schülerinnen und Schüler bei der Herstellung der Speisen zu beteiligen. Eine Mitarbeit der Eltern ist dagegen in anderen Ländern Europas nicht üblich.   

Trotz langjähriger Erfahrungen beklagt Fannie de Boer in ihrer Studie “Eating at School – a European Study“ die schlechte Qualität der Schulverpflegung in Europa. So wird die Verpflegung selten als systematischer Beitrag zu einer gesundheitsförderlichen Ernährung gesehen und die unterschiedlichen Programme zur Prävention ernährungsassoziierter Erkrankungen der Länder werden im Rahmen der Schulverpflegung - so das Fazit - nur unzureichend umgesetzt.

Inzwischen sind in einigen europäischen Ländern klare und umfassende Standards der Schulverpflegung festgeschrieben. Ein gutes Beispiel hierfür stellen Schottland und England dar. Die offiziellen Standards fordern durch die Verpflichtung zur Einhaltung von Nährstoffempfehlungen eine Berechnung der Rezepturen, sie setzen auch allgemeine Anforderungen an die Catering Unternehmen fest. Im Vergleich zu anderen Ländern geben sie darüber hinaus sehr detaillierte Ausführungen zu einzelnen Speisen, zur Häufigkeit im Angebot und zu den Portionsgrößen. Die Mahlzeiten in Großbritannien sind kostenpflichtig und liegen bei ca. 1,75 £. Für bedürftige Eltern gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, für die Mahlzeiten für ihre Kinder kostenlos zu erhalten. In Österreich und der Schweiz liegen die Preise für die Mittagsmahlzeit liegen zwischen 2,50 und 2,90 €. Bei sozialer Bedürftigkeit der Eltern gibt es Zuschüsse. 

In Schweden und Finnland steht für alle Kinder das Essen kostenlos zur Verfügung. In allen Schulen dieser Länder sind entsprechende Infrastrukturen vorhanden, das Essen spielt im Rahmen der Ganztagsbetreuung eine wichtige Rolle. Ernährungsstandards gab es schon sehr frühzeitig, sie sind seit 2001 in den „Guidelines for school meals“ festgelegt. Ursprünglich wurde die Verpflegung staatlicherseits hergestellt, inzwischen wird dies zunehmend von privaten Unternehmen übernommen. In vielen Schulen wird noch frisch gekocht und meistens dann für andere benachbarte Einrichtungen mitproduziert. Hinsichtlich des Transports von Speisen gibt es erhebliche gesetzliche Einschränkungen: so dürfen Kartoffeln, Reis, Nudeln oder Gemüse nicht länger als 1 Stunde transportiert werden. Diese Einschränkungen führen dazu, dass nur in der Nähe gelegene Schulen zusammen versorgt werden können.


4. Fazit

Ganztagsschulen sind ein ideales Setting, um Einfluss auf die Ernährungssituation von Kindern und Jugendlichen zu nehmen. Die Schulzeit erstreckt sich im Regelfall über viele Jahre und alle Kinder müssen in gleicher Weise betreut werden, ohne dass ihr sozialer Hintergrund sich direkt auswirken könnte, denn bezogen auf Essen und Trinken in der Schule bietet die Verpflegung für alle die gleich (guten) Voraussetzungen. Die Ernährungssituation lässt sich nachhaltig verbessern, wenn es gelingt, die Verhältnisse in den Schulen durch ein entsprechendes Verpflegungsangebot und das Verhalten durch eine sinnvolle Ernährungserziehung in Einklang zu bringen. Dabei sollte einem ganzheitlichen Ansatz, der auch Bewegung, Stressbewältigung sowie die Stärkung der eigenen Persönlichkeit einschließt, der Vorrang gegeben werden.
 
Diesen Zusammenhang sieht auch der Nationale Aktionsplan „In Form“. So ist neben der Verbreitung der Qualitätsstandards für die Schulverpflegung und der Schaffung von „Vernetzungsstellen“ zur Umsetzung der Qualitätsanforderungen in den Schulen auch die Verankerung von Ernährungsbildung ein wichtiges Ziel.

Um die Chancengleichheit zu wahren, ist es zwingend notwendig, Kindern von Eltern mit geringem Einkommen einen Zuschuss zum Mittagessen zu gewähren. Hierdurch kann die Akzeptanz der Schulverpflegung bei benachteiligten Kindern und Jugendlichen steigen. Darüber hinaus verbessern sich die Voraussetzungen, um aufmerksam und konzentriert dem Nachmittagsunterricht zu folgen.        


5. Literatur

Arens-Azevedo, U.; Laberenz, .: Bundesweite Strukturanalyse Schulverpflegung im Auftrag der CMA. Abschlussbericht, Hamburg Mai 2008

BMELV, BMG (Hrsg.): In Form – Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung. Bonn 2008

British Nutrition Foundation (ed.): Health eating for School-aged children: A Guide for Parents, London 2004

De Boer, Fannie: Eating at School – a European Study. In: Council of Europe (Ed.): Proceedings of the European Forum on Eating at School – Making Healthy Choices, Strasbourg, 2003, p. 53-61

DGE (Hrsg.): Qualitätsstandards für die Schulverpflegung, Bonn 2009

DGE (Hrsg): Lebensmittelverzehr und Nährstoffzufuhr im Kindes- und Jugendalter. Ergebnisse aus den beiden bundesweit durchgeführten Ernährungsstudien VELS und EsKiMo. In Ernährungsbericht 2008, Bonn 2008, S. 49-92

Department for education and deployment (eds): Healthy school lunches for pupils in primary schools, London 2005

Heindl, Ines: Schulverpflegung in Europa – Anforderungen an die Praxis. Vortrag anlässlich der IÖW – Tagung vom 20. Juni 2005 in Berlin

Her Majestesty`s inspectors of Schools and Food Standards Agency (eds.): Healthy eating in school. Preliminary Report, London 2006  

Kommission der europäischen Gemeinschaften: Weissbuch Ernährung, Übergewicht, Adipositas. Eine Strategie für Europa. KOM (2007) 279, Brüssel 2007

Kurth, B.-M.; Schaffrath Rosario, A.: Die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse des bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS).Bundesgesundheitsbl. Gesundheitsforsch.-Gesundheitsschutz 2007, 50: 736-743 

Mraz, G. et.al.: Nachhaltige Ernährung in Schulen, Fallbeispiele aus Österreich und Schweden, Österreichisches Ökologie-Institut, Wien September 2005

Universität Paderborn, Robert-Koch-Institut (Hrsg.): Forschungsbericht. Ernährungsstudie als KIGGS Modul – EsKiMo-  Berlin, Paderborn 2007

Wesslen, Annika: School meals in Sweden, 2005, www.skolmatensvanner.org 

WHO (ed.): Health Behaviour in school-aged children. Addressing the socioeconomic determinants of healthy eating habits and physical activity levels among adolescents.  Genf 2006

Young, Ian (ed): Eating at school, Making healthy choices, Council of Europe, Strasbourg 2005


Anschrift der Verfasserin
Prof. Ulrike Arens-Azevedo
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Fakultät Life Sciences
Lohbrügger Kirchstr. 65
21033 Hamburg
E-Mail Ulrike.Arens-Azevedo@haw-hamburg.de