Die Sicherheitslage in Afghanistan und die Rolle der Bundeswehr werden in den deutschen Medien immer wieder kontrovers diskutiert. Im Vorfeld der Parlamentswahlen sprach der afghanische Journalist und Chefredakteur der Tageszeitung Hasht-e Sobh ("Acht Uhr Morgens"), Sanjar Sohail, mit der Heinrich-Böll-Stiftung über die Arbeitsbedingungen für Journalisten und das Ansehen deutscher Truppen in Afghanistan.
Sanjar Sohail, Sie sind Chefredakteur der Tageszeitung “Acht Uhr Morgens” in Afghanistan. Können Sie uns erzählen, wie es ist, in Afghanistan als Journalist zu arbeiten?
In den letzten neun Jahren hat es eine Revolution im Mediensektor Afghanistans gegeben. Von einem Land ohne Stimme, Bilder und Fernsehen haben wir uns zu einem Land mit 35 privaten Fernsehsendern, 100 privaten Radiostationen und rund 250 Zeitungen entwickelt. Wir haben eines der besten Mediengesetze in der Region – wir können sagen und schreiben, was wir wollen. Es gibt keine Zensur in Afghanistan. Interessant ist auch, dass über 75 Prozent der Menschen Radio hören und 40 bis 50 Prozent fernsehen.
Als Journalist in Afghanistan zu arbeiten, ist sehr gefährlich. In den letzten neun Jahren haben wir etwa 15 Journalisten bei verschiedenen Zwischenfällen verloren. Gerade vor zwei Tagen wurde einer unserer bekanntesten Nachrichtensprecher in Kabul erstochen. Es ist sehr gefährlich, weil wir immer das Problem haben, an Informationen in Kriegsgebieten herankommen zu müssen. Und die Taliban unterstützen uns nicht, sondern versuchen, Journalisten gefangen zu nehmen oder zu töten. Zudem haben wir leider kein Gesetz, das den Zugang zu Informationen regelt. Deshalb haben wir manchmal das Problem, nicht an Informationen der Regierungsinstitutionen heranzukommen.
Arbeiten Sie mit dem Militär zusammen?
Nein, das tue ich nicht. Aber die Militäreinheiten bieten Journalisten Schutz an, um in Kriegsgebieten zu recherchieren. Allerdings bekommt man natürlich keine vernünftigen Informationen, wenn man das Militär begleitet.
Wenn man an den Fall des jungen Journalisten zurückdenkt, der 2008 zunächst zum Tode verurteilt wurde, weil er einen Bericht über Frauenrechte in islamischen Ländern heruntergeladen und verteilt hatte: Ist es schwierig, über einige Themen zu berichten?
Unser Medienrecht sieht einige Einschränkungen vor, wie alle Länder. Wir dürfen nicht über geheime militärische Angelegenheiten oder Dokumente des Geheimdienstes berichten. Wir können nicht negativ oder demütigend über Religionen schreiben, was auch den Islam betrifft. Afghanistan ist ein Land im Krieg. Und einige Personen haben immer noch die Macht, um etwas gegen Journalisten und Intellektuelle zu unternehmen. Parwez Kaambakhsh, dessen Fall Sie ansprechen, wurde zwar von einem Gericht verurteilt, ist jetzt aber wieder frei. Er lebt nun irgendwo im Westen. Es ist also passiert, aber die Menschenrechtsinstitutionen, die Zivilgesellschaft sowie die Medien haben versucht, mit Regierungsinstitutionen zusammenzuarbeiten, um ihn aus dem Gefängnis zu befreien.
Und können Sie problemlos über Politiker/innen schreiben?
Über politische Themen, ja, da gibt es keine Begrenzungen. Wir können alles schreiben, Jeden Tag, jede Stunde ist Kritik an Präsident Karzai und an anderen Beamten in den Nachrichten zu sehen und zu hören. Es gibt also keine Regulierung bezüglich der Kritik an hohen Amtspersonen.
Das deutsche Engagement in Afghanistan wurde in letzter Zeit häufig kritisiert, zumindest in Deutschland. Erst recht, nachdem die Bundeswehr für die Bombardierung der entführten Tanklaster in Kunduz verantwortlich war. Können Sie uns erzählen, wie die afghanischen Medien über diesen Vorfall berichtet haben?
Lassen Sie mich zunächst über den Vorfall in Kunduz sprechen. Die Deutschen haben zwar viele Untersuchungen angestellt, aber die Frage, ob tatsächlich alle Menschen Zivilisten waren, bleibt weiterhin offen. Denn normalerweise schlafen die Menschen in Afghanistan ab 22.00 Uhr aufgrund fehlender Elektrizität und Vergnügungsangebote, wie etwa Restaurants oder Kinos – vor allem in den Dörfern. Es ist also unklar, warum Zivilisten um 2.00 Uhr nachts kamen, um sich Benzin aus den Tanklastern zu holen.
