Das Schaffen neuer Räume

Lesedauer: 9 Minuten

30. August 2010
Von David Fopp

Kulturelle Bildung und der Zustand der schwedischen Gesellschaft

Es rumort gewaltig im schwedischen Kulturbetrieb. Vor gut einem Jahr legte die neue bürgerliche Regierung ihr Papier zu einer veränderten Kulturpolitik vor. Ein halbes Jahr später, mitten im eiskalten Stockholmer Winter, versammelten sich hunderte Kulturschaffende im Oriontheater und folgten einer Lesung. Es waren keine Gedichte, sondern kulturpolitische Gegen-Manifeste zur Zukunft Schwedens. Die Dramaturgen der drei größten Theater der Stadt hatten zu einem achtstündigen Lese-Marathon aufgerufen. Berühmte und etablierte Kulturschaffende legten ihre Ideen vor, aber auch arbeitslose Kunsthandwerker.
Im Frühling wurden diese Beiträge publiziert und zusätzlich ein Buch zur Rettung „immaterieller Werte“ herausgegeben. Im Juni lief die Frist ab, die zu Einsprüchen und Änderungsvorschlägen zum Regierungspapier zur Verfügung stand. Das Papier ist nun in Kraft getreten. Wie der Widerstand dagegen weiter verläuft, ist offen.

Es sind, wenn man alle Beiträge vereinfachend zusammenfassen will, zwei Punkte, die immer wieder kritisch gegen das Regierungspapier eingewandt werden: Das Papier betrachtet Kultur als Ware, weil es den Wert von Kultur am Wert bemisst, den die Kultur für die Bildung, für die Gesundheit, für den Wirtschaftsstandort Schweden hat. Es erkennt aber nicht den Eigenwert des menschlichen kulturellen Handelns an.
Außerdem hat die Regierung die explizit ”anti-materialistische” Zielsetzung des Vorgängerpapiers aus den 70ern ersatzlos gestrichen.

Zweitens sah das Papier vor, verschiedene politische Kultureinrichtungen zu einem großen Apparat zusammenzulegen, um damit die Förderung transparenter und einheitlicher zu gestalten. Dies war neben der avisierten Stärkung der Regionen (und somit auch regionaler Großevents statt kleinerer Kulturträger), die einzige neue Idee. Weil die Regierung durchscheinen ließ, dass diese Förderung dann aber an etablierte Projekte gehen werde, und gleichzeitig die Arbeitslosenversicherungsbeiträge angehoben würden, fürchten plötzlich tausende Kulturschaffende, keine Fördergelder mehr zu erhalten und ohne Arbeitslosenversicherung da zu stehen.

An besagtem Abend wurde offensichtlich, wie groß die Differenzen sind, wenn aus politischer Sicht über Kultur gesprochen wird. Die Vertreter der bürgerlichen Parteien denken dabei eher an klassische Musik- und harmlose Multikulti-Umzüge und setzen sich dabei gerne im Namen des „einfachen Volkes”, das angeblich in Ruhe gelassen werden will, gegen eine elitäre und unverständliche Kunstwelt ab.

Die Kulturschaffenden setzen ihrerseits jedoch gar nicht auf selbstbezügliche, elitäre Projekte. Die Alternative - wie sie sich in den hunderten Manifesten zeigt -.wäre das Konzept einer dynamischeren Demokratie. Darin erscheint Kultur als existentielles Projekt, als Schaffen von ”Akzeptanzräumen” und kreativen ”Kooperationsräumen”, in denen man ”Mensch werden und sein kann”. Man sucht nach Orten, wo Austausch stattfindet und auch diejenigen Gehör finden, die ansonsten außen vor bleiben. Orte wo die Sorgen der Menschen besprochen werden: von Jugendarbeitslosigkeit über den Klimawandel bis hin zur vergeblichen Wohnungssuche.

Man stößt sich zunehmend am Demokratieverständnis der Regierung: Demokratie meint, dass jeder sagen und denken kann, was er oder sie will – wenn es nicht verletzend ist. Diese Ansicht lässt jedoch unberücksichtigt, dass eine Demokratie allen auch die Mittel, Orte und das professionelle Personal an die Hand geben muss, die eigene Stimme zu entwickeln, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und Eigenes zu entdecken – sei es auch gegen die Gruppe und die eigene Generation. Es muss die Möglichkeit gegeben werden, im Rahmen eines gemeinsamen kreativen Projektes zu erkennen, dass man sich gegenseitig braucht, um zu dem zu werden, was man ist. Mit anderen Worten: Prozesse gelingender Subjektivierung einleiten.

