Es war damals für die afghanischen Parlamentarierinnen politisches Neuland: Ein Viertel der Sitze sollte, wie in der im Jahr zuvor verabschiedeten Verfassung festgelegt, von Frauen eingenommen werden. Als alle Stimmen ausgezählt waren, waren sogar 28 Prozent der Mandate von Frauen gewonnen worden. Welche Erfahrung haben die Parlamentarierinnen in Kabul gemacht? In der Anfang September von der Heinrich-Böll-Stiftung vorgestellten Studie „Abgeordnete in Afghanistan – Konflikte, Kompromisse, Kollaborationen“ präsentiert die Marburger Politikwissenschaftlerin Dr. Andrea Fleschenberg das Ergebnis einer Befragung, bei der 2007 und 2008 76 der derzeit 91 weiblichen Abgeordneten in den beiden Parlamentskammern Afghanistans Auskunft gaben. Ergänzt wurde sie durch Interviews mit männlichen Abgeordneten und Vertreterinnen zivilgesellschaftlicher Gruppen.
Was sind das für Frauen, die sich entschieden haben, ein politisches Amt zu übernehmen? Viele haben einen Universitätsabschluss, die meisten haben die Kriegsjahre im Exil in Pakistan, im Iran oder in Europa verbracht, sie sind überwiegend zwischen 30 und 45 Jahre alt und haben Erfahrung im Berufsleben und in zivilgesellschaftlichen Organisationen gesammelt. Sie wollten die Demokratisierung in ihrem Land voranbringen, gaben sie als wesentliches Ziel ihrer Parlamentsarbeit an. Das bedeutete vor allem, die regionalen Kriegsfürsten aus den Zeiten des Bürgerkriegs zu kontrollieren, die im Parlament weiter eine bedeutende Machtstellung haben. Eigentlich sollte niemand für das Parlament kandidieren dürfen, der sich Kriegsverbrechen zuschulden kommen ließ oder der von illegalen bewaffneten Gruppen unterstützt wird – in der Praxis wurde dieser Grundsatz jedoch nicht beachtet.
Wichtig war für die weiblichen Abgeordneten auch, der alltäglichen Diskriminierung und Gewalt, der Frauen in der patriarchalischen Kultur Afghanistans ausgesetzt sind, entgegenzutreten. Eine wesentliche unterstützende Rolle spielte dabei die Afghanische Unabhängige Menschenrechtskommission (AIHRC), deren Wächterrolle in der Verfassung verankert ist. Dr. Soraya Rahim Sobhrang, eine führende Vertreterin der AIHRC, sagte bei der Vorstellung der Studie in Berlin, die afghanischen Frauen setzten sich für Verhandlungen und ein Ende des Krieges ein, aber ein Friedensschluss mit den aufständischen Taliban dürfe die bisherigen Errungenschaften bei den Frauenrechten keinesfalls antasten. Gefährdet seien sie in der Realität jetzt schon: Seit 2004 beobachtet Sobhrang einen gesellschaftlichen Rückschritt und einen Verlust von Sicherheit.
Demokratische Umgangsformen setzen sich in Afghanistan nur gegen große Widerstände durch. Die politischen Institutionen müssen erst mühsam aufgebaut werden und sich ihren Platz erstreiten. Den Parlamentariern selbst fehlen oft Kenntnisse, wie sie ein politisches Ziel erreichen oder ein Gesetz formulieren können, eine beträchtliche Zahl sind gar Analphabeten. Präsident Hamid Karzai trifft Absprachen, für die es keine parlamentarische Kontrolle gibt. Er konfrontiert die Abgeordneten mit einer Vielzahl von Dekreten, die sie in kurzer Frist genehmigen müssen. Dazu ist das Parlament sehr fragmentiert, da Parteien und Fraktionen bei der Wahl nicht zugelassen sind und die Abgeordneten im Parlament für ihre Anliegen mühsam um Mehrheiten werben müssen. Auf diese Probleme geht die Studie ausführlich ein. Soraya Sobhrang sagte, das Parlament habe sich nicht immer als eine Säule des Staatswesens erwiesen. Nur wenige Abgeordnete seien mit den Regeln vertraut. Sehr hinderlich sei es auch, dass ein Jahr nach der Präsidentenwahl noch immer mehrere Kabinettsposten nicht besetzt seien, da das Parlament Karzais Kandidaten ablehnte.
Gleichzeitig waren die Erwartungen der Bevölkerung an die neue politische Ordnung wohl unrealistisch hoch. Der Aufbau von Institutionen dauere einfach lange, eine Demokratisierung sei eine Frage von mehreren Generationen, sagte Citha Maass von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ähnlich äußerte sich Sanjar Sohail, der Chefredakteur der afghanischen Tageszeitung „Hasht-e-Sobh“, (Acht Uhr Morgens). Für ihn ist es nach drei Jahrzehnten Krieg schon ein Fortschritt, dass demokratische Rechte gesetzlich garantiert sind und er sich auf sie berufen könne. Große Fortschritte sieht er auch in der Medienlandschaft und im Bildungswesen Afghanistans. Und immerhin gebe es Gesetze gegen Gewalt in der Familie und die Verheiratung von Minderjährigen. Negativ bewertete Sohail dabei den Entwurf des schiitischen Ehegesetzes, der im Frühjahr 2009 verabschiedet und von Karzai unterzeichnet wurde. Erst lautstarke Frauenproteste in Kabul und Kritik aus dem Westen veranlasste damals den Präsidenten, dieses Gesetz noch einmal überprüfen zu lassen. Es wurde dann entschärft.
Martin Kipping, der Afghanistan-Referent im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, wies auf die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft hin, hier mit Fortbildungen und Kontakten den Aufbau demokratischer Institutionen zu fördern und die Parlamentarier zu trainieren. Er forderte die Afghanen auf, diese Angebote zu nutzen und Bedürfnisse zu formulieren. Fleschenberg hielt es für nützlich, dass die afghanischen Abgeordneten sich stärker mit ihren Kollegen und Kolleginnen in anderen Ländern austauschen können. Die Interparlamentarische Union hat sich zur Aufgabe gemacht, Parlamente in Post-Konflikt-Gesellschaften zu unterstützen, mit einem Schwerpunkt auf den weiblichen Abgeordneten. Die Studie enthält dazu konkrete Empfehlungen.
Ein Parlament habe in einem vom Krieg geprägten Kontext eine wichtige Funktion bei der Schaffung von Frieden, sagte Fleschenberg. Er könne nur mit politischen und nicht mit militärischen Mitteln erreicht werden. Bei aller Unzufriedenheit mit der Arbeit des Parlaments sei es die richtige und geeignete Institution, denn „dort sitzt man ohne Waffen und versucht, Interessen auszuhandeln.“ Aber es dauere lange, bis sich bestimmte Spielregeln durchgesetzt haben. Man müsse schauen, dass es weniger von den Eliten geprägt ist und stärker zu einem Spiegel der Gesellschaft werde. Wahlen böten üblicherweise die Möglichkeit, unbeliebte Abgeordnete abzuwählen, indem sich Kräfte der Zivilgesellschaft zusammentun und andere Kandidaten aufstellen.
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Von Stefan Schaaf