Wer das moderne Moskau verstehen will, muss versuchen, über Stereotypen hinweg zu sehen, in die Gesichter der Menschen: neben Russen gibt es Usbeken, Chinesen, Türken, Afghanen. Unter ihnen, irgendwo zwischen 800.000 und zwei Millionen bewegt sich die Zahl, sind auch viele Migrant/innen ohne legale Aufenthaltsgenehmigung. Sie ziehen täglich durch die Straßen auf der Suche nach Gelegenheitsjobs auf dem Bau, kehren Gehwege, fahren Busse. Ohne Arbeitserlaubnis werden sie oft als billige Arbeitskräfte ausgebeutet und leben teilweise in sehr schwierigen medizinischen und sozialen Verhältnissen. Die meisten der Muslim/innen unter ihnen sind Tataren, mit rund sechs Millionen Angehörigen die zweitgrößte Volksgruppe in Russland. Führende geistliche Vertreter der Tataren, wie der Großmufti Talgat Tajuddin haben sich vom Extremismus distanziert, unter anderem als er den umstrittenen Tschetschenienkrieg als „notwendige Maßnahme gegen Terrorist/innen und nicht gegen Glaubensbrüder“ (und -schwestern) rechtfertigte.
Doch die Geschichte der Spannungen zwischen Tataren und Russen begann lange vor dem Phänomen des Terrorismus. 1944 ließ Stalin die Mehrheit der Krimtataren, unter ihnen Tschetschenen und Iguschen, deportieren. In der Sowjetunion wurde in südrussisch-tatarischen Gebieten mit der Lust auf die Bombe die gigantische Atomfabrik Majak gebaut, unter strengster Geheimhaltung und ohne Wissen der Bevölkerung. Neben den radioaktiven Abwässern verseuchte 1957 ein GAU, der heute als verheerender als Tschernobyl bewertet wird, das Land und die Menschen.
Neben Tataren leben noch zahlreiche weitere muslimisch geprägte Volksgruppen in Moskau, viele sind Usbeken, Kirgisen, Tadschiken. Die meisten russischen Muslim/innen, denen man in Moskau begegnet, haben kein Interesse an einem Gottesstaat, vielmehr an einem reibungslosen Zusammenleben und am Geld verdienen.
Komol arbeitet sieben Tage die Woche von sieben Uhr morgens bis zwei Uhr nachts in einer Moschee. Diese steht umringt von Plattenbauten wie auf einer kleinen grünen Insel. Einen Kilometer vom Roten Platz entfernt ist hier kein Schimmer mehr zu sehen von dem Glanz und dem Protz, in dem sich das Moskauer Zentrum so gerne präsentiert. Er stammt aus einem kleinen Dorf im Fergana-Tal, das sich über Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan erstreckt und als Brückenpfeiler auf der Drogenroute von Afghanistan nach Westen gilt. Das Gebiet wird immer wieder von blutigen Konflikten erschüttert, wie jüngst in Kirgisien. Oft sind diese ursächlich verbunden mit Rivalitäten unter verfeindeten Ethnien und machtsüchtigen Drogenclans.
Auch Komol ist froh um die Arbeit und dass er damit seine Familie ernähren kann. Seine Frau hat bis vor zwei Jahren auch in Moskau gelebt, ist jedoch dann zurück in ihr Heimatdorf gegangen, um dort ihr erstes Kind zu bekommen. Über den genaueren Grund möchte er sich nicht auslassen. Ihr sei es in Moskau „zu kalt“ geworden.
Die Gemeinde in seiner Moschee besteht zum Großteil aus Tataren, Kasachen und Usbeken, Arbeiter/innen aus den angrenzenden Vierteln. Sie praktizieren ihren Glauben oft getrennt von den anderen Muslim/innen. Das Zentrum des islamischen Glaubens in Moskau ist die große Moschee am Prospekt Mira. Sie steht unweit einem belebten Markt im Schatten eines sowjetischen Olympiastadions. Gerade wird der Bau um zwei große, etwas überproportionierte Türme erweitert. Im Versammlungsraum, unter der smaragdgrünen Balustrade hat sich in einer Ecke eine größere Gruppe von Männern um einen Anfangzwanzigjährigen geschart. Er gibt auf mit arabischen Koranzitaten durchwirktem Russisch sein (dem Dialekt nach wohl saudisch) studiertes Wissen weiter. Er erklärt, wie Allah alles in seinem Willen geschaffen hat, auch die Cola-Flasche, die er wie einen heiligen Gegenstand zur allgemeinen Verehrung vor sich hält. Was die Muslim/innen ausmache, und auf der ganzen Welt eine, sei der Konsens im Glauben an einen Gott und einen Propheten. Dies mache sie zu Brüdern und Schwestern. Doch um diese Einheit ist es nicht weit her.
„Kaukasier sollten keine Muslime sein“, meint Muhamad Al-Karaschi, Politologie-Student aus Riad in Saudi-Arabien. Er ist wütend, weil sie im Umgang mit Drogen und Waffen gegen den Islam verstoßen würden und den Ruf aller Muslim/innen damit schädigen. Dies erschwert das Zusammenleben. Er findet seine Einkehr lieber bei der Moschee in der Botschaft von Saudi-Arabien, insbesondere jetzt während des Ramadan. Doch glaubt er auch daran, dass sich Differenzen durch gegenseitiges Interesse und Verständigung lösen lassen. Insbesondere durch Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen und Mentalitäten.
Für den schlechten Ruf der muslimischen Minderheit seien aber vor allem die staatlich kontrollierten Medien verantwortlich, die ein verzerrtes Bild liefern würden und einseitig für die russische Seite berichten. Kimal Abdel Samad Al Kassam ist Redakteur für den arabischen Kanal des russischen Staatssender „Russia Today“. Er gibt sich Mühe, ein differenziertes Bild zu zeichnen, jedoch ist dies schwierig, weil manche Themen heikel sind, nicht auf der Agenda stehen sollen. „Die Medien lügen immer“ - dieses Bild hat sich in die Köpfe der Russen gebrannt, eine unabhängige, engagierte und wahrheitsgetreue Presse scheint unerreichbar, oder wie es ein etwas optimistischerer Menschenrechtsaktivist beschreibt: „Die Presse in Russland ist wie eine Schildkröte, die zum Horizont der Meinungsfreiheit kriecht, geradeaus, immer wieder in dieselbe Richtung.“ Doch ohne diesen notwendigen Geist auf breiter Basis kann auch nicht die Zivilgesellschaft entstehen, auf der jede Demokratie basiert.
Medienvielfalt, anders: Junge Migrantinnen und Migranten in den Journalismus
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