Probleme der Jugend in Schweden

Das Problem mangelnder Subjektivierung findet sich bereits bei den jüngeren Generationen. Im vergangenen Frühling erschien Gustav Fridolins Buch ”Blasta” und wurde zu einem großen Erfolg. Fridolin schildert darin die konkreten Lebensumstände seiner Generation der Twentysomethings. Er selbst saß bereits vier Jahre lang für die Grünen im schwedischen Parlament und arbeitet jetzt als Volkshochschullehrer. Vermutlich wird er nächstes Jahr, noch nicht einmal dreißig Jahre alt, Parteivorsitzender.

Das Bemerkenswerte an seinem Text ist, dass er darin detailreich die politischen Entscheidungen analysiert, die in den 90er Jahren die heutige Situation und die stärker individualistische Mentalität mitbestimmt haben: Kürzungen im Bereich der Jugendeinrichtungen, der Lehreranstellungen, der Betreuung. Seine Generation leide wie keine vor ihr unter psychischen Krankheitssymptomen. Die Hilfstelefone der Selbsthilfeorganisationen sind ständig besetzt.

Dazu kämen, so Fridolin weiter, die massive Jugendarbeitslosigkeit und der überteuerte Wohnungsmarkt, der örtliche Mobilität erschwere. Einen ebenso negativen Einfluss habe das Wegbrechen eines politischen Projektes, sodass die junge Generation das Gefühl habe, ihre eigene Geschichte nicht mitschreiben zu können. Die individualistische Ideologie der Regierung, die dem 18-jährigen suggeriert, er sei selbst verantwortlich für den fehlenden Arbeitsplatz und das eigene Dach über dem Kopf, lähme die junge Generation. Eine Generation die sich schämt, anstatt eine andere Politik einzufordern.

Wenn man sich in der schwedischen Kulturlandschaft umschaut, gib es schon unzählige Kulturprojekte, die sich als Teil einer dynamischen Demokratie verstehen. Man findet sie – oft kommunal oder über Stiftungen finanziert - an sehr unterschiedlichen Orten. In Rinkeby etwa, dem Stockholmer Vorort mit höchster Kriminalitätsrate und Jugendarbeitslosigkeit, trifft sich jeden Mittwoch eine Mädchengruppe zum Spielen und Quatschen: ohne etwas für die Anerkennung zu leisten, erhalten die Mädchen hier einen Akzeptanzraum samt professioneller Leitung, die etwa auf Mobbing reagiert.

Etwa eine knappe halbe Pendelzugstunde nördlich von Stockholm liegt dagegen Täby, halb Vorort, halb eigenständige Stadt. Eine typisch schwedische Siedlung, deren Kern im sogenannten Millionenprogramm in den 60er Jahren hochgezogen wurde: geschwungene Wohnblöcke, die auf kleinstem Raum für zwanzigtausend Menschen Wohnungen, Geschäfte und kommunale Kultureinrichtungen anbieten. Drumherum liegen große bürgerliche Villenviertel. Fredrik Reinfeldt, der amtierende schwedische  Ministerpräsident, kommt von hier. Das Zentrum von Täby, nicht zuletzt für die Jugendlichen, bildet ohne Zweifel das riesige Einkaufszentrum.
Gleich daneben steht das ursprünglich gedachte Zentrum, ein eigenwillig ineinanderfließender Betonkomplex von Schule, Kirche, Bibliothek und Gesundheitszentrale. Neben dem Eingang zur Bibliothek, gibt es eine unscheinbare Tür. Dahinter befinden sich Räumlichkeiten, die eines der größten kommunalen Theaterprojekte für Kinder und Jugendliche beherbergen. Vierhundert sind es, die jede Woche hier herkommen und in eine andere Welt eintauchen. Wer sich sonst in der Klasse oder zuhause nicht richtig heimisch fühlt, irgendwie anders ist, zu schüchtern oder zu schräg, der findet früher oder später hierher und hat die Chance, das Alltagsleben für einige Stunden hinter sich zu lassen. Die sieben kommunal angestellten Lehrer/innen sind Profis. Einige sind sogar hier im Theater selbst groß geworden. Bald bekommen sie wieder Weiterbildungsbesuch von Keith Johnstone, dem genialischen Begründer der modernen Theaterpädagogik. Sein Buch “Impro” ist hier Grundlage für alles.
 