Ich denke, die deutsche Kritik an den internationalen, insbesondere den deutschen Truppen hat wenig mit der Wirklichkeit in Afghanistan zu tun. Die Situation ist anders, als die Menschen in Deutschland denken. Wir kämpfen gegen sehr schlechte Menschen, die keine Rücksicht auf die Werte und Überzeugungen anderer Menschen nehmen. Also bekämpfen wir sie, um eine bessere, verantwortungsvolle Regierung zu bekommen und damit ein besseres Leben für die Afghanen. Wenn wir Afghanistan verlieren, kann es sein, dass die Deutschen an ihren Grenzen gegen Terroristen kämpfen müssen. Dies ist kein Krieg der Wahl. Dies ist ein Krieg der Pflicht. Sie müssen diesen Krieg führen und ihn zu Ende bringen.
Sehen die Afghanen/innen die deutschen Truppen auch so? Sie haben Afghanen/innen in Kabul zu ihrer Meinung über die deutschen Truppen befragt…
Letztes Jahr gab es eine Befragung unter Afghanen/innen: Rund 75 bis 80 Prozent der Befragten unterstützen noch immer die Präsenz der internationalen Militärs in Afghanistan. Sicher gibt es einige Fehler, Dinge, die schief laufen und verbessert werden müssen. Aber die Menschen in Afghanistan brauchen die internationalen Truppen, weil sie nicht wollen, dass die Taliban wieder an die Macht kommen.
Am 18. September wurde ein neues afghanisches Parlament gewählt. Nachdem 2005 nach fast 40 Jahren die ersten Wahlen stattfanden: Was erwarten sich die Afghanen/innen von den Wahlen und vom Parlament generell?
Afghanistan ist ein Land im Wandel. Wir erproben gerade jeden Schritt hin zur Demokratie. Auch diese Parlamentswahlen sind für die Afghanen/innen eine Übung darin, zu erkennen, dass sie das Recht haben, das Parlament und die Regierung zu wählen. Nach den Erfahrungen mit dem ersten Parlament glaube ich, dass die Menschen ein starkes, präsentes Parlament brauchen, das rechtliche Veränderungen voranbringt, um ein besseres Leben zu ermöglichen. Und sie wollen ein starkes Parlament, weil sie jahrzehntelang die Zentralisierung der Macht miterlebt haben. Die meisten Menschen erwarten also vom Parlament eine Entwicklung – als Chance für ein besseres Leben.
Aber da sich das Land immer noch im Wandel befindet, wird es auch ein paar Einschränkungen geben bezüglich der idealen Demokratie. Und natürlich werden auch Personen dem Parlament angehören, die nicht die Werte der Demokratie vertreten, die Ideale, die wir haben.
Und was sind Ihre persönlichen Erwartungen an das neue Parlament?
Ich denke, es wird ein paar Veränderungen im Verhältnis zur letzten Wahl geben. Zum Beispiel gab es bei der letzten Wahl 370 weibliche Kandidatinnen – jetzt gibt es schon rund 400. Zudem haben sich viele junge Menschen nominieren lassen. Dass eine junge Generation von Afghanen/innen daran glaubt, dass sie ihr Leben verändern können, indem sie sich am demokratischen Prozess beteiligen, ist eine Neuerung.
(1) Aber es gibt natürlich auch negative Veränderungen. Leider haben wir die sehr glaubwürdigen Mitarbeiter/innen der ECC, der Wahlbeschwerdekommission, verloren. Die Institution ist geblieben, aber die Menschen, die dort gearbeitet haben, nicht. Die ECC ist also zu einer Regierungsinstitution geworden, statt unabhängig zu bleiben. Deshalb befürchte ich, dass die ECC bei der bevorstehenden Wahl ihre Augen vor Betrug und Unregelmäßigkeiten verschließen könnte. Außerdem bin ich besorgt über die Sicherheit am Wahltag und den Missbrauch von Ressourcen der Regierung für bestimmte Kandidaten.
Herr Sohail, vielen Dank für dieses Interview.
(1) Anmerkung der Redaktion: Bei der Präsidentschaftswahl in Afghanistan 2009 machte die UN-unterstützte Wahlbeschwerdekommission auf zahlreiche Manipulationen im Wahlprozess aufmerksam, woraufhin über eine Millionen Stimmen annulliert wurden. Hamid Karzai verfehlte dadurch die absolute Mehrheit und musste sich einer Stichwahl stellen. Karzais Herausforderer Abdullah zog sich jedoch aus dem Rennen um das Präsidentenamt zurück. Bislang waren zwei der fünf Mitglieder vom Obersten Gerichtshof Afghanistans benannt worden und die drei weiteren vom Chef der UN-Mission in Kabul. Im Frühling 2010 konnte Präsident Karsai die Wahlkommission EEC per Dekret unter eine stärkere Kontrolle der afghanischen Regierung bringen. Diese Entscheidung trug zwar zu einer „Afghanisierung“ des Wahlrechts bei, brachte ihm aber gleichzeitig Kritik an einer Gefährdung der Unabhängigkeit der EEC ein.
Das Gespräch führte Janne Bavendamm, Heinrich-Böll-Stiftung.