In einem Spiel lernen die Kinder, wie es ist wenn man sich gegenseitig blockiert, also die Themen des anderen nicht aufnimmt. Was im Alltag als Aggression auftritt, ist hier im Spiel so lustig, dass die Schüler fast platzen vor Lachen. Es ist ein befreiendes Gefühl, absichtlich nicht zu kooperieren, nur um dann sofort in die Situationen zu wechseln, in denen gerade spontan das aufgenommen wird, was der andere sagt.
Bei dieser Übung geht es darum, Mut zu haben, den ersten auftauchenden Impuls aufzunehmen und stolz zu sein auf sein Innenleben - so ungewohnt es für die Jugendlichen auf den ersten Blick erscheinen mag. Das Spielen mit Statusunterschieden – sich über jemand anderen zu erheben oder unterzuordnen – führt am Ende zu einer großen Energie, in der all diese alltäglichen Machtverhältnisse wie Blockieren, Dominieren, Manipulieren durchsichtig werden.

Gegen ein reduktionistisches Menschenbild

Was die Jugendlichen Woche für Woche ”lernen” oder endlich ausleben dürfen, ist für Lehrer Mats Blückert nicht nur, wie man sich an seine eigene kreative Spontaneität ankoppelt, sondern vor allem, dass es das Beste ist, wenn man intuitiv zusammenarbeitet und Beziehungsverhältnisse ausprobiert, die auf Vertrauen aufbauen. Was dabei entstehen kann, ist ein Gefühl inneren Verbundenseins. Gelernt wird hier konkret das Sich-Einfühlen in andere, der Umgang miteinander innerhalb einer Gruppe. Also das, was die Voraussetzung wäre für eine andere, stärker responsive Form von Demokratie.

Dieselben Kinder werden jedoch wieder nach Hause gehen und als Einzelkämpfer in ihren Zimmern sitzen. Sie werden sich mit Magenschmerzen für die sogenannte nationale Prüfung der Schule vorbereiten, wo schon Primarschüler in einen landesweiten Vergleichskampf geschickt werden. Bei schlechten Leistungen, so die dauernd suggerierte Drohung, hätten sie später keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Diese haben viele von ihnen aber sowieso nicht: Schweden hat eine der höchsten Raten bei der Jugendarbeitslosigkeit in Europa und das schon seit Jahren.

Wenn man über Kulturpolitik spricht und dabei Fragen zu Existenzsicherung (Arbeit, Wohnraum, Umwelt), Akzeptanzraum (soziale Anerkennung ohne Leistung), kreativem Kooperationsraum (spontanes Zusammenarbeiten und Austausch von gestalteten Erfahrungen) außen vor lässt, wirkt die Rede über neue Konzepte der Kulturförderung sinnentleert. Im jetzigen Kulturbetrieb wird eher die Konkurrenz um Aufmerksamkeit gefördert, indem man Kindern perfektionierte Ideale vorsetzt, die, für sie eigentlich unerreichbar sind..

Es ist dieses reduktionistische Menschen- und Gesellschaftsbild, gegen das die schwedischen Kulturschaffenden empört angeschrieben haben. Sie fordern von der Regierung, massiv auf das Schaffen kreativer Kooperationsräume zu setzen: Ihre These ist, dass Engagement in diesem Bereich auch Wirkungen auf die anderen gesellschaftlichen Sphären haben würde, weil es um ein Einüben eines anderen sozialen Miteinanders, einer veränderten Sensibilität sich selbst und der Umwelt gegenüber geht. Durch das öffentliche Verlesen der Manifeste wurde die Einsicht möglich, dass genuin politische Entscheidungen und gemeinsames Handeln hinter der derzeitigen problematischen Situation der Jugendlichen stehen, aber zugleich auch die Chance auf Veränderung beinhalten. Unmittelbar vor den Parlamentswahlen werden sich die Repolitisierung des schwedischen Kulturbetriebs und das Ringen um die alternativen Projekte wohl noch einmal zuspitzen.


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David Fopp ist gebürtiger Schweizer und in Stockholm aufgewachsen. Zweijähriger Forschungsaufenthalt an der Ecole Normale Superieure, Paris. Unterrichtstätigkeit und Assistentenstelle an der Uni Basel. Zahlreiche Forschungsworkshops an Schauspielhochschulen wie der Royal Academy of Dramatic Arts, London, und dem Dramatiska Institutet, Stockholm. 2007 war er an der Gründung des TP1 beteiligt, einem grünnahen Think Tank für politische Lobby-Arbeit, Veränderungen in Schule und Bildung und Kulturpolitik.

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